Den Kopf verdreht

16. Oktober 2022. Wenn alle Klassiker längst vergessen sind, wird man sich an die Liebestragödie um Romeo und Julia noch erinnern. Aber wirklich an alles daran? Regisseurin Pia Richter leuchtet auch in die entlegeneren Winkel des Shakespeare-Dramas und zeichnet eine große Vielfalt von Geschlechterrollen.

Von Tobias Prüwer

Shakespeares "Romeo und Julia" in der Regie von Pia Richter am Schauspiel Leipzig © Rolf Arnold

16. Oktober 2022. "Wir sind eh Cousinen", beschwichtigt Rosalinde Romeo und meint damit sich und Julia, die achselzuckend zeigt, nichts dagegen zu haben, wenn Romeo Rosalinde jetzt küsst. Romeo will eigentlich nichts mehr von Rosalinde wissen. Der Kuss löst nur peinliches Giggeln aus. Dann doch lieber Julia, meint der neu entflammte Romeo. Und die hat auch hier nichts dagegen.

Ungewöhnlich geht die bekannteste Sternstunde der Romantik am Schauspiel Leipzig über die Bühne. Pia Richter inszeniert das Stelldichein in Verona mit klugem Zugriff. Durch verschiedene Geschlechterkonstellationen und Rollenwechsel stellt sie die romantische Liebe als Ideal infrage, aber verrät den Stoff nicht.

For ever

Wie eine Diskokugel dreht sich ein riesiger Teddybärkopf über der Party. Auf dem Torso lässt der DJ Platten kreiseln, während unten zu harten Beats der Maskenball der Capulets tobt. Gleich wird Romeo Julias Blicke treffen – oder umgekehrt, verdreht einer der anderen den Kopf. For ever. Dann wird der Eindringling verjagt, denn er gehört der falschen Familie an. Eine gute Stunde später ist Romeo für immer gegangen. Richter bleibt dicht an der Originalhandlung der Tragödie, gönnt sich aber reichlich Interpretationsspielraum. Dabei ist sie teilweise sogar texttreuer als mancher den Stoff in Erinnerung haben dürfte, wenn sie etwa Romeos unglückliche Liebe zu Julias Cousine Rosalinde ausführlich ausspielen lässt. Denn nur wegen dieser ist er überhaupt auf dem für ihn verbotenen Maskenball.

Dieser Part fällt in vielen Inszenierungen flach, weil nicht sein kann, dass Julia quasi zweite Wahl ist. Das steht dem verbreiteten Bild romantischer Liebe entgegen. In Baz Luhrmanns Film mit Leonardo DiCaprio, der die Vorstellung einer ganzen Generation geprägt hat, wird diese Episode natürlich auch nicht erzählt.

RomeoJulia2 Rolf Arnold uIm Diskohimmel: Paulina Bittner und Patrick Isermeyer © Rolf Arnold

Regisseurin Richter verfolgt die Grundsatzfrage, welche Wirkungen dieses Schlüsselpaar der popkulturellen Bilderbuchliebe entfaltet. Dafür wechseln die Schauspielenden – vier Frauen, drei Männer – durchweg die Rollen. Dadurch wird insbesondere das Traumpaar zum Schillern gebracht, wenn mal Männlein, mal Weiblein sie spielen und auch die Vorstellung einer rein heterosexuellen Beziehung gesprengt wird.

Mehr Kitsch geht nicht

Auch verschiedene Körpertypen werden so zum Ziel der Begierde. Das ermöglicht zugleich schnelles Spiel und flotte Übergänge. Regieanweisungen werden einfach angesagt, dann losgelegt. Das originelle Bühnenbild von Julia Nussbaumer bietet sich zum Spiel einfach an.

Einzig ein raumfüllender pinkfarbener Teddybär steht in der Mitte und symbolisiert: Mehr Kitsch geht nicht. Auf ihm klettern die Darstellenden umher, steigen durch ihn hindurch. Später wird ihm der Kopf verdreht und am Bühnenrand als Gruftwand abgelegt. Dabei entstehen auch witzige Bilder, zum Beispiel wenn Romeo bei der Balkonszene erst hilflos in der Luft hängt, sich dann hoch oben ans Ohr des Bären krallt.

