Der Nazi flüstert mit Pferden

18. Oktober 2022. "Ein Musical, wie Wien es noch nicht gesehen hat", versprach Johannes Schrettle. Gemeinsam mit Imre Lichtenberger Bozoki erzählt er die Geschichte einer linken Aussteigerin, die in einem rechtsradikalen Gewalttäter ihren Retter entdeckt.

Von Gabi Hift

"Horses" am Werk X Wien © Apollonia Theresa Bitzan

18. Oktober 2022. "Che Guevara", ein Pferd, das früher Prinz Eugen hieß, soll zum Guru und Heilsbringer in einer Therapieeinrichtung für ausgebrannte Führungskräfte werden. Das ist das Projekt mit dem Birgit, Thailandheimkehrerin in mittleren Jahren, etwas zur Weltverbesserung beitragen will. Von ihrem eben verstorbenen Nazivater hat sie einen großen Hof samt Pferden geerbt, das "Gut Mensch" im Kärntner Kaff Nassing. Mit ihren Jugendfreunden aus Punkzeiten, Sabine und Walter, will Birgit was auf die Beine stellen, das sie vom Teil des Problems zum Teil der Lösung machen soll. Geflüchtete und Exjunkies will sie einstellen, um sie so aufs wunderbarste zu integrieren. Aber da befällt das Pferd eine unerklärliche Krankheit und alles droht zu scheitern.

Mitten in der Nacht erscheint ein junger Mann auf dem Gut und Birgit sieht in ihm den Retter – einen Pferdeflüsterer, den ihr das Universum schickt. In Wirklichkeit ist dieser junge Mann aber auf der Flucht vor der Polizei. Er hat einen Mann überfahren und das Opfer in Panik in den Kofferraum seines Autos gestopft. Er ist rechtsextrem, verachtet linke Esoteriker und hat noch nie ein lebendes Pferd gesehen, aber es bleibt ihm nichts übrig als mitzuspielen.

Durch den Kakao gezogen

"Ein Musical, wie Wien es noch nicht gesehen hat" – damit hat der Autor Johannes Schrettle nicht zuviel versprochen. Diese Geschichte ist so ziemlich die unpassendste, die man sich für ein Musical vorstellen kann. Flüchtlingskrise; Rechtsextremismus; Burn out; Terrorismus; ehemals harmlose Esoteriker, die zu besessenen Verschwörungstheoretikern mutieren; nationalistische Bürgermeister; Heimat; Drogenhandel; linke Töchter, die von ihren Nazivätern riesige Besitztümer erben: darf man das alles singend durch den Kakao ziehen? Und kann und sollte man da drüber lachen? Heutzutage?

Natürlich ist es gerade der Witz daran, dass das alles scheinbar gar nicht funktionieren kann. Nicht soll. Und es teilweise auch nicht tut. In einem Musical erwartet man große, eindeutige Gefühle, Emphase. Doch an diesem Abend im Wiener Werk X sind alle "typische Österreicher": nicht geneigt zum großen Drama, sondern eher zu kleinen Schimpfereien. Selten tief ergriffen, meistens eher faul, in der Arbeit wie im Gefühl.

Auszug aus "Moment wie ein Klischee. Wetterumschwung" © Martin Hemmer 

Dann erwartet man sich in einem Musical eine üppige Ausstattung, davon hier keine Spur. In Nassing wäre Glamour ohnehin deplatziert. Es gibt nur einen Bretterverschlag mit Schwingtür und ein paar Strohballen am Bühnenrand, auf denen die Musiker sitzen. Das einzige für die Handlung wichtige Requisit ist der Kofferraum des Unfallwagens des unseligen rechten Schnösels (mit jungenhaftem Charme und viel Schmelz in der Stimme: Ivan Vlatković). Das Auto gibt es nicht, stattdessen trägt René auf der Flucht einen Koffer mit sich, auf dem in Großbuchstaben "RAUM" draufsteht. Martin Hemmer wiederum genügen zum Pferd-Sein ein fransiger Haarwedel als Mähne und Gamaschen als Hufe. Auch seine Darstellung ist minimalistisch: ein gelegentliches "Brrrr" und ein kleines Scharren mit dem Huf.

Hörbar große Freude 

Während also vieles – die abstruse Handlung, die schlichte Ausstattung und der österreichische Schmäh mit seiner unterspannten Grundhaltung – zum Genre Musical quer liegt und es unterminiert, ist die Musik auf allerhöchster Höhe. Hier haben sich die Lokalmatadore der österreichischen (Theater-)Musikerszene zusammengetan, die in den verschiedensten Konstellationen schon seit Jahren zusammenarbeiten und das mit hörbar großer Freude.

Für die Komposition sind gemeinsam verantwortlich: Imre Lichtenberger Bozoki, Regisseur und Star an der Trompete; Georg Breinschmid, einer von Wiens besten Kontrabassisten, der hier ganz nebenbei auch noch schauspielt – er gibt den Verschwörungstheoretiker Walter, der seine Freundin Sabine mit seiner unerträglich sanften Machomasche zur Verzweiflung treibt; Martin Hemmer, das Pferd, kann nicht nur komponieren und singen, er spielt auch Gitarre und Klavier und Moritz Wallmüller am Mischpult.

