Erweiterte Realität

8. Oktober 2022. Zum vierten Mal seit 2018 fand in Berlin das "Spy on Me“ Festival statt. Nachdem es die letzten beiden Jahren pandemiebedingt ausschließlich online realisiert werden konnte, traf das Publikum im HAU 1, 2, 3 und 4 jetzt wieder auch im analogen Raum aufeinander und auf alte und neue Begleiter:innen.

Von Iven Yorick Fenker

"Chat Inferno" von Interrobang beim Festival "Spy On Me" in Berlin © Renata Cueire

8. Oktober 2022. Was passiert, wenn Realität digital wird? Oder: Was passiert, wenn Realität digital erfahren wird? Oder: Ist Realität nicht schon längst so weitreichend mit digitalen Akteur:innen, Phänomenen, Mitteln und Räumen verwoben, dass sie zwangsläufig (auch) digital ist? Aus verschiedenen Perspektiven konnte das bei der vierten Ausgabe des Festivals "Spy on Me" nachvollzogen und erlebt werden.

Das Festival künstlerischer Manöver für die digitale Gegenwart zeigt unterschiedliche, internationale Positionen, die in ihrer facettenreichen Vielfalt die Komplexität der Vernetzung von Virtualität und analogem Leben widerspiegeln, erfahrbar machen und hinterfragen. Die verschiedenen Orte des Festivals, das HAU 1, 2, 3, die analogen Bühnenräume, wurden durch digitale Räume erweitert, während das HAU 4, die seit zwei Jahren bestehende digitale Bühne, auf den analogen Raum zurückgriff.

Wechselspiel zwischen Analog- und Online-Präsenz

In der deutschen Premiere von "_jeanne_dark_" der französischen Regisseurin Marion Siéfert betritt ein Mensch die Bühne. Die Ko-Präsenz, jene Qualität, die Theater grundsätzlich auszeichnet, ist erlebbar. Gerade nach zwei Pandemiejahren, der Zeit der Live Streams, dem Surrogat der Theateraufzeichnungen, ist das wohltuend. Obgleich die Spielerin, Helena de Laurens, von Beginn an in ihr iPhone spielt, mit sich selbst, ist sie doch live: bei Instagram. Der Stream läuft dort oder man sieht hier, im HAU 2, was auf dieser weißverkleideten Guckkastenbühne passiert. @_jeanne_dark_ erzählt von ihren Struggles mit der Schule, der Familie, der katholischen Kirche – dem Zugriff dieses Außens auf ihr Leben und ihren Körper.

Es geht um die Zwänge einer jungen Frau in der von katholischen Werten geprägten Gesellschaft ihrer Heimatstadt Orléans. Dabei verweben sich Motive der französischen Nationalheldin Jeanne D'Arc mit dem Erleben im digital-analogen Aufwachsen einer jungen, weiblich gelesenen Person, die an der Hypernormativiät leidet. Die Performance ist ergreifend, das Spiel großartig, das Wechselspiel zwischen Bühnenpräsenz und der vergrößerten Projektion auf den beiden riesigen Screens in iPhone-Form links und rechts der Bühne wirkt interessant und trägt die Vorstellung durch die doch immer wieder sehr vorhersehbaren Konflikte. Viel wird hier nicht gewagt, aber konservative Gesellschaftsnormen in Frage gestellt.

Poledance für einen aufgeklappten Laptop

Das "interFACE digital pleasure center" vom Kollektiv dgtl fmnsm ist ein installativer Raum, ein Game, das die Teilnehmer:innen je nach Laune selbst gestalten können. Es geht um Lust, um Digital Pleasure. In diversen Treatments können die Erfahrungen von Digitalität reflektiert werden. Begleitet und geleitet durch ein Telegram Chat Bot geht es spielerisch durch den Raum, in dem Realität reflektiert erlebt werden kann.

In der Virtual Reality sind fallende Körperteile zu sehen, die in Fragmente zerfallen. Das ist spektakulär, die VR Brille und die Kopfhörer schirmen die Umwelt ab, in der die Teilnehmenden parallel den Raum erkunden und ihn und sich mit unterschiedlichen Mitteln wahrnehmen können. Um ein Treatment zu beginnen, reicht es aus, sich mit dem Smartphone an der jeweiligen Station einzuloggen. Die Anweisungen kommen über den Bot, der durch den Abend führt. Unter einem mit Lichterketten ausgekleideten Zelt und auf Sitzsäcken liegend, sind über Kopfhörer Personen zu hören, die von Pleasure erzählen oder Pleasure erleben. Etwas merkwürdig ist nur das Ziel dieser Erfahrung: die Horny Bell auf dem Screen zu läuten.

Luanda Casella Ferox Tempus 01 805 Michiel Devijver uLuanda Casella mit "Ferox Tempus" © Michiel Devijver

Wer sich aber darauf einlässt wird eingeladen, die Beziehungen zu den Endgeräten zu hinterfragen, durch die Realität alltäglich erfahren wird. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, einmal bewusst zu zweit Zeit mit dem eigenen Smartphone zu verbringen. Das Game ist komplex, die Live-Perfomances, die immer wieder zeitgleich stattfinden – das Wackelpuddingritual, der Poledance für einen aufgeklappten Laptop auf einem Klappstuhl – bereichern die Erfahrung, die viel Freude bereitet, teilweise jedoch theoretische Tiefe nur suggeriert.

