Medienschau: Radio Eins – Mehr zum Thema Publikumsschwund

Wo sind all die Menschen hin?

Wo sind all die Menschen hin?

19. Mai 2022. Der RBB-Sender Radio Eins hat nachgefragt, ob die gefühlte Wahrheit vom Publikumsschwund zutrifft. Bei den großen Häusern, auch beim Theatertreffen, hört sie von vollen Sälen – nur würden sich die Zuschauer:innen heute oft sehr kurzfristig für einen Theaterbesuch entscheiden.

Aber, so die gute Nachricht der Recherchen von Cora Knoblauch: Das Stammpublikum ist noch da. Problematischer seien die Bereiche Boulevard, Kleinkunst, Varieté, Comedy, Lesungen etc., "denen fehlen in Berlin etwa 40 Prozent Publikum“.

Knoblauch hat auch interessante Details vom Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) erfahren: "Es fehlen Spontanbesucher*innen, es fehlen weiterhin Berlin-Touristen und dann gibt es noch ein paar Faktoren, die die Menschen derzeit davon abhalten, Veranstaltungen in geschlossenen Räumen zu besuchen: Unsicherheit wegen Corona einerseits, Maskenmüdigkeit andererseits und dann: Geld."

Denn die, die zum Beispiel eher in Boulevardtheater gehen, sind in der Tendenz die, die finanziell nicht so gut aufgestellt sind, Menschen mit "niedrigem Ausstattungsniveau", so die Forschungsergebnisse. Sie hätten in der Pandemie generell stärker mit Rückzug reagiert, was neben Theater auch Restaurantbesuche, Kino, Reisen etc. betoffen habe. "Und diese Menschen sind eben jetzt - offenbar - auch die, die noch nicht wieder alle zurückgekehrt sind."

(Radio 1 / geka)

Kommentare  
Publikumsschwund: Wien schwindet
In Wien ist eindeutig ein Publikumsschwund festzustellen. Und zwar in den großen Theatern Burgtheater, Josefstadt und Volkstheater (dort einem Bericht der "Presse" zufolge nur noch 48% Auslastung). Dafür hat sich die Wiener Staatsoper schon recht gut erholt, auch Konzerte laufen gut. Wenn das so bleibt, wird das nicht ohne Konsequenzen abgehen. Ich glaube, man hat seit einigen Jahren in Wien zu oft auf eine Art von Theater gesetzt, das mentalitätsmäßig eher nach Deutschland passt als nach Wien. Klar, dass das nicht funktionieren kann, so eine Art Theater würde in London, Mailand oder Paris auch nicht funktionieren. Wiener wollen gute und große Schauspieler und spannende Stücke in gut gestalteten Inszenierungen. Mit Regiekonzepten oder experimentellen Ideen allein ist in der Donaumetropole nicht viel zu gewinnen. Sinnliches Theater ist gefragt. In der Stadt wurde der Aktionismus erfunden, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek waren hier zuhause. Sogar Provokationen müssen also in jeder Hinsicht von höchstem Niveau sein. So einfach ist das. Wer das liefert, gewinnt - wer nicht, geht unter. Leider sieht es momentan so aus, als würde die Imitation deutscher Theaterverhältnisse in Wien noch etwas andauern (wie man an jüngsten Berufungen neuer Direktionen sieht, die Politik orientiert sich dabei an Leuten aus der Theater-Blase, die am Publikum vorbei agieren). Ob das eine gute Idee ist, bleibt abzuwarten.
Publikumsschwund: Unsinn
Kann man dieses Argument bitte endlich begraben? Dieser nationalistische Unsinn ist genau das, Unsinn. Mit dem Argument wollte man schon Peymann vertreiben, und der bei den Festwochen lange so abgöttische geliebte Marthaler ist Schweizer. Es ist den meisten wurscht, wo gutes Theater her kommt, und den besten Nestroy an der Burg hat Castorf abgeliefert. Das Problem der Bühnen ist gerade nicht die Nationalität der Konzepte, es überzeugt halt gerade wenig - egal wo es her kommt. Und dass die Oper so voller wäre als die Sprechtheater stimmt auch nicht, die Staatsoper bietet - bisher unvorstellbar - ermäßigte Karten an und im Konzerthaus saß ich unlängst mit vielleicht 30 Leuten auf der Galerie. Nur weil die Presse dazu einen Beitrag bringt, stimmts nicht gleich.
Publikumsschwund: Gutes Beispiel
Liebe/r "Wiener", dass Castorf tatsächlich einmal einen Nestroy inszeniert hat, daran mussten sie mich gerade erinnern (es war im fernen 1998). Dass das der "beste Nestroy an der Burg" gewesen sein soll, bezweifle ich, kann allerdings sicher so empfunden werden, wenn man kaum oder gar keine anderen Nestroy-Inszenierungen an der Burg gesehen hat. Und: Unterschiedliche Orte, Länder, Weltteile sowie deren jeweilige Bewohner haben unterschiedliche Geschmäcker, Mentalitäten, Einstellungen (was nichts mit "Nationalismus" zu tun hat, sondern viel mit Diversität und Kultursensibilität, falls Sie davon schon einmal gehört haben). Gerade Marthaler ist ein gutes Beispiel: Fragen Sie einmal in London, Mailand, Barcelona oder Kopenhagen nach, wer ihn dort kennt bzw. "abgöttisch liebt". Schließlich: Auslastungszahlen sind Fakten, auch wenn Sie das anders sehen wollen. Übrigens hat die Wiener Staatsoper schon seit Jahrzehnten ermäßigte Karten angeboten, was Ihnen offenbar nicht bekannt ist.
Publikumsschwund: Falscher Dampfer
Ich habe sehr viele Nestroys gesehen - und ich finde, Castorfs Blick von außen war unendlich wichtig, damit er endlich seine Schärfe und Kraft und seinen Witz zurückbekommt. Natürlich kann man das anders sehen, kann man bei Kunst ja immer. Und natürlich ist es Nationalismus, wenn man am Pass eines Künstlers, einer Künstlerin fest macht, auf wie viel Resonanz etwas trifft. Der Österreicher Bernhard wäre ohne den Deutschen Peymann undenkbar gewesen; der Italiener Strehler hat auch im deutschsprachigen Bereich Erfolge gefeiert. Und von Marthaler habe ich einen "Wozzek" in Paris gesehen und ein Stück in Avignon - wenn auch nicht in Kopenhagen :-) Wer hier auf "Herkunft" pocht, ist auf dem falschen Dampfer. Was nicht heißt, dass es nicht in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Blickwinkel gibt; aber gerade um deren Sichtbarmachung sollte es doch gehen, nicht um Einigeln. Und die Auslastungszahlen stellt keiner in Abrede - nur, dass es in Oper und Konzert besser wäre.
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