Komödie mit Selbstmord

30. Oktober 2022. Anton Tschechows erstes Stück bekommt in Karlsruhe eine Titelheldin und wird überhaupt mehr dekonstruiert als inszeniert. Es ergeben sich hübsche Tableaus und Unstimmigkeiten.

Von Thomas Rothschild

"Anna Iwanowa" in der Regie von Anna Bergmann in Karlsruhe © Thorsten Wulff

30. Oktober 2022. In Anton Tschechows "Iwanow" gibt es eine zentrale Stelle, die bis heute, zumal in Deutschland, das Blut in den Adern gerinnen lässt. Der Titel-Antiheld verliert seine Nerven und rüffelt seine todkranke Frau, in der Übersetzung von Peter Urban, mit den Worten: "Schweig, Judenweib!" In einer neueren Übersetzung brüllt Iwanow: "Halt deine Judenklappe." Und bei Thomas Brasch, dessen Übertragung der Karlsruher Aufführung zugrunde gelegt wurde, heißt es: "Halt dein Maul, du Judenschlampe." Gleich darauf offenbart Iwanow Anna, dass sie bald sterben wird.

Komplexe Beleidigung

Die Szene bringt die beiden No-Gos unserer Gegenwart zusammen: den Antisemitismus und die Misogynie. Das macht freilich Tschechow weder zum Antisemiten, noch zum Frauenfeind. Im Gegenteil. Iwanow ist kein Bösewicht, aber mit Sicherheit auch kein Sympathieträger. Indem der Autor die verächtliche Seite seiner Figur zeigt, prangert er sie an. Wenn man Unflätigkeiten wie diese zensiert, begibt man sich der Möglichkeit, das Kritikwürdige zu bekämpfen. Ein Theater, das die Demonstration von Antisemitismus oder Frauenhass (oder Rassismus, oder Homophobie usw.) untersagt, tut, als gäbe es sie nicht und begünstigt so in letzter Konsequenz ihr Überleben. Wie will man ächten, was man nicht mehr benennen darf?

Bei Anna Bergmann hat die Szene eine irritierende Form angenommen. Nicht Iwanow beschimpft und erniedrigt seine Frau, sondern diese schreit ihn an: "Halt dein Maul, du Jude." Als hätte er die F-Skala vorausgeahnt, hat Tschechow Antisemitismus und Frauenverachtung mit einander verknüpft. Wenn nicht mehr ein Mann seine Frau, sondern eine Frau ihren Mann antisemitisch beleidigt, geht diese Verknüpfung flöten. Ist das ein Gewinn? Zudem führt die neutrale Bezeichnung "Jude" in die Irre. Das Wort, das Tschechow im Original verwendet – židovka anstelle von evrejka –, ist unmissverständlich abwertend. "Saujud" käme ihm näher.

Laut Homepage des Karlsruher Theaters wirft die einschlägig engagierte Schauspieldirektorin "einen neuen Blick auf Tschechows erstes Theaterstück Iwanow und erzählt aus der Perspektive der in dieser Inszenierung weiblichen Titelfigur". Die Perspektive der Jüdin interessiert sie nicht. Aufs Geschlecht kommt es an, wie auch das T-Shirt bei der Schlussverbeugung verkündet. Soviel zur deutschen Befindlichkeit im Jahr 2022. Es ist ja auch in den 77 Jahren seit 1945 noch keine Theaterdirektorin und kein Theaterdirektor auf die Idee gekommen, eine Spielzeit lang ausschließlich jüdische Regisseur*innen, die den Holocaust überlebt haben, inszenieren zu lassen.

Kritikwürdige Titelheldin

Anna Bergmann tauscht das Geschlecht der Figuren aus. Und so wird aus Iwanow eine Anna Iwanowa und aus dieser ein Nikolai Alexejewitsch lwanow. Bei Sascha muss Bergmann nicht einmal den Namen ändern. Die Kurzform für Alexander und Alexandra passt sowohl für Frauen wie für Männer. Wohlgemerkt: da spielt nicht, wie zurzeit kaum noch überraschend, eine Frau einen Mann und andersrum, sondern die Figuren ändern ihre Identität. Nicht die Darsteller*innen wechseln das Geschlecht, sondern die Rollen. Somit wird auch aus dem kritikwürdigen Mann eine kritikwürdige Frau und aus dessen weiblichem Opfer ein leidender Mann.

