Der Faktor Mensch

13. Mai 2021. Wie kann Führung im Theater gelingen? "Es braucht zertifizierte Ausbildungen für Theater- und Orchesterleiter/innen. Jeder Fußballer muss einen Trainerschein machen, wenn er eine Mannschaft trainieren will", sagt ensemble-netzwerk-Gründerin Lisa Jopt. Im Interview mit ihr und dem Frankfurter Intendanten Anselm Weber gibt es auf Führungsfragen verschiedene Antworten. 

Interview mit Sophie Diesselhorst und Simone Kaempf

 

Der Faktor Mensch

Mai 2021. Lisa Jopt, Gründerin und Erste Vorsitzende des ensemble netzwerks, und Anselm Weber, geschäftsführender Intendant des Schauspiel Frankfurt, sprechen über Machtgefälle im Stadttheater, (Vermeidung von) Machtmissbrauch und gute Theaterleitung.

Cover TheaterundMachtLisa Jopt – wie steht es um die Mitbestimmung im Theaterbetrieb?

Lisa Jopt: Wie in der ersten Klasse Grundschule. Mitbestimmung durch Ensembles ist überhaupt nicht geschützt und deshalb eigentlich irrelevant. Wir haben zwar Personalvertretungen, also Personal- und Betriebsräte. Die Solist/innen (Schauspieler/innen mit NV Bühne-Vertrag), die sich dort engagieren, stehen aber nicht unter Nichtverlängerungs-Schutz. Wenn du unbequem wirst, wirst du möglicherweise unter künstlerischen Liebesentzug gesetzt oder fällst in Ungnade. Jede/r weiß das. Deshalb kann man dieses Amt eigentlich nicht richtig ausführen. Abgesehen davon finden Ensemble-Versammlungen oft in der Freizeit statt. Wenn die eine Hälfte des Ensembles gerade die Kinder von der Kita holt. Und so kann man dieses Gremium natürlich nicht richtig nutzen.

Anselm Weber, wieviel Mitbestimmung hat das Ensemble am Schauspiel Frankfurt?

Anselm Weber: Natürlich gibt es Mitbestimmung im Theater. Das hat sich im letzten Jahr insbesondere in den Fragen der Kurzarbeit und diverser Hygienekonzepte gezeigt. Ohne die Zustimmung des Gesamtbetriebsrates der Städtischen Bühnen Frankfurt können solche Entscheidungen nicht getroffen werden. Die Schauspieler im Sprechtheater sind aber tatsächlich in einer Sonderrolle. Die gewerkschaftlichen Verabredungen im Bereich des Orchesters und des Opernchors sind sehr viel stärker und beeinflussen den Betrieb dadurch auch mehr. Bei uns trifft sich das Schauspiel-Ensemble monatlich, wenn nötig auch in der Arbeitszeit. Außerdem wurde auf Wunsch des Ensembles ein Coach engagiert, der dem Ensemble dabei hilft, das eigene Selbstverständnis deutlicher zu formulieren.

Mit welchem Ziel?

Anselm Weber: Das Coaching hilft, indem es konkrete Fragen behandelt wie: Wie führt man ein Gespräch, wer leitet das Gespräch? Welche Fragen stellt man an die Leitung? Wie wird im Rahmen des ethischen Kodex, den wir auch eingeführt haben, mit Regisseuren umgegangen. Es geht also im Grunde um die Entwicklung des Selbstverständnisses und die Selbstwahrnehmung des Ensembles. Außerdem haben wir haben seit langem eine Regelung, dass es nach jeder Produktion ein internes Gespräch gibt, ohne die Intendanz, moderiert von einem/r nicht-beteiligten Dramaturgen/in. Dieses Modell hat sich in den letzten Jahren sehr bewährt.

