Immer der gleiche Terror

8. Oktober 2022. Bei Ibsen bahnte sich die enttäuschte Ehefrau Nora noch mit knallenden Türen ihren Weg in die Emanzipation. Ein gutes Jahrhundert stagniert man in der Ehehölle. So erzählt es Felicitas Brucker in ihrem Doppelabend nach Henrik Ibsen und Édouard Louis mit Texteinschüben von Sivan Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic.

Von Willibald Spatz

"Nora" & "Die Freiheit einer Frau" an den Münchner Kammerspielen © Armin Smailovic

8. Oktober 2022. Die Geschichten besitzen frappant viele Parallelen. Beide erzählen von der Befreiung aus einem familiären Elend, von einem kleinen Schritt, den die Heldinnen lange hinausschieben und schließlich doch wagen. Nur liegen zeitlich über hundert Jahre zwischen den Ereignissen: Henrik Ibsens "Nora" verlässt ihren Mann am Ende und konnte damit bei der Premiere 1879 wenigstens auf dem Theater einen Skandal auslösen. Édouard Louis' Protagonistin in seinem Roman "Die Freiheit einer Frau" (von 2021) kämpft mit der Geldnot und einem saufenden Gatten. Auch sie schafft es – sie schmeißt ihn raus. Das Traurige ist, dass sich in der Zwischenzeit offenbar nicht viel zwischen den Geschlechtern getan hat. Kein Fortschritt, nirgendwo.

In den Kammerspielen hat Felicitas Brucker diese Geschichten nun für einen Abend eingerichtet. Sie versucht dabei, ästhetisch einen möglichst großen Kontrast zu schaffen. "Nora" bekommt eine große Bühne und "Die Freiheit einer Frau" nur eine schmale Rampe am Bühnenrand, auf der sich drei Schauspieler:innen zweidimensional aufreihen.

Ein Haus steht Kopf

"Nora" ist nicht Ibsens Drama allein. Sivan Ben Yishai hat einen witzigen Prolog geschrieben, bei dem die Schauspieler:innen in einer Leseprobensituation zum ersten Mal aneinandergeraten. Hier wird auch behauptet, das Stück sei in erster Linie ein Stück über ein Haus. Der Vorhang öffnet sich und wir sehen ein kopfstehendes Haus, das Viva Schudt auf die Bühne gestellt hat. Auf dieser Fassade und den nach außen ragenden Fensterrahmen kann man mehr oder weniger geschickt herumklettern und sich dazu in Rage reden. Hier stimmt einiges nicht. Dieses Haus ist ein Horrorhaus. Flackernde Lichteffekte, ein schwarzer Luftballon, Kinder in Kapuzenjacken verstärken den Eindruck, dass sich alle in einem Gruselfilm aufhalten.

Freiheit2 Armin Smailovic uEdmund Telgenkämper, Katharina Bach und Thomas Schmauser in "Die Freiheit einer Frau" © Armin Smailovic

Doch das eigentliche Grauen lauert natürlich in den Figuren. Da ist Katharina Bach als Nora, zu Beginn noch ganz die Dame des Hauses, den Wahnsinn deckelnd. Sie erklettert sich im Verlauf der Tragödie jeden Winkel der Fassade und gleicht schließlich einer Spinne, entzieht sich immer mehr ihrem Ehemann Helmer, den Edmund Telgenkämper als workaholischen Widerling im größtmöglichen Kontrast zu seiner Frau anlegt. Auch die Nebenfiguren, über deren Bedeutung schon im Prolog diskutiert wird, bekommen hier ihren Platz. Vincent Redetzki ist ein schräger Doktor Rank, der sich nach einer Ballnacht partout nicht von Helmer aus der Wohnung schmeißen lässt und ein irres Solo hinlegt, nachdem die anderen schon im Bett sind. Und Thomas Schmauser taucht als Widerling Krogstad immer wieder auf der Bühnenschräge auf und verwandelt sich schließlich noch in einen Zombie.

Innen und außen Gothic-Düsternis

Weitere Textergänzungen kommen noch von Gerhild Steinbuch und Ivna Žic. Letztere erweitert das Original um Passagen, die die Sicht der Helmer'schen Kinder schildern, Jahre nach den Vorfällen. Gerhild Steinbuch beleuchtet das bislang unausgesprochene Innenleben der Handelnden. Und Regisseurin Felicitas Bruckner bricht mit diesen Textstücken die Handlung unter anderem mit einer düsteren Gothic-Rock-Einlage.