Aus der mechanischen Umkehrung der Geschlechterzuschreibungen ergeben sich allerlei Ungereimtheiten. Wenn beispielsweise von einem Mann gemunkelt wurde, er habe wegen einer zu erwartenden Erbschaft geheiratet, galt das als ehrenrührig. Wenn eine Frau hingegen eine "gute Partie" macht, wird das, wie ja auch später noch zahllose Hollywood-Filme vom Typus "Pretty Woman" bezeugen, positiv bewertet. Es macht auch einen Unterschied, ob Sascha als junge Frau oder als Mann quängelt: "Ich hole Mama", worüber in Karlsruhe herzlich gelacht wird.

Eins allerdings kann man Anna Bergmann nicht nachsagen: dass sie die Empathie der Zuschauer zugunsten der Frau, eben der Anna Iwanowa, umverteilen wolle. Das "Judenweib" muss bei ihr all die Unzulänglichkeiten schultern, die Tschechow ihrem Gatten attestiert. Daran ändert auch Bergmanns Bekenntnis im Programmheft nichts, wonach "Frauen viel mehr Gründe als Männer (haben), lebensmüde zu werden, an der Gemeinschaft und am Sinn des Lebens zu zweifeln. Frauen sind oft reflektierter, erkennen die Ursache für ihr Unglück und können vielleicht trotzdem nichts daran ändern."

Klarer Schluss

Noch als junger Mann, 1887, schrieb Tschechow seinen "Iwanow". Er hat ihn zwei Jahre später für eine Aufführung in Petersburg verändert. In der zweiten Fassung und verschiedenen daraus abgeleiteten Überarbeitungen erschießt sich Iwanow am Schluss. Aus einem Brief Tschechows aber geht hervor, dass er mit dieser zweiten Fassung unzufrieden war. Auch der Tschechow-Kenner Peter Urban hat sich entschlossen, in den "Gesammelten Stücken" von 2003 die erste Fassung abzudrucken. In dieser Version endet das Stück damit, dass alle auf der Bühne befindlichen Figuren auf Iwanow zustürzen und feststellen, dass er tot ist. Kein Schuss fällt, kein Herzinfarkt kommt ins Spiel: Iwanow stirbt einfach aus Mangel an Lebensenergie. Peter Zadek hat in einer legendären Wiener Inszenierung von 1990 seinen Iwanow Gert Voss einfach vom Stuhl gleiten lassen. Wenn Iwanow ein russischer Hamlet ist, so ist er von Oblomow infiziert. Es bedarf keiner Intrige, keines Duells, keines vergifteten Degens, um ihn zu töten. Anna Bergmann kehrt in ihrer Bearbeitung zum Selbstmord des nunmehr weiblichen Iwanow zurück. Damit befriedigt sie das Bedürfnis vieler Theaterbesucher nach einem definitiven Schluss. Sie wünschen sich ein klares Ende, und sei es der gewaltsame Tod. Tschechow war, wie die Versionsgeschichte von "Iwanow" zeigt, schon weiter.

AnnaIwanova3 Thorsten Wulff uAnna Iwanowa (Sarah Sandeh) blickt der Antilope in die leuchtenden Augen © Thorsten Wulff

In der seit einem halbem Jahrhundert debattierten Frage, ob Tschechows Dramen Komödien oder Tragödien seien, votiert Bergmann ansonsten für die Komödie, das Spiel – am aufdringlichsten von Anne Müller in der Rolle der Ärztin Jewgenia Lwowa – rückt in die Nähe des Chargierens. Zu Beginn des zweiten Akts trägt die Gesellschaft bei den Lebedjews Tiermasken. Das ist ungefähr so sehr Komödie wie "Der Hofmeister" von Jakob Michael Reinhold Lenz. Eine Minimalchoreographie, die ins Stück passt wie die englischsprachigen Songs, die im Laufe des Abends immer wieder angestimmt werden, bekommt den vorausberechenbaren Szenenapplaus. Sascha singt "Ja posadil derewa" – "Ich habe Bäume gepflanzt" –, was aber wohl kaum jemand im Publikum versteht. Derweil kann sich die Regie offenbar nicht entscheiden, auf welcher Silbe "Iwanowa" zu betonen sei.

Im vierten Akt deuten die Kostüme und die abgelegten Perücken an, dass die Inszenierung in der Gegenwart angekommen ist. Alle sitzen auf Stühlen im Halbdunkel vor der Hinterwand, aber das allein macht noch keinen Gosch.

Was bleibt? Ein paar hübsche Tableaus ohne Kontext, ohne Bezug zu einer gesellschaftlichen Situation, ohne die Ambivalenz, die die Magie von Tschechows Stücken erst ausmacht. Die Ideologie hat über den Theaterverstand gesiegt.