Lisa Jopt: Das hört sich auf jeden Fall sehr gut an und tatsächlich ist es so, dass man diese Mit-Gestaltungsprozess organisieren muss. Wenn das so ist bei Ihnen, Herr Weber, dann fehlt ja eigentlich noch das Tüpfelchen auf dem i: die Ensemble-Vertretung unter Nichtverlängerungs-Schutz zu stellen. Und die Gleichstellungsbeauftragte, wenn sie aus dem Bereich Solo kommt und auch die Leute, die sich im Personalrat engagieren. Das sind Ziele, die noch nicht mal Geld kosten.

Anselm Weber: Der Betriebsrat ist ordentlich nicht kündbar. Die Gleichstellungsbeauftragte an den Städtischen Bühnen Frankfurt ist unbefristet angestellt. Wenn die Ensemble-Sprecher nicht kündbar sein sollen, dann müsste man das gewerkschaftlich verhandeln.

Lisa Jopt: Das stimmt. Aber wenn man ein Intendant ist, der sagt, mir ist Mitbestimmung wichtig, ich möchte diese Prozesse unterstützen: Dann kann man das auch von sich aus anbieten. Das wäre eine tolle Geste.

LisaJopt 500 SophieWanningerLisa Jopt © Sophie WanningerDas ensemble-netzwerk wurde 2015 von künstlerischen Theatermitarbeiter/innen gegründet, um sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Das bedeutete auch, sich klarzumachen, über welche Rechte man als Schauspieler/in verfügt. Hat das automatisch zu mehr Mitbestimmungs-Begehren geführt?

Lisa Jopt: Mitbestimmung ist definitiv das von uns noch am schwächsten ausgeleuchtete Thema, weil es eben so schwierig ist, sie zu implementieren, solange es keinen Nichtverlängerungs-Schutz gibt, solange die Ensemble-Versammlungen in der Freizeit stattfinden. Und: solange auch Ensembles mitunter den Sinn darin nicht erkennen. Ich würde drei verschiedene Arten von Mitbestimmung unterscheiden. Es gibt das Informationsrecht des Ensembles in Bezug auf künstlerische Entscheidungen. Es gibt ein Diskussions-Recht, um wirklich in den Austausch zu gehen und nicht nur vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Und es gibt ein Vetorecht. Diese drei verschiedenen Ebenen der Mitbestimmung, soft, medium und strong, müssten von Ensemble zu Ensemble ausgehandelt werden. Außerdem sollten Ensemble-Vertretungen eine Mitbestimmung haben bei der Intendanz- oder Leitungswahl. Und wir sind für Teamleitungen für eine bessere Machtverteilung. Schon der Raum des Intendanten-Büros ist eine Asymmetrie. Das ist ein mächtiger Ort. Man spricht dort anders. Das spürt man vielleicht nicht, wenn man der Intendant oder die Intendantin ist. Ich kann Ihnen aber versichern, Anselm Weber, dass das auf der Gegenseite gespürt wird.

Anselm Weber: Auch Einzelpersonen können gerecht und umsichtig lenken. Wie umgekehrt auch Kollektiv-Modelle ungerecht sein können. In meiner Erfahrung ist der Faktor Mensch immer der entscheidende Punkt. Beide Modelle müssen am Ende durch ihre Qualität überzeugen.

Lisa Jopt: Die Frage ist doch, inwieweit Mitbestimmung gewünscht ist. Inwiefern haben Sie das Interesse, den Think Tank namens Ensemble so anzuzapfen, dass es Lust hat, ehrlich zu sprechen. Ich komme ja auch noch aus der Zeit, als vor allem in der Kantine gelästert wurde. Wenn Du die Wahrheit wissen wolltest, wie was läuft, dann musstest Du nur ein Bier in der Kantine trinken. Wir haben uns gegründet, weil wir überhaupt keine Lust mehr darauf hatten. Weil wir Fans von Kooperationen sind und von einer guten Kommunikation. Aber auch, weil der nette Chef eben nur Zufall ist.

Mal umgekehrt gefragt, Anselm Weber: Wieviel Hierarchie braucht das Theater?

