Presseschau vom 17. Mai 2017 – Chris Dercon und Marietta Piekenbrock erläutern ihr Programm für die neue Volksbühne in Interviews

Die innere Bühne der Fantasie

Die innere Bühne der Fantasie

17. Mai 2017. Gestern gab das neue Leitungsteam der Berliner Volksbühne um Chris Dercon und Marietta Piekenbrock seine Programm-Pressekonferenz. Zuvor und danach erläuterte und verteidigte die neue Intendanz ihr Programm gegenüber Zeitung und Radio.

In der Süddeutschen Zeitung (17.5.2017) gibt es ein Interview, das Christine Dössel und Jörg Häntzschel mit Chris Dercon und Marietta Piekenbrock geführt haben. Darin sagt Dercon, Theater sei "heute das Medium par excellence, um einen Dialog mit der Gesellschaft zu führen". Das Theater ermögliche "eine Form von Begegnung, wie es sie anderswo nicht gibt". Er spüre "bei vielen Künstlern den Wunsch, mit dieser Maschine, mit dem Theater etwas zu machen".

Theater heiße für ihn, dass "jemand spricht, etwas tut, sich bewegt in Anwesenheit anderer". Die Volksbühne ginge zurück "zu den Ursprüngen: Das kann die Stimme sein, Bewegung, der Körper oder eine Maske".

Auf den Einwand im Programm fehle "der große Knaller", antwortet Dercon, "Tino Sehgal mit Beckett zu kombinieren", sei ein "Knaller" und Piekenbrock sieht den "Knaller" in "der Summe der Erzählungen, diesem Bogen, der sich über vier Monate aufbaut". Wenn der Spielplan sich weiter entfalte, werde "hoffentlich deutlich", dass es "uns um ein breiteres Spektrum geht als bisher". Auf den Einwand, das Sprechtheater komme kaum vor, sagt Piekenbrock unter anderem: Mette Ingvartsen transzendiere in ihrer Performance "21 Pornographies" Bilder in Sprache und "lädt den Zuschauer auf eine innere Bühne der Fantasie ein".

Während Dercon betont, es handele sich bei dem neuen Programm nicht um einen "radikalen Bruch", die Volksbühne habe "immer wieder Experimente gemacht und neue Regieformen entwickelt", äußert Piekenbrock: " Wir beginnen an einem charismatischen Nullpunkt" und widmen uns "der Essenz, den Elementen des Theaters", und fragen: "Welche Qualitäten hat der Raum? Was ist Stimme? Was ist ein Dialog?"

Es sei nicht mehr "sinnvoll", so Dercon, die Welt der Kunst in separaten Sparten zu denken. Die Zukunft gehöre "der In-Betweenness". Die Künstler, die eingeladen würden, seien "für uns hochpolitisch", es verbinde sie, "dass alle an einer Rückgewinnung der Form arbeiten".

Zur Frage des Ensembles, gibt Piekenbrock zu Protokoll: Die "öffentliche Infragestellung" durch Kultursenator Klaus Lederer habe eine "verheerende Wirkung" gehabt. "Es war eine Katastrophe." Und wegen der Sorge um die Weiterbeschäftigung der Gewerke, beruhigt der neue Chef: "Ohne die Werkstätten könnten wir das Haus nicht bespielen."

Ein ausführliches Gespräch von Chris Dercon mit Vladimir Balzer und Axel Rahmlow auf Deutschlandfunk Kultur (16.5.2017) gibt es hier zum Nachhören.

(jnm)

 

Den Bericht von der Pressekonferenz der neuen Leitung der Volksbühne im Flughafen Tempelhof samt einer ausführlichen Presseschau lesen Sie bitte hier.