Rolle rein, Rolle raus

Kleine Fremdtexte und wiederkehrendes Aus-der-Rolle-Fallen reichern den Abend mit Reflexionen über die Liebe und das Pärchenleben an. Eine Spielerin meint etwa, dass arrangierte Ehen Umfragen zufolge glücklicher seien als Liebesheiraten. "Ich will im Alter mit dir Beige tragen", lautet ein Liebesschwur.

Rolle rein, Rolle raus: Dieses charmante Spiel gelingt allen sehr gut. Patrick Isermeyer gibt seinem Romeo Spuren von überdrehtem Schmachten mit, das man aus Highschool-Filmen kennt. Kurz flammt seine Mimik entsprechend auf, wird seine Stimme schrill.

Teresa Schergaut darf Rosalinde zur Sprache bringen, die bei Shakespeare keinen Text hat: Sie sucht sich im Publikum in herrlich herausgestellter Pausbäckigkeit einen Freund. Dirk Lange, der als Rampensau sowieso begeistert, findet auch ganz leise Töne. Anne Cathrin Buhtz nähert sich einer Zuschauerin mit intimem Blick und zärtlicher Stimme, als sich Romeos und Julias Blicke erstmalig treffen. Diese Kernszene auf das Publikum zu wenden, es darauf zu projizieren, ist der stärkste Moment der Inszenierung, die Romeo und Julia als Idealpärchen romanischen Kopfverdrehens nicht auslöscht, es aber um Möglichkeiten erweitert.

Romeo und Julia
von William Shakespeare
Aus dem Englischen von Sven-Eric Bechtolf und Wolfgang Wiens
Regie: Pia Richter, Bühne und Kostüme: Julia Nussbaumer, Musik: Friederike Bernhardt, Johannes Cotta, Licht: Ralf Riechert, Dramaturgie: Marleen Ilg.
Mit: Paulina Bittner, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Patrick Isermeyer, Roman Kanonik, Dirk Lange, Teresa Schergaut.
Premiere am 15. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de


Kritikenrundschau

"Abgesehen davon, dass Shakespeare nichts weniger interessierte, als Rollenvorbilder zu kreieren und soziologische Ideen von Liebe zu erörtern, muss man sagen, dass die Sache mit den vielen Romeos und Julias bestens aufgeht", schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (17. Oktober 2022). "Nämlich als gekonnt flüssig inszeniertes Bäum-chen-wechsle-dich-Spiel der Erscheinungsbilder, Gesten und Tonlagen, die in ihrer Verschiedenheit vor allem erst mal eines zeigen: Welchen Facettenreichtum diese beiden Figuren bieten." In den "richtigen, den wichtigen Momenten" vertraue die Inszenierung zudem Shakespeares Text, lasse ihn "atmen, wirken, zirkulieren", lobt Georgi, "wozu die schwebende Musik Friederike Bernhardts und Johannes Cottas das ihre tut."