Anselm Weber: Wir haben in Frankfurt flache Hierarchien. Auch das haben wir in den letzten Jahren mit Hilfe verschiedener Coaches entwickelt. Es gibt den Geschäftsführer und Intendanten. Darunter sind alle Abteilungen auf Augenhöhe eingestuft und sind aufgefordert mit maximaler Kommunikation untereinander eigenständig zu arbeiten. Wenn ich das auf andere Unternehmen übertrage, ist das der Versuch einer modernen Unternehmensführung.

AnselmWeber 500 BirgitHupfeldAnselm Weber © Birgit HupfeldWie schauen Sie als Intendant am Schauspiel Frankfurt, dem sie schon lange verbunden sind (Hausregisseur ab 1991, Oberspielleiter 2001-2003) auf das berühmte Mitbestimmungs-Experiment mit Peter Palitzsch in den 70er Jahren?

Anselm Weber: Ich habe sehr unterschiedliche Geschichten aus dieser Zeit gehört. Ich bin kein Theaterhistoriker. Ich will aber noch einmal betonen, dass ich nicht grundsätzlich gegen Leitungsteams bin, wenn sich ein Team findet, dass das auf menschlicher Ebene hinbekommt. In Zürich zum Beispiel wird das ja gerade versucht.

Lisa Jopt: Die 70er Jahre sind so eine andere Zeit gewesen. Und diese künstlerische Mitbestimmung, in der die Kollektive sich am Ende selbst zerfleischt haben, weil es total viel Zeit gekostet hat, dass Schauspieler/innen die Arbeit der Dramaturg/innen mitmachen mussten, das ist übrigens auch nicht, was wir wollen im ensemble netzwerk. Tatsächlich ist das, was wir wollen, super-soft. Trotzdem stoßen wir auf Widerstände.

In den letzten Jahren kommen immer wieder Fälle von Machtmissbrauch im Theater ans Licht. Wie kann ein Intendant Machtmissbrauch an seinem Haus vermeiden?

Anselm Weber: Ich stelle mich immer auf Seiten des Ensembles und der Beteiligten. Da mache ich übrigens keinen Unterschied zwischen einem Schauspieler, der angeschrien wird, und einem Techniker, der angeschrien wird. Ich bin sehr dankbar über das Engagement des ensemble netzwerks in der Me Too Diskussion, und der daraus entstandene Kodex des Bühnenvereins wird bei uns an alle Verträge angehängt.

Was verändert das?

Anselm Weber: Natürlich bietet das eine andere Möglichkeit, Regisseuren gegenüberzutreten und zu sagen: Das hast du unterschrieben und ich bitte dich, dich entsprechend zu verhalten. Dass Regisseure besonders anfällig für Machtmissbrauch sind, hat sicherlich etwas mit einem Begriff vom Künstler zu tun, der alles darf, der sich außerhalb gesellschaftlicher Normen bewegt. Und auch mit der Idealisierung dieses Berufs durchs Feuilleton. Oftmals zeichnen sich Menschen, die diesen Beruf ergreifen, auch nicht in erster Linie durch Sozialkompetenz aus. Egal, aus welcher Generation. Ein weiterer Grund dafür, dass es an Theatern soviel unaufgeklärten Machtmissbrauch gibt, ist die Wettbewerbssituation, in der sich die Häuser befinden im Machtdreieck Regie, Feuilleton, Intendanzen.

Lisa Jopt: Wir wissen aus der ensemble netzwerk Arbeit, dass viele Intendant/innen sich nicht unbedingt trauen, Regisseur/innen Paroli zu bieten. Weil sie Angst haben, dass die Person dann nicht mehr am Haus arbeiten will. Oder weil man dann als spießig gelten könnte, als empfindlich.

Anselm Weber: Genau, das ist ein großes Problem. Es gibt zwischen Intendanten keinerlei Solidarität, was das betrifft. Bei jemandem, von dem alle wissen, dass der sich "schlecht benimmt", könnte man ja auf den Gedanken kommen, dass die Intendanten sich mal zusammentun und sagen, der kriegt jetzt mal ein Jahr lang kein Engagement, wenn er sich weiter so benimmt. Aber das passiert nicht.

