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Anklamer Ex-Intendant Wolfgang Bordel verstorben

29. Oktober 2022. Der ehemalige langjährige Intendant der Vorpommerschen Landesbühne in Anklam, Wolfgang Bordel, ist verstorben. Das meldet unter anderem die Ostsee-Zeitung. Bordel starb am Freitag im Alter von 71 Jahren.

Bordel wurde 1951 in Halle geboren, er absolvierte eine Lehre als Lokomotivschlosser und eine Berufsausbildung mit Abitur als Triebfahrzeug-Elektriker, studierte ab 1970 Physik in Rostock und anschließend Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Nach Arbeit mit freien Theatergruppen wurde er 1983 Leiter des Anklamer Theater, an dem zu dem Zeitpunkt auch Frank Castof inszenierte.

Bordel leitete 36 Jahre lang, bis 2019, die Landesbühne in Anklam, zu der Spielstätten in Barth und Zinnowitz und mehrere Open Air Bühnen in den Usedomer Bädern Zinnowitz und Heringsdorf gehören. Ab 2011 war er auch Schauspieldirektor der Theater- und Orchester GmbH Neubrandenburg / Neustrelitz. Bordel gründete in Zinnowitz die Vineta-Festspiele, die Barther Boddenbühne, das Theaterzelt Cheapau Rouge und die Blechbüchse in Zinnowitz. Mit den Sommer-Bespielungen erzielte das Theater das Gros seiner Einnahmen. 2020 wurde er für sein Schaffen mit dem Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern ausgezeichnet.

(ostsee-zeitung.de / sik)

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Wolfgang Bordel: Statt eines Nachrufs
Wolfgang Bordel hat es verdient, ausführlich gewürdigt zu werden. Ein Theaternarr war er, stets voller Energie. Ihn auf die Castorf-Episode im Anklam er 80er Jahre zu reduzieren, würde ihm wahrlich nicht gerecht. Daher hier ein Text, den ich vor vielen Jahren über ihn und seine Theateridee für die Zeitschrift "Das Magazin" schrieb.

Wir wollen Sonne
Von Matthias Schmidt

Wenn man aus dem Anklamer Bahnhof kommt, ein paar Meter geradeaus geht und dann einmal rechts abbiegt, landet man im Rotlichtviertel der vorpommerschen Kleinstadt. Es besteht aus einem Massagestudio. Betrieben wird es seit einem reichlichen Jahr von Susann Weinholz, einer gelernten Verkäuferin. Es ist ihr zweiter Anlauf als Unternehmerin – ihren ersten, ein Tattoo-Studio, beendete sie aus Mangel an Kundschaft. »Irgend jemand muß doch bißchen Farbe in die graue Stadt bringen«, sagt Susann Weinholz, »und wenn es nur Rotlicht ist.« Um 19.00 Uhr schließt das Studio. Später kommt keine Kundschaft mehr, da machen die Super- und Baumärkte zu. »Die meisten Männer, die unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen«, weiß die
Inhaberin, »besuchen uns tagsüber. Ihren Frauen sagen sie, daß sie dringend zum Baumarkt müssen.« So ist das mit dem Nachtleben in Anklam. So ist das mit Anklam.

Daß die Stadt über ein Theater mit eigenem Ensemble verfügt, dürfte außerhalb der Region weitgehend unbekannt sein. Das überregionale Feuilleton interessiert sich, wenn überhaupt, aus anderen Gründen für Orte wie Anklam. »Selbst der Bürgermeister will weg«, so titelte »Die Zeit« im letzten Jahr. Die Stadt hat ihren Ruf, und es ist keiner, der nach Kultur klingt oder scharenweise Besucher anlockt. Der berühmteste Sohn der Stadt ist Otto Lilienthal. Er ist seit über 100 Jahren tot und wollte das Fliegen lernen.

Die meisten, die nach Anklam kommen, sind Durchreisende. Wollen auf die Insel Usedom, in die ehemaligen Kaiserbäder Heringsdorf und Ahlbeck, dahin, wo die Luft nach Urlaub riecht und die neue Zeit den Fassaden neue Farben gegeben hat. In Anklam ankommen und bleiben, ist eine andere Geschichte. In Anklam Theaterdirektor sein, eine ganz andere. Wolfgang Bordel ist seit mehr als zwanzig Jahren Intendant in Anklam. Auf den Sitzungen des Deutschen Bühnenvereins wird er mit Verwunderung begrüßt – es gibt euch also immer noch!? Bordel wiederum wundert sich auch: »Dort wird so getan, als ob dieses Tankschiff Theater noch ewig weiterfahren wird. Dabei fährt es glasklar auf die Riffe zu! Aber man hat ein Glas Whisky in der Hand, steht auf der Brücke und guckt geradeaus.« Er macht keinen Hehl daraus, daß er mit der großen, weiten Theaterwelt wenig am Hut hat. Und daß es für das Überleben seines Theaters keine Rolle spielt, ob ein Kritiker aus Frankfurt am Main oder Hamburg zu seinen Premieren kommt. Kommt ja auch keiner! Bordel strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, die suggeriert, sein Theater habe keine Probleme.

