Presseschau vom 8. Dezember 2015 – Im Wiesbadener Kurier argumentiert Michael Thalheimer gegen das Theater als sozialen "Zukunftsort"

Eine große Lüge

Eine große Lüge

8. Dezember 2015. Für den Wiesbadener Kurier hat Martin Eich schon vor einigen Tagen Michael Thalheimer interviewt. Darin kritisiert den Regisseur: "Es ist Mode geworden, Aufgaben zu übernehmen, für die andere Institutionen zuständig sind. Wenn neue Intendanten ihr Programm vorstellen, habe ich häufig den Eindruck, dass Amnesty International, die Obdachlosenhilfe und das Flüchtlingshilfswerk einen gemeinsamen Zukunftsort kreiert haben."

Dabei werde komplett vergessen, dass es sich um ein Theater handele. "Diese Kollegen biedern sich einerseits dem Zeitgeist an und ignorieren andererseits die Aufgaben des Theaters. Dahinter verbirgt sich eine große Lüge. Es wird niemandem geholfen, es wird nur so getan. Und Theater verliebt sich dann in diese sozialen Projekte, die nichts anderes sind als eitle Pose. Deshalb habe ich immer ein doppelt übles Gefühl, wenn ich davon höre oder lese. Damit schafft sich das Theater ab."

Theater müsse sich auf seine archetypische Aufgabe besinnen, auf Text, ein Ensemble, Schauspielkunst, große Stoffe, die das Theater zum großen Denk- und Diskursraum machen. "Nur dann hat das Eintrittsgeld seine Berechtigung. Darin liegt unsere Verantwortung."

(Wiesbadener Kurier / geka)

 

Kommentare  
Thalheimers Theaterbegriff: endlich!
Bravo, endlich spricht das mal einer aus!
Thalheimers Theaterbegriff: Denk- und Diskursraum
Wenn das Theater die immer gleichen Stoffen auf die immer gleiche Art zeigt, dann schafft es sich ab.
Das Theater ist ein Denk- und Diskursraum, das ist vollkommen richtig. Warum sollte man diesen auf das klassische Repertoire beschränken?
Thalheimers Theaterbegriff: eng gefasst
Wie hier zum wiederholten Male deutlich wird, postuliert Thalheimer seinen extrem enggefassten Begriff von Theater. Tiefgreifender jedoch zeigt er wieder das sein Theaterverständnis das einzig richtige ist und bestätigt sich selbst als das Theater. Ein Theater der Dauerästhetik, des Verstaubten und festgefahrenen redundanten abrufen eines (mit Sicherheit sehr gekonnten) Handwerkes. Diskurs wird in Zukunft im Theater jedoch, durch andere Formen, aufgebrochen werden. Falls es dies nicht schafft, zumindest die Öffnung und Ko-Existenz verschiedenster Darstellungs und Verhandlungsformen schafft es sich mit einem solch enggefassten, antiquierten Verständnis selbst ab. Das Theater muss ein öffentlicher Diskursraum werden und sich nicht durch einzelne sich immer wiederholende, zu gut verdienende Regisseure, definieren.
Thalheimers Theaterbegriff: andere Wege des Diskurses
Wenn das Schauspielhaus Flüchtlinge bei sich übernachten lässt und das Thalia ein Flüchtlingscafé einrichtet, ist den Flüchtlingen durchaus geholfen damit, und im letzteren Fall können auch alle Hamburger davon profitieren, die mit den Flüchtlingen in den Diskurs treten wollen, statt sich vom bequemen Sofa aus ein Meinung zu bilden. Wie mir scheint, würde auch Herr Thalheimer ein solcher Diskurs nichts schaden. Was spricht dagegen, dass die Theater sich mit den aktuellen Themen und Problemen auseinander setzen. Und warum soll diese Auseinandersetzung nur auf den Brettern des Theaters statt finden? Ich finde es geradezu notwendig, dass Theater in 'Krisenzeiten' nach anderen Wegen des Diskurses suchen. Würden sie es nicht tun, es würde nicht lange dauern und man würde ihnen das - zu Recht - zur Last legen.
Thalheimers Theaterbegriff: Fragen
Welche Kollegen von Herrn Thalheimer??? Regiekollegen, die Intendanten werden? Hatte er nicht von neuen Intendanten gesprochen??? Ist er inzwischen ein Intendanten-Kollege und keiner hat es mitbekommen?? Wie Fassbinder etwa, der nach Thalheimer heute keiner werden würde, wo das Theater mit jeder neuen Mode geht und sich so schrecklich verändert habe?? War denn der früher einer geworden??? Der Fassbinder??? Hätte der das überhaupt gewollt??? Hatte sich da irgendetwas herumgesprochen, dass Fassbinder irgendwann einmal Intendant habe werden wollen gewollt??? Wer etwas dazu weiß, bitte!!! teile es uns mit! Und: das persönliche Recht auf öffentliches Bekenntnis zur Übelkeit beim Hören oder Lesen von Helferwillensbekundungen vollkommen unbenommen: WOHER aber weiß Michael Thalheimer so ganz genau, dass wirklich KEINEM ("Niemandem") Verfolgten, Geflüchteten, Obdachlosen durch von Theater initiierter oder vermittelter Hilfe geholfen würde??? Ist das nicht vermessen, zu denken, dass man da als Einzelner eine Erfolgs/Misserfolgs-Kontrolle darüber hätte??? Wir verstehen aber kurz vor Premiere: ein großer und überaus schwergewichtiger Klassiker ist nunmehr von ihm inszeniert worden und wir sollen Karten kaufen. Weil dies das einzige ist, was für Michael Thalheimer am Publikum zählt - Da kuschle ich mich schön ein, lese Kleist so original wie möglich und stelle mir vor, wie die dritte neu-antike Schauspielerin sechs andere, die bei Kleist Heere, Staat und Gesellschaft ersetzen, ersetzt - ist ja in der Kritik zum Stück inzwischen schön lebendig beschrieben - Karte? - Danke, Herr Thalheimer, Ihr Vertragsrecht ist nicht meins, danke, nein.
Thalheimers Theaterbegriff: RWFs Intendanz
@5:

Leider steht offenbar der Grad Ihrer Aufregung in einem proportional umgekehrten Verhältnis zu Ihren Kenntnissen über die Theatergeschichte. Thalheimer liegt (längst nicht nur darin) richtig, was die Laufbahn von Fassbinder betrifft. Der war für acht Monate in Frankfurt Intendant des TAT. Das steht zwar nicht im Wikipedia-Artikel über RWF, man darf es aber trotzdem wissen.
Thalheimers Theaterbegriff: wann genau?
Zeitlos Danke, dass ich es trotz ohne Wikipedia jetzt wissen darf. Ich habe es nicht gewusst und streue entsprechend beschämt Asche auf mein Haupt. Mir fehlen auch längst mehr als acht Monate Theatergeschichte, nicht nur an Fassbinders - das ist in hohem Grade aufregend für mich, aber ich werde versuchen, es besser zu verbergen. Da kann ich auch von mehr Leuten als Thalheimer was lernen in der Frage. - Sie könnten mir nicht noch kurz und knapp zum Notieren mitteilen, WANN genau das war mit der TAT-Intendanz vom RWF??? - Nochmals Dank.
Thalheimers Theaterbegriff: ich muss T. Recht geben
Kann die Kritik einiger an Thalheimer und dem Interview nicht nachvollziehen. Er war Theaterneuerer mit Emilia, Kabale,... Der nächste große Neuerere ist dann erst Nunes. Und beide betonen das Theater auf dem Theater.
Ich muss T. Recht geben. Politik und auch Sozial-, Integrations-, Flüchtlingsarbeit machen andere. Und besser bzw. effektiver. Was nicht heißt dass das Theater nicht politisch zu sein habe. Aber nicht Tagespolitisch. Ich kann das Trendranwanzen einiger Theater und Theaterschaffender auch nur schwer ertragen.
Thalheimers Theaterbegriff: Nicht-Neuerer
@ICH Sie sagen es richtig: Thalheimer WAR ein Theaterneuerer. Wer seine letzten Inszenierungen verfolgt hat, weiss, dass diese Zeit vorbei ist. Nunes ist ein wunderbarer Theatermagier, aber worin genau besteht die Neuerung von Nunes am Theater? Dazwischen gab es übrigens auch noch Nicolas Stemann, den sollten Sie, wenn schon, auch in ihre Liste mitaufnehmen...
Thalheimers Theaterbegriff: Fassbinder am TAT
@7:

Verehrte(r) Mode-Vorstellung, wer sich traut, ein kürzlich eingeführtes Teufelswerkzeug namens Google zu benutzen (Suchbegriffe: fassbinder tat) wird sich diese Frage selbst beantworten können. Wer weniger wagemutig ist und das an kooperative Mitmenschen delegiert, muss etwas warten, bekommt aber auch eine Antwort: 1974 bis 1975.
Thalheimers Theaterbegriff: lustige Vorstellung
Ich finde die Vorstellung sehr lustig, Thalheimer würde seine Produktionen über Eintrittsgelder zu finanzieren versuchen. Vielleicht muss ihm Herr Semmelroth nochmal erklären, wie das funtioniert
Thalheimers Theaterbegriff: mentale Finanzierung
Zeitlos: Ich fühle mich bis ins Innerste erkannt und warte gern auf Antworten, wenn ich dafür Kooperation mit wagemutigen Mitmenschen bekomme! Ich gebe immer gern den Suchbegriff "Mitmensch" ein und es macht mir irgendwie immer mehr Freude, was da herauskommt, als das was google sonst so zu bieten hat - DANKE für die Info und Eingabemühe hier: es ist notiert und kann wegen der stattgehabten Blamage nun NIE wieder vergessen werden. Ich LIEBE die Atlanten der Vergesslichkeiten, die das Gedächtnis besser schulen als jene Unzahl von Merk-Würdigkeiten aus denen unser üblicher Alltag gebaut ist- Man schreibt auch nie wieder Bertolt Brecht "Bertholt", wenn man sich einmal so richtig blamiert hat damit!
Julian: Ich glaube, der Thalheimer hat das ganz anders gemeint mit den Eintrittsgeldern! Der meinte das wohl so eher mental von Publikum "finanziert", und das fand ich so - naja, eben zum Wegbleiben... dass seine Produktionen nicht von Eintrittsgeldern finanziert werden, weiß er bestimmt schon lange, weil er sich gewissenhaft auf einen ruhmreichen Intendantenposten vorbereitet, das ist doch dann Wissensgrundausstattung!
Thalheimers Theaterbegriff: auf dem Jahrmarkt
Was hat Thalheimer erneuert? WAS? Was hat Nunes ERNEUERT? Nichts haben sie erneuert, sie haben schöne, weniger schöne aber immer sinnfreie Inszenierungen gemacht. Ohne theoretische Verrenkungen, was angehem war und ist und ohne jeden ansatzweisen Bezug zur wirklichen Wirklichkeit , was ihnen den Platz in den Feuilletons sicherte und ? sichert ihre Arbeit aber unter dem Stichwort " aktuelle Regie-Beliebigkeit" bald vergessen lässt, was nichts über ihre Regie-Fähigkeiten aussagt, nur etwas darüber, wie sie sich auf dem Jahrmarkt positioniert und vernutzt haben.
Thalheimers Theaterbegriff: sympathisches Primat der Kunst
@12:

Na, geschätzter Mitmensch Mode-Vorstellung (die Prioritätliste Ihrer Suchbegriffe bzw. Suchadressen gefällt mir übrigens sehr gut) jetzt lassen Sie doch mal Thalheimer leben. Und bitte keine Unterstellungen, dafür ist hier offenbar der Alvis-Hermanis-Thread geschaffen worden.

