Im Büro für Kindheit

8. Oktober 2022. Mit hohen Glückserwartungen kommen die Menschen ins Büro für Kindheit, um sich dort ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Aber hinter dem Adoptivgeschäft lauern Abgründe, wie Caroline Guiela Nguyen an der Berliner Schaubühne zeigt.

Von Simone Kaempf

"Kindheitsarchive" von Caroline Guiela Nguyen an der Berliner Schaubühne © Gianmarco Bresadola

8. Oktober 2022. Das Bühnenbild hat Breitwandformat, wie für ganz großes Gefühlskino gemacht. Ein pastellfarbener Raum mit Konferenztisch und Designer-Stühlen, Videoleinwand, Kinderspiel- und Kaffee-Ecke. Hinter einer großen Glasscheibe öffnet sich ein weiteres Zimmer, Türen gehen auf und zu. Es herrscht geschäftiger Betrieb in diesem "Büro für Kindheit", wie es in neudeutscher Umschreibung heißt. Vulgo in einer Adoptionsstelle, in der ganz unterschiedliche Interessen und melodramatische Gefühle zusammenkommen.

Dabei sind ein drei Sachbearbeiter:innen, die hier arbeiten: Mira (İlknur Bahadır), Victoria (Veronika Bachfischer) und Denise (Alina Vimbai Strähler), sie empfangen adoptierte Kinder, prüfen kinderlose Eltern oder beraten via Zoom all jene, die ein Kind aufnehmen wollen, weil sie ungewollt kinderlos blieben oder auch, weil sie es für ihre Pflicht halten, ein Kind von ihrem Wohlstand profitieren zu lassen.

Der Schrecken hinter fröhlichen Fotos

"Kindheitsarchive" nennt die französische Regisseurin Caroline Guiela Nguyen ihre Inszenierung über Auslandsadoptionen. Wie in "Saigon", dem Stück über die unterschiedlichen Erinnerungen an den Vietnamkrieg unter den Gästen eines vietnamesischen Restaurants (ein großer Erfolg, der viel Aufmerksamkeit und Auszeichnungen brachte), ist es ein sehr spezieller Ort, an dem sich verschiedene Geschichten kreuzen und Kinder an europäische Eltern vermittelt werden. An einer Wand hängt eine große Pinnwand mit Bildern von lachenden Eltern und ihren Kindern. Von diesem Glück, das auf den Fotos zu sehen ist, ist ansonsten wenig zu spüren, im Gegenteil.

Guiela Nguyen breitet im Laufe des Abends ein Beziehungsgeflecht aus, das tief in die moralischen Zwickmühlen und in die zwiespältigen Motive führt. Im Mittelpunkt stehen drei Adoptionen: Die Kindervermittlung an Rebecca (Ruth Rosenfeld) bahnt sich gerade an. Ihr wird ein Kind vorgeschlagen, ein kleiner Junge aus Vietnam. Die gute Nachricht währt allerdings nicht lange. An der Vorgeschichte und dem Tod der leiblichen Mutter tauchen im Heimatland Zweifel auf. Die Akte wird vorerst wieder geschlossen, aus Rücksicht auf das Kindeswohl. Für die Mutter in spe eine emotionale Achterbahnfahrt, sie pocht nun auf ihr Anrecht, begründet mit der langen Zeit vergeblicher Kinderwunsch-Behandlungsversuche und dem mühsamem Adoptionsprozess.

Auch die Adoption eines anderen Jungen, Pedro aus Kolumbien, kam nicht zustande. Er starb aus ungeklärter Ursache, bevor seine neuen Eltern ihn abholen konnten. Jetzt fordern sie eine Sterbeurkunde und dass der Leichnam in Deutschland beerdigt wird, zur Überraschung der kolumbianischen Vermittlerin und der stets freundlich-bestimmten Mira.