Was bringt der Bühnenvereins-Kodex aus Ihrer Sicht, Lisa Jopt?

Lisa Jopt: Der Kodex ist eine super Gesprächsgrundlage. Wir sind dafür, ihn als verbindlichen Vertragsbestandteil zu implementieren, plus der Antirassismusklausel von Julia Wissert und Sonja Laaser. Wenn ich Präsidentin des GDBA werde, setze ich mich dafür ein, dass wir das zum Teil des NV Bühne machen. Damit der Regelbruch justiziabel wird und es nicht beim Lippenbekenntnis bleibt. Denn wir arbeiten in einem Bereich mit so vielen Grauzonen, da sollten die Regeln möglichst präzise formuliert sein. Am besten steht in dem Kodex noch drin: In den Endproben darf keiner reinkommen und rumschreien. Wobei ich übrigens eine Schauspielerin bin, die sich gerne hat anschreien lässt. Denn es gibt ein Anschreien, das ist Energieübertragung und Anfeuern, und das kommt aus der Hitze des Gefechts. Aber es gibt eben auch ein Anschreien, das hat mit Demütigen, Kleinmachen, Frustrations- und Druckabbau zu tun. Und das ist verwerflich.

JoptWeber 500Illustration: Frank HöhneAnselm Weber, wie stellen Sie sicher, dass jemand, der an Ihrem Haus von einer Kodex-Verletzung betroffen ist, sich auch ermächtigt, das vorzubringen?

Anselm Weber: Die Situationen, um die es geht, sind oft schwer eindeutig auszulegen. Aber natürlich lassen sich grundsätzliche Regeln festlegen, denn es gibt ja typische Verhaltensweisen. Ich finde es aber auch wichtig, dass die Gruppe als Gruppe reagiert. Bisher erlebt man häufig den Zustand, dass jemand auf der Bühne gedemütigt wird, und die anderen Schauspieler erleben das mit und reagieren nicht. Auch Schauspieler verhalten sich also häufig nicht so, wie man sich das wünschen würde. Es muss aber natürlich vor allem Möglichkeiten für die Betroffenen geben, sich zur Wehr zu setzen. Die Verantwortung liegt am Ende bei den Intendanten. Die müssen mit den Beteiligten reden.

Häufig scheinen sich Situationen von Machtmissbrauch aus gruppendynamischen Prozessen in der Probenarbeit zu ergeben. Lisa Jopt, gibt es vom ensemble-netzwerk Vorschläge/Wünsche, wie auf solche Prozesse von außen eingewirkt werden müsste?

Lisa Jopt: Ich teile Anselm Webers Eindruck, dass Schauspieler/innen in solchen Situationen oft nicht füreinander aufstehen. Das liegt zum einen daran, dass man in der Regel großen Respekt und Demut vor der Regie hat, weil sie in einer mächtigen Position steht und weil durch unsere Flure eben immer noch der Geniegeist weht. Außerdem wird das "Aufstehen" oft gehemmt durch die Dramaturgie, die ja in der Regel auch dabei sitzt und allermeistens nichts sagt und die man als Schauspieler/in eine Ebene über sich in der Hierarchie verortet. Bestimmt überschätzen wir die Dramaturg/innen, wenn wir von ihnen erwarten, dass sie diesen Job machen. So geben alle die Verantwortung woandershin ab.

Anselm Weber: Nur weil die Leute am Theater arbeiten, sind sie keine besseren Menschen.

Lisa Jopt: Genau, und deshalb möchten wir vor diesem "Faktor Mensch", wie Sie es nennen, geschützt werden, so wie es in der Demokratie auch versucht wird, einen vor Willkür zu schützen. Im Prinzip ist das ensemble netzwerk eine Demokratiebewegung am Theater, und wir arbeiten uns da weiter nach vorne wie ein Maulwurf, und irgendwann nach oben, wenn wir das ganze Feld umgepflügt haben.