Thalheimer sagt ja gerade in dem Interview, er will zumindest auf Sicht nicht mehr Intendant werden. Dass er es könnte (also jetzt im Sinne von: dass man es ihm anbieten würde), dürfte unstrittig sein. Mindestens ein mittelgroßes Haus mitsamt ehrgeizigem Kulturdezernenten müsste sich finden lassen. Thalheimer will eben nicht (mehr). Und dieses Primat der Kunst finde ich sehr sympathisch.
Thalheimers Theaterbegriff: ein Kern, kurze Dauer
Es gibt verschiedene Weisen sich dem Zeitgeist anzubiedern. Die Von Thalheimer ist es, das Stück auf einen Kernkonflikt und die Dauer eines konventionellen Spielfilms zu bringen. Ein Gedanke der sich durchs ganze Stück zieht und dem Zuschauer mit dem Hammer eingebläut wird, bis auch der Döfste es versteht: Die Welt ist schlecht und der Mensch des Menschen Wolf. Die Welt aller Widersprüche beraubt auf schräger Bühne (alles rutscht immer tiefer). Blut muss fließen (wahnsinnige Metapher)- allgegenwärtig wenn es sich um in der Antike spielende Werke (Oper oder Schauspiel egal) handelt. Dann bleibt auch noch Zeit für ein Schnitzel nach der gehobenen Unterhaltung.
Thalheimers Theaterbegriff: schon bei Brecht
Diese Anbiederung hat doch aber Thalheimer nicht erfunden? Zeitreuktion auf Spielfilmlänge in Abstimmung mit dem Öffentlichen Nahverkehr und dem Zuschauerappetit? Wer aber hat die Schauspielerreduktion auf gerade so unverzichtbare professionelle Schauspieler für eine Inszenierung erfunden??? Und dass der Mensch des Menschen Wolf ist, hat ja Brecht ebenfalls gezeigt, nur da fand man das witzig bis bestialisch wohltuend gleichzeitig. Und musste sich deshalb nicht doof vorkommen, weil da ein Widerspruch war zwischen bestialisch und trotzdem dem Genuss zuträglich - Dass einem Hirn das zugetraut wurde, mit diesem Widerspruch fertig zu werden, kann doch als unterhaltsam weggehen...? Gut - Brecht hat auch gebläut, aber in Theorie dann, da war ja der Zuschauer von verschont geblieben, was man dem Brecht gar nicht hoch genug anrechnen kann!!
Thalheimers Theaterbegriff: Gefahr der Anbiederung
Ob Thalheimer Theatererneuerer war oder nicht, tut doch nichts zur Sache. Es geht darum, wie Theater sich heutzutage definieren. Und selbst darüber scheint ja nicht einmal mehr ein sachlicher Austausch verschiedener Meinungen möglich zu sein. Auf diese Weise schafft sich das Theater wirklich ab.
Und um jetzt doch noch einmal auf Hermanis zurückzukommen: Die "kulturzeit"-Redaktion hat angeblich Kontakt zum Regisseur, der zur Begründung seiner Absage am Thalia Theater u.a. gesagt haben soll, es gehe nur noch um politischen Aktionismus und nicht mehr um Kunst. Ich finde, in diesem Punkt muss man ihm wirklich zustimmen.
Die Theater versuchen, durch die Flüchtlingsthematik ihren Bedeutungsverlust zu kompensieren, und laufen Gefahr, sich anzubiedern. Sie sollten besser wieder einmal durch aufregende, spannende, brillante und provozierende Inszenierungen von sich reden machen. Im übrigen ist es Selbstüberhebung, wenn sich zu Dramaturgen ausgebildeten Theatermacher zur Gesellschaftspolitik und Sozialarbeit berufen sehen. Aufgrund welchen Studiums, welcher Ausbildung und welcher Berufswerfahrungen sind sie eigentlich dazu befähigt?
Thalheimers Theaterbegriff: Gesellschaftslüge
Sebastian: schöne Zusammenfassung eigentlich. Nur, allgemein: um Gesellschaftspolitik zu machen, braucht man eigentlich gar kein Studium oder Ausbildung oder spezielle Berufserfahrungen, sondern nur Bürger zu sein. Und der allgemeine Mist ist, dass das Soziale zum Beruf gemacht wird und angeblich nur dann kompetent geleistet werden kann, wenn jemand soziales Verhalten urst studiert hat und darin Berufserfahrung aufweisen kann - das ist eben so eine Gesellschaftslüge, man muss sich echt fragen, wem nützt die. Das in jeder Gesellschaft soziale Engagement logistisch zu beherrschen, zweckdienlich undoder terminlich zu bündeln, mag ja ein sinnvoller Beruf sein und knallhartes Studium erfordern - aber das Soziale zur "Arbeit" verkommen zu lassen ist ja schon mal inhuman - Logistik können Theaterleute eben gut, berufsbedingt. Vielleicht daher die momentane Sucht, sich einzubringen in der Flüchtlingsfrage? Weil es auch darum geht, Kompetenzen zu zeigen, die für Kunstmachen AUCH nötig sind und immer nicht (an)erkannt werden, wenn nicht gerade Flüchtlinge die sozialen Missverhältnisse an die Oberfläche holen durch die mitgeführten Notwendigkeiten...???
Thalheimers Theaterbegriff: frischer Wind
Regisseure wie Thalheimer sind genau das, was das Theater jetzt braucht. Gut, dass er Teil der neuen BE-Leitung werden wird, wie der FREITAG heute in einer Langversion des oben bereits zitierten Interviews schreibt, und neue Autoren aus anderen Bereichen für das Theater gewinnen will. Das wird frischen Wind in die nicht nur hier immer eintönigere Bühnenlandschaft bringen.