Schicksale mit Service-Zuvorkommenheit serviert

Guiela Nguyen lässt solche Gespräche auf der Bühne tatsächlich via Zoom stattfinden. Ansonsten sind die Geschichts-Puzzlesteine in eine hyperrealistische, pastellig-wattige Büroatmosphäre verpackt. Ilknur Bahadir legt einen service-gestählten abgefederten Ton vor, an dem alle Emotionen abperlen. Sanfte Musik untermalt alle Szenen, ein bisschen wie von einem anderen Planeten. Die Service-Zuvorkommenheit vermittelt zwischen den Kulturen und Sprachen, kann aber Konflikte am Ende doch nicht vermeiden.

Der dritte Erzählstrang handelt von der 18-Jährigen Nina, die mit der Volljährigkeit aus ihren Akten erfahren will, warum ihre leiblichen russischen Eltern sie zur Adoption gaben. Zum Termin steht nicht sie selbst, sondern ihre Mutter (Stephanie Eidt) im Büro, um die Akteneinsicht zu verhindern. In einem Wutausbruch erklärt sie wortreich, dass keiner besser als sie wisse, was das Beste für ihre Tochter sei. Mosaikmäßig breiten sich die unterschiedlichen Motive und Einblicke in schmerzliche Verwerfungen aus.

Archiv2 Gianmarco Bresadola uRuth Rosenfeld (in groß) mit Alina Vimbai Strähler und Veronika Bachfischer (vorne im Bühnenbild von Alice Duchange © Gianmarco Bresadola

Am weitesten geht die Geschichte von Nina. Die Recherche in ihrer Vergangenheit führt zu einer Video-Wiederbegegnung mit ihrem russischen Bruder, von dessen Existenz sie nichts wusste und schließlich mit der Mutter, die unter Tränen ihren quälenden Schuldgefühlen Luft macht. Dass die Begegnung als Video-Call arrangiert ist, wirkt wie ein Verstärker der Kluft zwischen der großen intimen Sehnsucht nach der leiblichen Familie, den Hoffnungen, die damit verbunden sind und der großen Fremdheit, die zwischen ihren Welten herrscht.

Mit Wucht durchs Wohlstandsgefälle

Caroline Guiela Nguyen hat in Frankreich einige Zeit mit Joël Pommerat zusammengearbeitet, und man findet in "Kindheitsarchive" wie bei Pommerat einen unerbittlichen Blick auf familiäre Beziehungen und ihre emotionalen Zwickmühlen. Das Wohlstands-Nord-Süd-Gefälle, das bei Auslandsadoptionen eine Rolle spielt, verstärkt die schmerzlichen Verwerfungen. Das breitet der Abend Stück für Stück aus.

Die Regisseurin hat im Vorwege ausgiebig recherchiert. Die geltenden Regeln und Prinzipien werden von den Adoptionsbüro-Mitarbeiterinnen vorgetragen, Momente, an denen der Abend dann aber auch ziemlich trocken wird. Ein großer Wurf wie "Saigon" gelingt nicht, das Tableau bleibt kleiner, das Beziehungsgeflecht entspinnt sich weniger raffiniert. Und doch entfaltet sich am Ende mit Wucht, wie Entscheidungen zur Adoption, aus welchen Gründen auch immer, weitreichende Schuldgefühle, Zweifel und Loyalitätskonflikte bedeuten.

Kindheitsarchive
von Caroline Guiela Nguyen
Aus dem Französischen von Uli Menke
Regie: Caroline Guiela Nguyen, Bühne: Alice Duchange, Kostüme: Benjamin Moreau, Video: Jérémie Scheidler, Musik: Antoine Richard, Dramaturgie: Nils Haarmann.
Mit: Veronika Bachfischer, İlknur Bahadır, Stephanie Eidt, Ruth Rosenfeld, Alina Vimbai Strähler, Irina Usova, Song Toan Nguyen / Louis Tuan Phuong Nguyen Luu / Ryan Tran.
Premiere am 7. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schaubuehne-berlin.de

Kritikenrundschau

Im Tagesspiegel (9.10.2022) schreibt Kritikerin Christine Wahl, es sei typisch für den Abend, dass er "hochgradig spannungsreiche Themen" behandele, "ohne wirklich zu überraschen". Diese Inszenierung tippe schwierigste Konflikte an, ohne selbst wehtun zu wollen. Wo das Dilemma sich offenbare könne, nehme sie oft die Kurve ins Stereotyp oder in die Versöhnlichkeit. Verstärkt werde all das vom "fernsehrealistischen Darstellungskonzept der Inszenierung", urteilt die Rezensentin.