Ein erfolgreicher Regisseur wird unter Umständen Intendant, egal, ob er sich "schlecht benimmt". Wo sitzt im Gefüge zwischen Kulturpolitik, Intendant/innen und Künstler/innen die Macht und von woher und wem kann Veränderung gestaltet werden?

Lisa Jopt: Es braucht zertifizierte Ausbildungen für Theater- und Orchesterleiter/innen. Jeder Fußballer muss einen Trainerschein machen, wenn er eine Mannschaft trainieren will. Wir brauchen Intendant/innen, die mit Konfliktmanagement umgehen können, die den NV Bühne kennen, die sich zwischen Kulturpolitik und Theatermanagement und Ensemblepflege und künstlerischer Exzellenz bewegen. Wir im ensemble netzwerk sind außerdem für Teams statt Einzelpersonen, damit nicht die ganze Verantwortung auf einer Person hängt. Denn sie ist groß und komplex.

Anselm Weber: Das Bild vom Fußballtrainer finde ich nicht falsch. Ich würde es noch um die wirtschaftliche Kompetenz erweitern.

In der Debatte um Machtmissbrauch und der Kritik am "System Stadttheater" kommt immer wieder der Vorwurf der Diskrepanz zwischen den politischen Botschaften und Haltungen, die auf der Bühne hochgehalten werden und den Zuständen hinter der Bühne. Was sagen Sie beide dazu?

Lisa Jopt: Bei mir löst das eine Riesen-Langeweile aus. Weil das Thema schon so einen Bart hat. Wir befassen uns schon so lange damit, wir haben so gute Vorschläge, die alle verhandel- und organisierbar sind. Allerdings bin ich ewige Optimistin und glaube einfach, dass das System Stadttheater ganz organisch abgelöst werden wird. In 20 Jahren wird es sowas wie das Schauspiel Frankfurt, so wie es jetzt funktioniert, nicht mehr geben. Das wird sich durch die neue Generation ausschleichen.

Anselm Weber: Ich finde diese Aufregung über die Diskrepanz auch langweilig. Für mich war, als ich mit Anfang 20 angefangen habe, der größte Konflikt, dass ich den Alt-68ern gegenübersaß und ihr Verhalten und ihre politische Ambition überhaupt nicht zusammenbekommen habe. Und da war ja Macht noch ein anderer Faktor als heute, ideologisch aufgeladen. Die Damen und Herren damals waren ganz fest der Meinung, auf der richtigen Seite zu sein und das wurde ihnen auch in der Öffentlichkeit andauernd bestätigt. Ich habe also da keinerlei Illusionen, ich glaube trotzdem, dass das Theater die Funktion hat, politische Signale zu setzen. Ich würde das aber wirklich trennen vom Thema Umgang mit Übergriffen. Jedes Unternehmen gibt sich Regeln, damit sowas nicht passiert. Und das Brechen dieser Regeln hat Konsequenzen. Das muss im Theater genauso sein. Intendanten dürfen nicht mehr oder weniger als irgendwer anders.

Lisa Jopt: Ja, aber wo kein Kläger, da kein Richter.

Anselm Weber: Machtmissbrauch ist kein theaterspezifisches Problem. Auch eine Bankerin wird möglicherweise länger überlegen, ob sie einen Vorgesetzten des Machtmissbrauchs beschuldigt.

Lisa Jopt: Aber als Bankerin kannst Du Dir viel leichter woanders einen Job suchen. Das Theater ist klein, und diese kurzen Verträge erzeugen eine hohe Existenz- und Sichtbarkeitsangst. Das ist schon theaterbesonders.

Wie haben sich aus Ihrer beider Sicht im Pandemie-Jahr die Machtverhältnisse im Theater verändert und verschoben?