Was Thalheimer will:

"Unser Ziel ist es, gemeinsam mit Autoren große Inhalte mittels einer aktualisierten Sprache neu zu erarbeiten. Was wollten Tschechow, Ibsen, Shakespeare, und was ist das Äquivalent heute?"

Was er nicht will:

"Nein, ich will gerade den Gegenentwurf zum aktuellen Uraufführungshype, zum wahllosen Vergeben von Auftragsarbeiten, bei dem die Autoren unter Zeitdruck stehen und nur irgendetwas abliefern sollen, Hauptsache, Uraufführung. Ich frage mich da manchmal: Wo war die Dranaturgie, haben die das Stück überhaupt gelesen? Wo ist der Inhalt, oder geht es wirklich nur um den Kaffeefleck auf dem Flokati?"

Denn:

"Das ist eine deutsche Misere. Keines der französischen Nationaltheater würde es wagen, Yasmina Reza zu spielen. Dort wird auch die Nase gerümpft, dass wir es tun. Ich fasse solche Stücke nicht mit der Beißzange an."

Go, Thalheilmer, go! Ich freue mich darauf.
Thalheimers Theaterbegriff: Widerspruch
Zu #17: Ich widerspreche Ihnen in jedem Punkt entschieden. "Aufregende, spannende, brillante und provozierende Inszenierungen" trotzen Sie auf Dauer keiner langweiligen, enttäuschenden, dummen und markthörigen Gesellschaft ab. Die Theaterleute gehen bei weitem zu großzügig mit den schwer erträglichen Konsequenzen um, die die Existenz einer solchen, ökonomisch übermächtigen Gesellschaft mitten in Europa weltweit hervorruft. Tun sie es einmal nicht, von "Anbiederei" zu sprechen, mutet barbarisch an. Und was die "Selbstüberhebung" angeht: Glauben Sie, Jesus Christus hat sich seine Apostel unter Fischern und Zöllnern gesucht, weil er der Ansicht war, seine Sache bedürfe eines Studiums?
Thalheimers Theaterbegriff: kein Abgrenzungszwang
Lieber Frank Patrick Steckel,

ich stimme in vielen mit ihnen über ein, auch wenn ihnen dies hin und wieder anders erscheinen muss. Auch ich würde mir wünschen, die deutsche Gesellschaft würde in den Flüchtlingen die Opfer ihrer eigen deutschen Wirtschafts- und Außenpolitik erkennen und nicht „potentielle Terroristen und Kriminelle“, wie ja gerade eben erst geschehen (Hermanis). Aber sie hinterlassen stets den Eindruck, als ob gutes Theater nur entstehen könnte, wenn sich die Theatermacher im vollkommenen Widerspruch zu dieser Gesellschaft befinden würden, sozusagen komplett quer liegen würden mit ihr.