Überwucherte Hindernisse

Die kanadische Kompanie STO Union lädt in die historischen Räume des Hebbeltheaters, dem HAU 1, ein. Das Publikum kann sich durch das Jugendstilgebäude bewegen und ist eingeladen, die (Un-)Möglichkeiten des (digitalen) Theaters im analogen Theaterraum zu erleben und zu hinterfragen. Auch hier wird Raum durch die Übertragung auf der digitalen Bühne, dem HAU 4, ergänzt. Das schafft neue Perspektiven und im besten Fall produktive Fragen.

Die Fragestellung der Berliner Gruppe doublelucky productions ist: Was kann die (digital) erweiterte Realität für die Bühne bewirken? "Staging Augmented Reality. Versuch 1" ist eine interaktive Performance, eine Einladung in ein Open Studio, den Bühnenraum des HAU 3. Dieser wird durch digitale Objekte und die digitalisierterten Avatare der Performer:innen um Christiane Kühl und Chris Kondek erweitert. Dabei wird diese Erweiterung offen in Frage gestellt. Das Publikum nimmt Teil an Versuchen, die technisch bedingt auch mal misslingen.

Was aber gelingt ist die Erkundung des Raums, in einer durch ein Tablet wahrgenommen erweiterten Realität, in der sich das Publikum frei bewegen kann. Bald geht es über überwucherte Hindernisse, verwachsene Autowracks. Es geht durch einen Wald, der dann während der Lectures der Performer:innen verschwindet, die diese Erweiterung in Frage stellen. Die Bühne wandelt sich mehrmals.

Die Vorstellung endet mit parallel ablaufenden Monologloops der Spieler:innen aus Jean-Paul Sartres "Der Ekel". Einem Text, in dem dessen Protagonist seine Umwelt in Relation zu den Dingen begreift. Die Versuche zeigen, was durch AR-Technologien möglich sein kann und was eben noch nicht funktioniert. Ein notwendiger Schritt für das Theater, das anscheinend bei Weitem noch nicht ausgeschöpft hat, was durch Technologie(n) möglich ist, sondern gerade erst beginnt Fragen zu stellen.

Digital hell, digital paradise

"Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnungen fahren!", heißt es in Dante Alighieris "Göttlicher Komödie". Erneut mit Tablet ausgestattet betritt das Publikum das HAU 2, in dem Interrobang zum "Chat Inferno" laden, das Dantes Klassiker als Motiv benutzt. Doch das digitale Höllenfeuer beginnt überraschend unspektakulär. Denn erst wenn die Teilnehmer:innen anfangen den Chat zu befeuern, beginnt es zu lodern. Inmitten des Raums steht ein raumfüllendes Quadrat, vier riesige Screens, auf denen der Verlauf zu sehen ist.

Interrobang Chat Inferno 01 805 Renata Chueire uInterrobang mit "Chat Inferno" © Renata Chueire

Das Publikum hat Pseudonyme. Die Aktivität im Chat wird geranked, die Anzahl der Beiträge wird bald zur Competition. Irgendwann glühen die Tastaturen. Was natürlich nicht stimmt und, wie sich herausstellt, werden am Ende dann doch nicht die Lautesten belohnt. Die Letzten werden hier die Ersten sein. Letztlich ist, abseits der leibhaftigen Erfahrung der Aufmerksamkeitsökonomien unterliegenden Mechanismen von Social Media, wenig durch dieses plumpe Planspiel zu erfahren. Trotzdem wirkt es als Game, das Spaß macht. Vielleicht ist es gut, sich dessen bewusst zu sein, um nicht kulturpessimistisch zu werden, sondern hoffnungsvoll zu bleiben.

Widersprüchliche Komplexität

Spy on Me #4 zeigt eindrücklich, was auf Bühnen alles möglich sein kann. Die New Companions, die neuen Begleiter:innen, sind die Alten, die Alltäglichen, bereits größtenteils die Realität bestimmenden Technologien. Zudem schafft es das gut kuratierte Festivalprogramm, technologischen Fortschritt nicht nur als gesellschaftliche Utopie zu präsentieren, sondern verankert dessen Erleben in seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität mit den Phänomenen der Gegenwart und Vergangenheit. Das, was dieses Festival schafft, sind ein erweiterter Blick und produktive Perspektiven.

 

Spy on Me #4

Festival mit James Bridle, Luanda Casella / NTGent, dgtl fmnsm, Digitales Labor #2 (ghostrich & Cylixe, Iyo Bisseck & Petja Ivanova & Rain Rose & Kaya Zakrzewska, Jascha Bernhard & Sriram Srivigneswaramoorthy), doublelucky productions, Geumhyung Jeong, Houseclub, Interrobang, onlinetheater.live, playField & KOPERGIETERY, Marion Siéfert, STO Union, Tactical Tech u.a.

www.hebbel-am-ufer.de

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