Lisa Jopt: Wir haben den pandemischen Ausnahmezustand im ensemble netzwerk als Prozessbeschleuniger erlebt. Die Unterschiede zwischen Festangestellten und Freischaffenden, zwischen befristet Angestellten und Soloselbständigen, die Ungerechtigkeit der Unsichtbarkeit, dass in der Wirtschaft weiterproduziert wird, aber die Theater geschlossen sind – all das hat zu einem Aha-Effekt geführt. Wir erleben eine neue Energie. Es ist vielen klar geworden, dass sie sich noch viel aktiver an die Politik wenden müssen. Und: um sich über Themen wie Machtmissbrauch auszutauschen, brauchst du Zoom-Termine, brauchst du Zeit. Durch die Pandemie hatten mehr Leute Zeit, solche Treffen stattfinden zu lassen.

Anselm Weber: Ich glaube auch, dass der Austausch untereinander gewachsen ist, so erlebe ich das auch bei uns im Haus. Vor allem der Austausch über das Nicht-Sichtbarsein produziert Gemeinsamkeit, das ist ja auch wirklich eine fundamentale Grunderfahrung, besonders für die Schauspieler. Gleichzeitig ist viel Angst im Raum, eine starke Verunsicherung.

Was würden Sie selbst sagen: Worin sind Sie beide sich grundsätzlich einig? Und worin nicht?

Lisa Jopt: Beim "Faktor Mensch" sind wir uns nicht einig. Vielleicht hats auch etwas damit zu tun, dass wir aus unterschiedlichen Generationen kommen. Sie sagen, so ist das halt am Theater, so kenne ich das. Und ich komme aus der Generation, die zusammen am Küchentisch gesagt hat: Lass mal anders machen, lass mal besser machen. Dass bei Ihnen am Haus Coachingprozesse im Gang sind, das hat übrigens um fünf Ecken mit Sicherheit mit der Lobbyarbeit des ensemble netzwerks zu tun.

Anselm Weber: Ich glaube, dass wir uns vor allem in der Einschätzung unterscheiden, ob Kollektive die Situation auf Dauer tatsächlich verbessern. Auch Ihre Erwartung der Ablösung des Intendantenmodells durch den Generationswechsel sehe ich schwieriger umzusetzen als Sie, weil ich die Eigenverantwortlichkeit der Schauspieler und Schauspielerinnen etwas anders einschätze.

Das Gespräch führten Sophie Diesselhorst und Simone Kaempf .

Kooperation

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Der Aufsatz entstammt dem Band
Theater und Macht – Beobachtungen am Übergang
Herausgegeben von der Heinrich Böll Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit Weltuebergang.net unter redaktioneller Leitung von Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Elena Philipp und Christian Römer. Berlin 2021. 

Hier finden Sie das pdf des Bandes und können ein kostenloses Printexemplar bestellen.

 

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Kommentare  
Macht-Interview: vom Saulus zum Paulus
Vom Saulus zum Paulus? Wenn in den autokratischen Leitungen, z.B. von Anselm Weber plötzlich Coaching und Teilhabe propagiert wird, dann ist das eine unglaubliche Augenwischerei.
Man könnte ja Corona nutzen, um endlich mal im Ensemble offen über andere Strukturen zu sprechen. Stattdessen wird auf "Halde" produziert.
"Me too" als PR-Gag. SO wird das Nichts.
Macht-Interview: Reisende sind nicht das Problem
Es wäre schön, wenn Intendanten - vor allem, wenn sie selbst inszenieren - nicht durchreisenden Gastregisseuren die Schuld in die Schuhe schieben würden. Regieverträge sind in der Regel auf eine Inszenierung beschränkt und wer sich danebenbenimmt oder das Ensemble/die Dramaturgie schlecht behandelt fliegt, zumindest solange er/sie kein Superstar ist, ganz schnell raus. Und meist reicht es, wenn beteiligte Schauspieler:innen die- oder denjenigen, ob Kolleg:in oder Assistent:in in Schutz nehmen - auf der Probe. Denn die Regie ist allein und steht - so es sich zusammenfindet - einem Kollektiv gegenüber. Der Rest ist Theaterfolklore.
Macht-Interview: andere Vorreiter
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(Hinweis: Es prädestiniert, dass zum Interview angefragt wurde, wie es üblich ist. die nachtkritik-Redaktion)
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