Ganz aus der Perspektive des Sohnes erzählt Édouard Louis in "Die Freiheit einer Frau" die Geschichte seiner Mutter. Den Roman haben Felicitas Brucker, Tobias Schuster und die Schauspieler:innen fürs Theater eingerichet. Katharina Bach, Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper teilen sich den Prosatext auf, keiner hat eine feste Rolle. Jeder ist mal Mutter, mal Sohn, mal Vater. Auch hier gibt es für alle Momente, in denen sie glänzen können.

Die Gewalt, die ich selbst ausübte

Zu jung bekommt die Mutter Kinder und gerät in Abhängigkeit eines Säufers. Édouard Louis' Vater ist ihr nächster Mann. Es kommen noch mal drei Kinder. Auch dieser Mann trinkt. Nach einem Arbeitsunfall sitzt er nur noch zu Hause und macht die Wohnung zur Hölle. Und der Sohn geht aufs Gymnasium und schämt sich. "In Schilderungen des Übergangs aus einer gesellschaftlichen Klasse in eine andere geht es meist um die Gewalt, die die Betreffenden dabei erlebt haben – wegen Unangepasstheit, Unkenntnis der Codes der Welt, in die sie eintreten. Ich erinnere mich vor allem an die Gewalt, die ich selbst ausübte." Das Kind wird grausam, der nächste Tyrann. Im Schreiben transformiert er seine Gefühle für seine Mutter. "Als Kind schwor ich, sobald ich erwachsen wäre, würde ich dich mitnehmen, weit weg von meinem Vater, und dir ein Haus kaufen, ein Schloss, das dir Zuflucht bietet. Wir wünschen uns, dass diese Erzählung für dich ein solcher Ort wird."

Dieser kleinere, reduzierte Teil des langen Abends ist der stimmigere, auch wenn er einen mit der desillusionierenden Botschaft entlässt, dass es gut sein kann, wenn man sich in hundert Jahren eine ähnliche Geschichte in einer anderen Umgebung noch ein weiteres Mal erzählen muss.

Nora
Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch, Ivna Žic
Uraufführung
"Nora: Prolog" von Sivan Ben Yishai
Deutsch von Tobias Herzberg
"Nora" von Henrik Ibsen
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Felicitas Brucker, Bühne und Kostüme: Viva Schudt, Musik: Markus Steinkellner, Lichtdesign: Christian Schweig, Video: Florian Seufert, Dramaturgie: Tobias Schuster.
Mit: Katharina Bach, Svetlana Belesova, Vincent Redetzki, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper.
Premiere am 7. Oktober 2022.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

Die Freiheit einer Frau

Nach dem Roman von Édouard Louis
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Fassung von Felicitas Brucker, Tobias Schuster und Ensemble
Regie: Felicitas Brucker, Bühne und Kostüme: Viva Schudt, Musik: Markus Steinkellner, Lichtdesign: Christian Schweig, Video: Florian Seufert, Dramaturgie: Tobias Schuster.
Mit: Katharina Bach, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper.
Premiere am 7. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Der Zusammenschluss der beiden 'Stücke' ist eine Dramaturgiegeburt und nicht zwingend, geht aber aufgrund ähnlicher Emanzipationsaus- und -aufbrüche und überhaupt: wegen des immer noch nötigen Selbstermächtigungskampfes von Frauen durch", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (10.10.2022). Doch die Inszenierungen überzeugen die Kritikerin nicht. Als disparat beschreibt sie die "'Nora‘-Kletterperformance". Das gehe alles nicht wirklich zusammen und als Konzepttheater kaum je zu Herzen. Dem zweiten Teil bescheinigt Dössel inszenatorische Armseligkeit. "Die Geschichte ist berührend, keine Frage. Aber der Lektüre des Romans fügt der Abend kaum einen theatralen Mehrwert hinzu."