Auf Dauer könne man einer gelangweilten Gesellschaft keine aufregenden Aufführungen abringen. „Aufregend“ für wen? Diese Frage stellt sich hier doch. Wenn man als Zuschauer soziales Engagement im Theater kategorisch ablehnt, dann bringt man alle Voraussetzungen mit, einen Thalheimer Abend spannend und aufregend zu finden.Und diese Abende ringt Herr Thalheimer ja nicht den Zuschauern, der Gesellschaft ab, sondern sich selbst, einem Autor und seinen Schauspielern, und er bietet sie den Zuschauern, der Gesellschaft an, und diejenigen Teile von ihr, die der Haltung von Thalheimer entsprechen, erleben eben einen aufregenden Abend. Da gegen wurde glaube ich noch kein Mittel erfunden.

Keine zwei Kilometer weit vom BE entfernt, wo Thalheimer demnächst wirken wird, finden wir das Gorki, ein Theater mit einem ganz anderen Ansatz. Von daher ist die Theater-Welt ja erst einmal in Ordnung.

Sie hingegen vermitteln den Eindruck: Es gäbe nur den einen Weg Theater zu machen und der führe zwangsläufig über Gesellschaftskritik und sozialem und politischem Engagement, dass man ja tatsächlich nicht erst studieren muss, um es zu leben. Und so entsteht wiederum der Eindruck, europäisches Theater unterläge unausgesprochenen Dogmen, und das ist doch ein sehr schädlicher Eindruck, wie wir hier in den letzten Tagen erfahren konnten. Er weckt den Stachel der Feinde des Theaters und des sozialen Engagements und das finde ich wiederum sehr anstrengend.

Ich sehe einfach, im Widerspruch zu Thalheimer und Hermanis, keinen Zwang sich so feindlich abzugrenzen. Beides ist mit einander vereinbar, soziales Engagement und Theater, und wer dem widerspricht, liegt falsch. Die aggressiven Abgrenzungsversuche in letzter Zeit bleiben mir im Kern fremd. Da feilen die verschiedenen Lager wohl an ihrem Profil und ihrer Marke, um die Zuschauer zu polarisieren. Aber am Ende des Tages wird dann wohl doch wieder mit den Füßen abgestimmt.
Thalheimers Theaterbegriff: Zeichen der Zeit
herr t.s inszenierungen sind elitenkonform und sein gerede leider auch. das theater soll also eine abgeriegelte institution sein, die nur nach außen wirken soll und keine "fremde" wirkung nach innen erfahren darf? diese vielen gelder - die die theater von der stadt / vom staat / vom land bekommen und in den sand setzen, weil sie nicht die geduld und die zeit aufbringen koennen / wollen, um die eigentlich wunderbaren klassiker der deutschen literatur (groesstenteils linksintellektuellen klassiker) als zu einem fuer jeden erfahrbaren sinneswandel emporzuheben - werden dann solchen regisseuren zugesprochen, die es wagen soziale verantwortung von sich zu weisen? solche theaterregisseure / direktoren, die politisch polarisieren, um ein undichtes alleinstellungsmerkmal zu definieren, haben in allererster linie genug zu saufen und zu essen ... vielleicht sollten sie ihre sicherheit mal anders austesten, weil sie verantwortung tragen ...(nicht nur fuer steuergelder). außerdem frage ich mich warum unsere eloquenten, politisch gebildeten und entscheidungstragenden theaterregisseure nicht reflektiert oder kreativ genug sind, um genau mit diesen gefluechteten happenings zu veranstalten, die in die theater- und kunstgeschichte eingehen koennten. sichtbescheidene konservative, die in fußstapfen treten wollen(!), regieren die theaterwelt - wenigstens ist herr t. ehrlich genug seine biedere sicht nach außen zu tragen. nur muessen wir jetzt anfangen diese zeichen der zeit zu deuten und umzustrukturieren.
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