Kommentare  
Romeo und Julia, Leipzig: An Jugendlichen vorbei
Ich teile die Sicht von Tobias Prüwer auf diesen Abend nicht.
Im Gegenteil: ich habe einen Abend gesehen, der sich feige dem ursprünglichen Text des Shakespeare Dramas verweigert. Ein Abend, der zum wiederholten und inzwischen inflationären Mal beliebig die Geschlechter wechselt, ohne dafür einen erkennbaren Mehrwert zur Neuinterpretation beizutragen. Ein Abend, der Effekte in den Vordergrund stellt statt Schauspieler. Ein Abend, der vielleicht innerhalb der üblichen Theaterblase funktionieren kann, jedoch vollkommen an der Realität (Jugendliche von heute empfinden Leonardo DiCaprio als alten Mann und haben noch nie etwas von dem Film gehört) und dem Gefühlsleben junger Menschen vorbeischraddelt. Dank Netflix & Co. möchten diese nämlich durchaus Geschichten sehen und haben den Glauben an die wahre Liebe noch nicht verloren. Nur die Theaterbühne verweigert ihnen diese Geschichten.
Mir tun schon jetzt all die Lehrerinnen und Lehrer leid, die mit ihren Schülern in diese Aufführung gehen. Und zwar nicht, weil die Aufführung modern ist (das ist ganz großartig). Die Musik war phantastisch und man hätte durchaus viel mit dem großen rosa Teddy erzählen können, sondern weil der Abend sich so feige Gefühlen und Geschichten entzieht und dadurch die Liebesgeschichte von Romeo und Julia nicht auf weg in Erinnerung bleibt.
Romeo und Julia, Leipzig: Mut zur Haltung
@ Lehrerin. Ich finde ihren Beitrag sehr berechtigt. «Ein Abend, der sich feige dem ursprünglichen Text des Shakespeare Dramas verweigert...» - Das ist doch mal ein bemerkenswertes Wording, von dem ich mir wünsche, dass es Eingang in Diskussionen über den Umgang mit (klassischen) Texten findet. Hinter Formalismen, eitlen Effekten und verrätseltem Bildergedöns kann man sich nämlich prima verstecken. Die Arbeit am Text und an konkreten Haltungen braucht Mut.
Romeo und Julia, Leipzig: Bitte subtilere Sprech- und Lichtregie
Die Kritik (#1, 2) der Kritik (T. Prüwer) zielt auf die richtigen Punkte. Was stört, sind zudem einige technische Probleme:
- Stimmführung: Die Regie schafft es - mal wieder - in diesem Theater nicht, hinreichend deutliches Sprechen zu erreichen. Die außersprachlichen Effekte machen das Manko nicht wett. Klar, die Regie kennt ja den Text, aber sie sollte sich auch einmal mehr in die Position des Zuschauers/Zuhörers versetzen. Die englischen Übertitel waren im Grunde zwar hilfreich, jedoch in den vorderen Reihen zu schwach erkennbar.
- Lichtregie, Verwendung von LED-Blindern: Der Einsatz der grellen LED-Blitze in Richtung Publikum hat sich in diesem Theater zu einer Unsitte entwickelt. Er ist dysfunktional, denn derart unangenehm in die im Halbdunkel des Zuschauerraums erweiterten Pupillen treffend, dass man die Augen schließt und die betreffende Szene optisch verliert. Falls es ein V-Effekt sein sollte, ging er daneben. (Gesund dürfte das sowieso nicht sein. Wäre interessant, mal einen Augenarzt dazu zu hören.)
Also bitte subtilere Sprech- und Lichtregie.
Romeo und Julia, Leipzig: Bestform
Ich war heute in der Aufführung und rundweg begeistert. Die kurze Vorbesprechung durch die Dramaturgieassistenz hat sehr wohltuend und kenntnisreich auf die Inszenierung hin geleitet. Die Thematik des Originalstückes (was ist das Original?) wurde meiner Meinung nach voll und ganz erfasst und vermittelt. Die Erweiterung in viele Aspekte des heutigen Lebens von jungen Menschen, die über Liebe und Beziehung und Heirat und so weiter nachdenken, ist oft auf komische aber immer ernsthafte Art und Weise gelungen. Wohl kann man nicht in jeder einzelnen Formulierung den ganz großen Wurf sehen, aber wer verlangt das schon. Ein schönes Beispiel ist meines Erachtens die schier endlose Aufzählung der Anforderungen an einen guten Ehemann.
Auch ich fand manche Passagen schwer verständlich und habe dann einfach die englische Übertragung mit gelesen. Dies was war sicherlich ein Manko. Hier mal die Musik etwas leiser zu drehen, ist nicht allzu schwer.
Ich kann diese Inszenierung einem aufgeschlossen Publikum nur empfehlen. Ich freue mich auf weitere Stücke in diesem Haus.
Kommentar schreiben