Felicitas Brucker lasse ihre Nora clever zwischen opulent und nüchtern pendeln, schreibt Ulrike Frick vom Münchner Merkur (9.10.2022). Die Kritikerin lobt wie Brucker in ihrer klugen Inszenierung die Nebenfiguren aufwerte. "Insgesamt ist es aber zweifellos Katharina Bachs Abend." Und Édouard Louis? "Erstaunlicherweise finden sich in seinem Monolog, im nunmehr verschlankten Ensemble von Bach, Telgenkämper und Schmauser wechselweise vorgetragen, viele Parallelen zur Figur der 140 Jahre vorher erdachten Nora. Schauerlich, wie wenig sich innerhalb von Paarbeziehungen seitdem getan hat."

"Regisseurin Felicitas Bruckner orchestriert diesen vielschichtigen Abend, der auch ästhetisch auf mehreren Ebenen besticht – Video, Sounddesign, Schauspiel – souverän", so Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (8.10.2022) über "Nora". Auch "Die Freiheit einer Frau" begeistert den Kritiker, "nicht nur wegen der bereichernden Bezüge die sich zur "Nora" einstellen". Der Kritiker empfiehlt: "unbedingt hingehen!"

"Es ist ganz erstaunlich, wie die Schicksale der norwegischen Advokatengattin Nora im späten 19. Jahrhundert und der nordfranzösischen Arbeiterfrau Monique zur Jahrtausendwende, von der der Sohn erzählt, sich über die Generationen und Nationen hinweg die Hände reichen. Felicitas Brucker stellt nicht nur die Frauenfrage, sondern auch die Klassenfrage und wirft einen Blick auf die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen beiden", schreibt Mathias Hejny von der Abendzeitung (10.10.2022). "Das ist ein Fest für die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler, allen voran Katharina Bach als eine Nora, die eine Metamorphose von der süßen Lerche zum Gothic-Horror-Todesvogel durchläuft."

Die verschiedenen "Nora"-Texte verdichteten Felicitas Brucker "und ihre kraftvoll changierende Hauptdarstellerin Katharina Bach zu einem tickenden Thriller, einem unruhigen Trip in die das freie Weite suchende, doch in die Enge getriebene Psyche Noras, die dem von allen Seiten aufgebauten Erwartungsdruck immer weniger standhalten kann", so Theresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.10.2022). "Doch diese Münchner Uraufführung ist keine ikonische Geschichte einer Emanzipation. Von was auch? Sie konfrontiert ja nicht eine etablierte Gesellschaft mit Noras umstürzlerischem Egozentrismus, sondern sie spielt mit und in der bereits umgestürzten Welt ihrer unzähmbaren Gedanken und heftigen Gefühle, die schließlich in Flammen aufgeht, Brandstifterin ist Nora selbst." Ähnlich positiv äußert sich Grenzmann über "Die Freiheit einer Frau".

 

 