HORSES8.1000.ApolloniaTheresaBitzanSie erzählen einen vom Pferd © Apollonia Theresa Bitzan

Dazu kommen Rebekka Rennert am Cello, Jörg Haberl am Schlagzeug, und Barbara Kramer, Darstellerin der mysteriösen Küchenhilfe, an der Geige. Sie alle spielen und singen die unterschiedlichsten Nummern, von der Country Polka zum Choral, vom zuckrigen Schlager zum Punkrock, Balkan Pop und Wienerlied, Swing und Liebesschnulzenpop. Claudia Kottal und Suse Lichtenberger als Sabine und Birgit lassen ihren Punkröhren freien Lauf, wenn sie singen, dass sie niemals Musical machen wollten: "Ich spiel in Pornos mit, wenns nötig ist und sauge Schwänze / 
aber ein Musical ist für mich eindeutig über der Grenze. / Ich geh zur ÖVP oder ins Dschungelcamp / Ich fresse lieber Wanzen / als im musical wie eine Pappfigur zu tanzen".

Aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Der nationalistische Bürgermeister will keine "Giftler und Terroristen" in Nassing dulden. Er hat einen anderen Plan für die Verwertung des Guts: ein Großmusical über die Heimat muss her, mit dem Pferd in der Hauptrolle.

Albtraum Musical

Hier ist man mit einem postmodernen Schlenker schwupps direkt in dem Stück, das man gerade sieht. Die Figuren waren in ihrer Jugend Revoluzzer und wären es gern immer noch, wissen aber nicht mehr, wie das heute ausschauen soll. Genau wie vermutlich viele von denen, die an dem Stück mitgearbeitet haben. Genau wie viele von uns Zuschauer:innen. Sie wollten nie in einem Musical spielen, während wir nie in eins gehen wollten, schon gar nicht in eins, dass uns zum liebevollen Lachen über unsere österreichische Heimat mit ihren lustigen Nationalisten und Rechtsextremen und ihren planlosen, lebenslügenden Linken bringt.

Da sind wir nun. Das Ganze zündet streckenweise, dann geht der Funke wieder aus und es brizzelt nur noch. Es ist eben auch viel zu ironisch für ein großes Feuerwerk, näher verwandt mit dem "Weißen Rössl" als mit einem "echten" Musical. Und es ist ja auch sehr nass in Nassing.

Erst bei der Zugabe, bei der alle zusammen singen, als säßen sie ums Lagerfeuer – "Nassing, du bist so grauslich!" aber dann, nach zwei Uhr nachts: "Nassing, du bist schon schön!" – da gehen dann doch ein paar Herzen auf und es wird gejubelt. Und dass man sich fragt, ob das jetzt schon altersreaktionärer Patriotismus ist oder noch postmodern, ist ein Teil vom Spaß.

 

 

Horses
von Johannes Schrettle und Imre Lichtenberger Bozoki
Inszenierung: Imre Lichtenberger Bozoki; Buch & Songtexte: Johannes Schrettle; Komposition: Georg Breinschmid, Martin Hemmer, Imre Lichtenberger Bozoki, Moritz Wallmüller; Bühne: Nanna Neudeck; Kostüm: Aleksandra Kica; Choreografie: Sanja Tropp Frühwald; Dramaturgie: Veronika Maurer; Outside Eye: Sara Ostertag; Licht: Tom Barcal.
Mit: Claudia Kottal, Barbara Kramer, Suse Lichtenberger, Rebekka Rennert, Georg Breinschmid, Jörg Haberl, Martin Hemmer, Imre Lichtenberger Bozoki, Christian Strasser, Ivan Vlatković, Moritz Wallmüller.
Premiere am 17. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause

werk-x.at

Kritikenrundschau

Im Falter (19.10.2022) vermutet Martin Pesl, dass die Pandemie vorbei sein müsse. "Nur so lässt sich erklären, dass 'Horses - Das Musical' tatsächlich stattfindet." "Horses" schaffe es, Musical und Anti-Musical gleichzeitig zu sein, meint der Kritiker. "Die Songs, ehrlich rasant oder ironisch schnulzig, treiben die Handlung voran, die Reime sind sauber, unpeinlich und witzig". Dieser Abend ist für den Rezensenten "ein einziges Aufatmen".

Thomas Trenkler schreibt im Kurier (18.10.2022, €): "Bei den Vereinigten Bühnen Wien, subventioniert mit Abermillionen, sinniert man jahrelang über ein neues Musical – um dann erst recht wieder auf angloamerikanische Mainstream-Produktionen [...] zurückzugreifen. Wie man es auch machen kann, zeige hier eine bunt zusammengewürfelte Truppe mit einem anfänglichen Budget von nur 40.000 Euro. "Mit minimalistischer Ausstattung, aber einer Fülle an Ideen – der Ausritt von Martin Hemmer (als Pferd in Galoschen) und Suse Lichtenberger (als Birgit) wird im Galopp gesteppt – gelingt ein wunderbar leichter Abend." Ivan Vlatković tanze um sein Leben, Claudia Kottal begeistere als Rockröhre, Barbara Kramer erheitere als verdeckte Ermittlerin und Christian Strasser als Wittgenstein zitierender Politiker.

Kritikerin Andrea Heinz urteilt im Standard (19.10.2022): "Die Fassung tariert perfekt Banalitäten ('Tote Pferde rennen nicht mehr weiter') und vor Assoziationen schillernde Wortspiele aus. Das "durchwegs großartige Ensemble" scheine vor Spielfreude beinah zu platzen – "und kann das in einer Inszenierung, die aus einem Ausritt einen Steppschuhtanz macht, voll ausleben." Der Abend gibt für Heinz eine "große Empfehlung" her.

 

 

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