Die Aufnahme von Kindern ist nicht immer gut, wenn sie ohne eigene Eltern sind oder diese nicht für sie sorgen können, sei es aus persönlichen, wirtschaftlichen oder welchen Gründen. "Das ist die sehr besondere Erkenntnis an diesem ruhig realistischen, ja auch ziemlich oldschoolhaften Konversationstheaterabend in der Schaubühne, deren Dramatik und Reichweite man nahezu plastisch begreift", so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (9.10.2022)

Caroline Guiela Nguyens Stück über Auslandsadoptionen lasse kein gutes Haar an dieser Praxis, so Barbara Behrendt in DLF Fazit (7.10.2022). Stellenweise sei der Abend zu trocken, aber insgesamt spannend und anrührend.

 

 

Kommentare  
Kindheitsarchive, Berlin: Berührend
Ich habe einen berührenden, liebevoll inszenierten Abend gesehen, der wichtige Themen anspricht und kein Dilemma scheut. Ich werde den Abend in meinem Umfeld nachdrücklich empfehlen.
Kindheitsarchive, Berlin: Wissensvermittlung
Das Ungewöhnliche an diesem Dokutheater ist, dass es als sozialrealistisches Melodram eine Nische besetzt, die in Deutschland nur selten zu sehen ist, an der Schaubühne aber beispielsweise auch vom Briten Alexander Zeldin mit „Beyond Caring“ gepflegt wird. Fast permanent wird der zweistündige Abend von sanfter Lounge-Musik untermalt. Bei aller Wissensvermittlung über die Klippen einer Auslandsadaption, die in den prototypischen Fallkonstellationen vorgestellt werden, zwischen denen die Inszenierung pendelt, zielt „Kindheitsarchive“ auch immer wieder sehr direkt auf die Gefühle der Zuschauer*innen und die Tränendrüse.

Mit dem kleinen vietnamesischen Jungen (in der Rolle wechseln sich drei Kinderdarsteller ab), den die alleinerziehende Businessfrau (Ruth Rosenfeld) adoptierte, der sich nach seinem Teddy und seiner Heimat sehnt, endet der Abend. Auch das letzte Drittel davor ist sehr emotional: im Zoom-Call sieht sich Nina/Elena plötzlich nicht nur ihrem Bruder in Moskau, den sie nie zuvor gesehen hat, sondern auch noch seiner Frau und dem gemeinsamen Baby sowie ihrer leiblichen Mutter gegenüber. In solchen Momenten, die Usova schwankend zwischen teenagerhafter Begeisterung und Angst vor emotionaler Überforderung spielt, droht Nguyen zu überziehen.

Insgesamt bleibt der Abend trotz aller Emotionalität glücklicherweise doch eher Kammerspiel als Soap, da die drei Frauen vom Amt in ihrer einfühlsamen, aber doch toughen Art in jeder der Teil-Episoden das Heft das Handelns behalten und die Verzweiflungsausbrüche á la „Das können Sie uns doch nicht antun!“ an der professionellen Schutzschicht abprallen lassen. Im Zentrum dieses sozialdramatischen Melodrams steht eben doch die Wissensvermittlung.

Für das ungewohnte Genre interessierte sie sich auch die tt-Jury. Sie nahm es auf ihre Shortlist, in der Schluss-Diskussion schaffte es „Kindheitsarchive“ aber doch nicht in die 10er-Auswahl der aktuellen Festival-Ausgabe 2023.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/04/01/kindheitsarchive-schaubuhne-theater-kritik/
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