Kommentare  
Nora + Freiheit einer Frau, München: Die Freiheit der Entscheidung
Ein fulminanter Theaterabend, der mit seinen beiden sich gegenseitig bespiegelnden Teilen, die Freiheit der Entscheidung betont. Schon Frigga Haug und Cornelia Hauser setzten Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“ ein „Viele Orte. Überall?“ – also Entscheidungsmöglichkeiten –entgegen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich zu entscheiden, einige schon von Ibsen in unterschiedlichen Stückenden angelegt, werden im Sinne der Szenariotechnik oder des psychodramatischen „Probehandelns“ angespielt – Suizid, Trennung von Mann und Kindern, um in eine neue Zukunft aufzubrechen, wegen der Kinder zu bleiben oder das Haus anzuzünden. Untersucht werden durch den Prolog von Sivan Ben Yivan auch die Auswirkungen für „Randfiguren“ in Ibsens Theaterstück. Die Texteinfügungen von Ivna Zic zeigt die Auswirkungen für „Noras Kinder“.
Die Wechselbeziehungen zwischen Eltern und Kindern wie auch die die Möglichkeit zu unterschiedlichen Lebensentscheidungen – wenn auch je nach Herkunft in unterschiedlicher Begrenzung - werden ebenfalls im zweiten Theaterstück in den Blick genommen. Auch hier werden unterschiedliche Perspektiven eingenommen, verstärkt dadurch, dass die drei Schauspieler:innen ihre Rollen wechseln. Thomas Schmauser besticht als Mutter. Katharina Bach in beiden Teilen in Ihrer kraftvollen körperlichen Präsenz, ihren emotionalen Wechseln und ihrer kontaktfreudigen Leichtigkeit zuzusehen ist ein Genuss. Edouard Louis untersucht in seinem Roman „Die Freiheit einer Frau“ in dichten Beschreibungen das Leben einer französischen Familie in prekären Verhältnissen und die unterschiedlichen Auf- und Ausbrüche der Mutter. Er greift hierbei vermutlich auf das Buch „Die feinen Unterschiede“ zurück, in denen der Soziologe Pierre Bourdieu detailliert untersucht, welche kulturellen Unterschiede in den Lebenspraxen und Kontexten der unterschiedlichen Klassen und gesellschaftlichen Gruppierungen bestehen, genau in der Beschreibung von Einrichtungen, Kleidung, Arbeits- und Lebensweise, Sprache. Diese erschütternde bis ergreifende Beschreibung von gesehenen oder erinnerten Details und deren Auswirkungen im Roman, sowohl in der eigenen Familie als auch in den begangenen Ausbruchsbewegungen zeigen die drei Schauspieler:innen kunstfertig mit emotionaler Tiefe. Solche Theaterabende lassen mich gern in die Münchner Kammerspiele gehen! Danke!
Nora + Freiheit einer Frau, München: Gelungen
Ja, ein auch meines Erachtens sehr gelungenes Double Feature. Zwei Stücke aus unterschiedlichen Epochen zu einem Thema, das beide Stücke zusammenführt. Beide Stücke handeln vom Thema „Eine Frau verlässt ihre „Einsperrung“ (goldener Käfig oder sozial prekäre Lebenssituation) und sucht ihr Leben. Der einzige Epochenunterschied: Früher war es ein Skandal, heute ist es eine Beschreibung - aber eben doch auch noch ein Skandal. Wunderbar überzeugend war das Trio von Katharina Bach, Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper! Hier etwas mehr dazu aus meinem Theaterblog unter www.qooz.de:
https://qooz.de/2022/10/10/theater-double-feature-nora-und-die-freiheit-einer-frau/
Nora + Freiheit einer Frau, München: Minimalistisch
Sivan Ben Yishais Prolog prägt den Stil des Abends: Felicitas Bruckers „Nora“ stellt knapp zwei Stunden ihr Ringen um die Suche nach dem richtigen Ton aus. Passagen, in denen der Kanon-Klassiker recht originalgetreu gespielt wird, wechseln sich mit Szenen ab, in denen die Spieler*innen aus ihren Rollen treten. Einschübe von Gerhild Steinbuch und Ivna Žic sorgen für kleine Perspektivverschiebungen. Als Dr. Rank legt Vincent Redetzki ein Solo im Negligée hin, bei dem ihn Torvald Helmer (Edmund Telgenkämper) mehrmals vergeblich brüllend von der Bühne zu werfen versucht.

Diese Nora-Inszenierung testet vieles aus, spielt manche Motive an, bleibt aber doch sehr plakativ: Viva Schudts Bühne ist eine schiefe Ebene, auf der die Figuren ihren tragischen Verstrickungen entgegen taumeln.

Ganz anders ist der zweite, nur eine knappe Stunde kurze Teil: vorne an der Rampe teilen sich Katharina Bach, Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper den essayistischen Text von Édouard Louis. Den im Herbst 2021 erschienen, schmalen Text hat Falk Richter bei der Hamburger Uraufführung im März als queeres Emanzipations-Pop-Musical angelegt. Brucker entscheidet sich für das Gegenteil: minimalistisch bleibt ihre "Freiheit einer Frau", ganz auf den Text konzentriert, mal leise räsonierend, sich mal dialogisch voran tastend, mal mit unvermittelten Brüllorgien und Gewaltausbrüchen, bei denen viele an die Wand geschleuderte Flaschen zu Bruch gehen.

In seiner sehr konzentrierten Form wird Bruckers „Die Freiheit einer Frau“ dem fragend-suchenden Ton der Louis-Vorlage gerecht. Was anfangs wie ein Nachklapp wirkt, entwickelt sich zum stärkeren Teil einer Doppel-Inszenierung, die nach der Premiere im Repertoire-Betrieb meist an getrennten Abenden gespielt werden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/12/30/nora-die-freiheit-einer-frau-muenchner-kammerspiele-kritik/
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