 

Kommentare  
Dercon-Interview DLF: Wieso eigentlich?
Ich habe das Gespräch mit Balzer/Ramlow gehört. Und mich gewundert, wie jemand sagen kann, dass Berlin im Gegensatz zu London, Paris und Barcelona noch die Chance hätte, über die Zukunft (hat sich so angehört, als meinte eer die Zukunft der Gestaltung unserer globalen Gesellschaft) nachzudenken. Und da frage ich mich: WIESO sollten London, Paris und Barcelona diese Chance nicht mehr haben?? Eine Chance nachzudenken gibt es immer. Und für jeden. Wo immer er lebt. Und daher auch für die Gemeinschaft in der er lebt.
Ehrlich gesagt, hat mich diese Aussage zutiefst entsetzt. Bei aller Freundlichkeit mit der sie vorgetragen wurde. Vielleicht auch gerade wegen der Freundlichkeit mit der sie vorgetragen wurde.
Presseschau Dercon Pressekonferenz: Versprecher
@1: Und hat er sich bei t=-1'53'' freud-isch versprochen, und meinte London?

"Berlin ist die Hauptstadt des Kapitals, Berlin ist die Hauptstadt der Gentrifikation."
Presseschau Volksbühne 17/18: Trümmerlandschaft
Diese Pressekonferenz war schrecklich. Unheimlich. Ich habe mich bis jetzt nicht wirklich davon erholt. Nicht nur, dass das Klima im Raum schwül war, das Scheitern lag fast greifbar in der Luft. Es war drückend. Man könnte es wohl mit dem Begriff „leicht angeheiterte Niedergeschlagenheit“ beschreiben und es um den Begriff „Angegriffenheit“ auf beiden Seiten erweitern. Eine zwischenmenschliche Trümmerlandschaft. Soviel zerstörte Zukunft zwischen Menschen traf selten zusammen. Eine freudlose Hochzeitsgesellschaft bei der kein Funke überspringen mochte, alles unter einem schlechten Stern. Man fühlte sich gegeneinander verloren in diesem ehemaligen Flughafenrestaurant. Warum war man nochmal zusammengekommen? Gab es nicht etwas zu feiern? Etwas, an dem man sich entzünden könnte? Wer genau in den Raum hineinhörte, konnte laut den stummen Spott vernehmen, der hier aus Höflichkeit herunter gewürgt wurde. Wäre es eine Party gewesen, man hätte bei den Gästen im Gesicht die Frage lesen können: Wer hat die da oben auf dem Podium überhaupt eingeladen? Dabei waren sie selbst mehrheitlich die Gäste dieses neuen Volksbühnenteams. Man versammelte sich, wie eine unwillige Schulklasse vor den neuen Deutschlehrern, die keiner haben wollte, aber nun wo sie mal da sind, hört man ihnen eben zu. Es war ein katastrophales Miteinander. Fast neben jeden Einzelnen hätte man einen Mediator stellen müssen, um ihn zu betreuen, um die Menschen wirklich in Kontakt zu bringen. Eine Politik der Blicke schwebte im Raum, die das Podium, gegen den Willen der dort Beteiligten, zu Fremdkörpern machte. Daher die Nervosität. Eine mentale Nachkriegslandschaft breitete sich unsichtbar aus. Und eigentlich war noch niemand tatsächlich gerüstet für die nächste Schlacht. Wenn sich diese Stimmung auf den zukünftigen Zuschauerraum übertragen sollte, dann würde das Grauen in die Verlängerung gehen. Hätte doch Sophie Rois ein Liedlein geträllert. Oder irgendein Performer den Medienhaufen auf gemischt. Die Situation schrie geradezu nach ein wenig Entertainment von außen, einer Tanzeinlage, oder einfach nur ein paar Häppchen und Sekt im übertragenen Sinne. Ich werde trotzdem versuchen mich auf Tino Sehgal und Kate Tempest zu freuen. Und natürlich werde ich die „Iphigenie“ besuchen. Aber über allem schwebt eine große Sorge. Wem nur wird es gelingen diese miese Stimmung wieder auszuräumen und zu einem Guten zu wenden?! Man weiß es wirklich nicht. Darauf ein Hip Hip Hurray!!!
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