Hat es aber. Doch er spricht nicht gern darüber, sondern viel lieber davon, daß er noch mehr Theater in dieser Mischung aus Sozialarbeit und Wirtschaftsfaktor machen will. »Wenn die Leute nur ein Bett in Strandnähe brauchen, dann können sie auch nach Polen fahren. Wir müssen ihnen mehr bieten!« Was er damit meint, sind Theaterereignisse, sind Events für die Einheimischen und für die Touristen. Wobei Bordel selbst nun nicht das Bild abgibt, das man sich von einem typischen Eventmanager machen würde; eher trifft das zu, was über ihn geschrieben wurde:
Bordel sieht aus wie der letzte Althippie der Ostseeküste.

Wolfgang Bordel ist 1978 in Anklam angekommen. Zusammen mit ein paar Freunden war er auf der Suche nach einem Bauernhaus. In der Nähe von Anklam wurden sie fündig – Dr. Wolfgang Bordel und Freunde, so lautet bis heute der Eintrag im Telefonbuch. Der studierte Physiker beschäftigte sich damals an der Berliner Akademie der Wissenschaften mit der mathematischen Modellierung von Wissenschaftsprozessen. Was immer das ist – fortan erforschte er es in der Nähe von Anklam. »Wenn wir zum Beispiel herausgefunden hätten, daß auffallend viele Nobelpreisträger für Physik mit einer rothaarigen Frau verheiratet sind, dann hätte man ja als Physiker was tun können, um seine Chancen zu verbessern.« Seine eigentliche Leidenschaft aber war das Theater.

Bereits in der Lehre zum Lokschlosser spielte er am Arbeitertheater seiner Heimatstadt Halle. Weil er gehört habe, daß dort jede Menge schöne Frauen mitmachen. In Rostock, wo er studierte, leitete er das Studententheater. Und in Berlin, wo er anschließend zum Thema »Philosophische Fragen der Naturwissenschaften« promovierte, gründete er das Arbeiter- und Studententheater »AST«. Der »Arbeiter« war er. Seit 1983 ist Bordel Intendant des Anklamer Theaters. Damals war er der jüngste in der DDR, heute ist er der dienstälteste der Bundesrepublik. Er sei seinerzeit von der Partei eingesetzt worden, um den rebellischen Frank Castorf zu vertreiben, munkelt man in der Theaterszene. Castorfs Arbeiten zu Beginn der 80er Jahre verdankt Anklam jede Menge Legenden und eine kurze Phase regen und prominenten Publikumsverkehrs aus Berlin.

Henry Hübchen kam und saß im Parkett, Klaus Gysi, Gregor Gysis Vater und Staatssekretär für Kirchenfragen, war dabei, weil seine Tochter Gabriele mit Castorf liiert war. Gregor Gysi war Castorfs Anwalt und in Anklam ausdauernder Kantinengast. »Das war damals eine irre Mischung«, sagt Gysi heute, »auf der einen Seite das Anklamer Publikum – die Frauen kamen in Brokatkleidern zu den Premieren – und auf der anderen die Berliner Szene.« Castorf und seine Schauspieler zogen schließlich weiter nach Karl-Marx-Stadt und ließen eine beachtliche Zahl verschreckter Theaterzuschauer zurück. Das Haus litt unter der Avantgarde, und Bordel, der sich rückblickend als »dilettierender Intendant mit Volkstheaterverständnis« beschreibt, stand vor der Aufgabe, das zu ändern. Was ihm schnell gelang, mit lustigen Stücken wie »Ein irrer Duft von frischem Heu« und – ausgerechnet – »Die Preußen kommen!«.

Der Kampf um das Überleben dieses Theaters begann schon bald. Es brauchte keine Kenntnisse in »mathematischer Modellierung«, um sich nach der Wende auszurechnen, daß Anklam mit seinen 20 000 Einwohnern nach bundesdeutschem Maßstab zu klein für ein eigenes Theater ist. Selbst der Deutsche Bühnenverein prophezeite das Ende. Bordels Reaktion: »Dann müssen wir eben den bundesdeutschen Standard ändern!« Heute hat Anklam noch 15 000 Einwohner und mehr Theater als je zuvor. Die Vorpommersche Landesbühne Anklam breitet sich aus wie ein Virus. In Heringsdorf hat Bordel 1993 ein Theaterzelt errichtet, das »Chapeau Rouge«. Statt im Sommer, wie es für gewöhnlich alle Theater machen, eine Spielpause einzulegen, spielen die Anklamer dort, wo ihre Zuschauer sind. Sie reisen den Durchgereisten nach. »Ohne den Sommer hätten wir gar keine Chance«, sagt Bordel. Wenn es mal ein paar Tage regnet, dann plakatieren seine Leute die halbe Küste mit der Losung »Wir wollen Sonne!« zu.

Den nächsten und wohl wichtigsten Coup landeten die Anklamer im Ostseebad Zinnowitz. Auf Usedom hat jedes Dorf einen Laden oder einen Gasthof oder irgend etwas, das »Vineta« heißt, und da baute Bordel 1997 die Vineta-Freilichtbühne, auf der jeden Sommer ein neues Spektakel rund um die sagenumwobene Stadt Vineta aufgeführt wird. Die immer neuen Vineta-Stücke schreibt und inszeniert er selbst. »Wenn ich sehe, auf welch hohem Niveau, auch finanziell, allerorten geklagt und eine regelrechte Untergangsstimmung erzeugt wird, dann erinnert mich das doch sehr an Vineta.« Alljährlich kommen Zehntausende Besucher zur Zinnowitzer Freilichtbühne, um zu sehen, was sie doch schon wissen: daß die reiche Stadt Vineta untergeht, weil ihre Bewohner unersättlich geworden sind. Am Ende jeder Aufführung stehen die Schauspieler gemeinsam mit Zinnowitzer Bürgern und Jugendlichen aus der ganzen Region Hand in Hand am Bühnenrand und singen auch ihre eigene Auferstehung herbei. Es ist wie ein kleines »Band Aid«-Konzert: mit viel Pathos, Wunderkerzen und einer Hymne, die viel zu lange im Ohr bleibt.

Theater als Wir-Gefühl. »Hier ist nicht so sehr das die Kunst, was auf der Bühne stattfindet, hier besteht die Kunst darin, das Theater am Leben zu erhalten«, so beschreibt es Schauspieler Sten Mitteis. Aus der verfallenden alten Wäscherei von Zinnowitz hat Bordel die »Theaterakademie Vorpommern« gemacht. Jedes Jahr werden in dem rosarot gestrichenen Gebäude zehn Schauspieler ausgebildet. Ganz uneigennützig ist die Idee, die dem großen Max Reinhardt abgeschaut ist, natürlich nicht. Die Studenten stehen als Gegenleistung dafür, daß ihre Ausbildung kostenfrei ist, beinahe von Anfang an mit auf der Bühne. Ihr viertes Studienjahr ist zugleich ihre erste komplette Spielzeit als Schauspieler. Bordels Idee setzt um, was überall sonst längst Alltag ist: Auszubildende ergänzen kostengünstig das mittlerweile auf ein Minimum geschrumpfte Ensemble des Anklamer Theaters. Die Studenten, deren erster Jahrgang 2004 die Akademie verlassen hat, pflegt Bordel wie seine Kinder.
Wenn es darum geht, sie an den Bühnen des Landes unterzubringen, dann setzt er sich mit ihnen ins Auto und bringt sie zum Vorsprechen nach Marburg oder sonst wohin. »Er ist wie ein Vater«, sagt Anna Hopperdietz, eine der ersten Absolventinnen der Akademie. »Man hat zwar großen Respekt vor ihm, weil er ja der Intendant ist, aber manchmal möchte man ihn einfach knuddeln.«

Im Sommer verbringt Bordel die meiste Zeit in seinem Dienstwagen, einem von Sponsoren bezahlten Kleintransporter, den er sich zu einem rollenden Büro ausbauen lassen hat. Im Laderaum stehen ein Schreibtisch und ein Bett (»Das Lotterbett des Intendanten! Wenn es nur so wäre!«). Wird es nachts nach den Beleuchtungsproben in Zinnowitz oder Heringsdorf spät, schläft er im Auto. Und wenn er Glück hat, bringen ihm die Schauspielstudenten früh, wenn sie zur Probe kommen, frische Brötchen und Kaffee. 50 000 Kilometer fährt er sich und seinen Transporter jedes Jahr durchs Land, ein Theatervertreter im Filialgeschäft. Wer sich einmal durch den Ostseesommer gestaut hat, weiß, daß daraus nur wenig Fahrvergnügen zu ziehen ist. Schon gar nicht in einem Kleintransporter. Wolfgang Bordels Rücken nimmt ihm das Leben auf der Straße mittlerweile übel. Seiner Seele tut es wohl, sagt er. »Es sind die Stunden, in denen ich ungestört denken kann.« Manchmal, sagt Bordel, wird er von früheren Bekannten fast mitleidig gefragt: »Na, bist du immer noch in Anklam?« Er antwortet dann: »Wenn man nicht irgendwohin geht, um berühmt zu werden, dann muß man eben das berühmt machen, wo man ist.«
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