Anna Iwanowa
nach Anton Tschechow
Deutsch von Thomas Brasch, in einer Fassung von Anna Bergmann
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Lane Schäfer, Sounddesign: Heiko Schnurpel, Choreographie: Tabea Martin, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Sarah Sandeh, Jannek Petri, André Wagner, Timo Tank, Antonia Mohr, Andrej Agranovski, Anne Müller, Bayan Layla, Sascha Goepel, Claudia Hübschmann (anstelle der erkrankten Ute Baggeröhr), Marielle Layher.
Premiere am 29. Oktober 2022
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

https://www.staatstheater.karlsruhe.de

 Kritikenrundschau

Mit dieser Inszenierung bestätige Regisseurin Anna Bergmann "ihr Gespür für wirkmächtige Bilder", schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (31.10.2022). "Viel zu tun" gäbe es aber auch für Mitglieder des Ensembles, "die hier durchweg stark aufspielen". Sarah Sandeh bringe in der Titelrolle "ein großes Spektrum an emotionalen Extremzuständen" auf die Bühne, auch Andrej Agranovski als Sascha schlage "einen weiten Bogen von hibbeliger Verliebtheit bis zu wütender Enttäuschung". Es entstehe ein Abend, der in seinen dreieinhalb Stunden "viele eindrucksvolle Momente" biete.

An diesem Abend gönne sich "das Staatstheater einen weiteren Ausflug ins Surreale, der an dieser Stelle perfekt passt", findet Nike Luber in der Rheinpfalz (31.10.2022): "Kostümbildnerin Lane Schäfer zieht dank überdimensionierter Tierköpfe die boshaften Lästereien der Gesellschaft über die Iwanows ins Groteske." Die Kritikerin ist dabei vor allem vom Ensemble beeindruckt: Sarah Sandeh "werfe" sich ganz in die Rolle der Anna, "sie spielt den Selbsthass, die Unsicherheit, die Verzweiflung, die Erschöpfung grandios". Anner Müller zeige, dass "unter der scheinbar beherrschten Fassade der Ärztin ein Hass auf Anna entsteht" und Jannek Petri mache "aus der undankbaren Rolle des kranken, verlassenen Ehemanns eine Studie stiller Tapferkeit", so die angetane Rezensentin.

Durch die weibliche Besetzung der Hauptrolle würden "andere Machtbeziehungen" sichtbar, sagt Marie-Dominique Wetzel im Deutschlandfunk Kultur (29.10.2022). Das Rollenkonzept funktioniere "wirklich gut", aber die für Tschechow typische "lähmende Atmosphäre" habe sich "nicht wirklich eingestellt". Sarah Sandeh hingegen sei "eine großartige Schauspielerin", die noch in der Beschreibung ihrer Antriebslosigkeit "viel Energie" stecke.

Sarah Sandreh spiele "mit ungeheurer Energie", so Christian Gampert im Deutschlandfunk (30.10.2022). Es sei aber deshalb "wenig glaubhaft", wenn diese Anna Iwanowa ständig erzähle, wie "müde und abgeschlagen" sie sei. Das habe zwar "mit der Tschechow-Figur nicht mehr sehr viel zu tun", dafür aber mit der "heutigen Situation junger Frauen". Diese Erkenntnis führe zwar "durch viele Umwege" - aus dieser Theater-Wundertüte erscheine "manches entbehrlich", anderes in seiner Selbstzweckhaftigkeit aber "einfach nur schön". Ingesamt sei Bergmann eine "bedenkenswerte Inszenierung" gelungen.

Kommentare  
Anna Iwanowa, Karlsruhe: 4 Augen - 8 Wahrheiten
Es ist immer wieder eine Freude, sich am Tag nach der Premiere von den mit einem im Theater gesessenen Krotiker:innen erklären zu lassen, was man da gestern gesehen hat. Gerade bei den Inszenierungen von Anna Bergmann kann das helfen, wenn gebildete Kritiker einne auf Zitate aus der Popkultur der letzten 30 Jahre hinweisen, die man erwartbar verpasst hat.
Eine zweifelhafte Freude ist es allerdings, eine Kritik zu lesen, die sich nicht an der Inszenierung als Interpretation eines vorgegeben Textes abarbeitet, sondern sich darüber beschwert, dass die Regisseurin sich erdreistet hat, das Stück anders zu interpretieren und zu inszenieren und sich dabei verwerflicherweise auf eine andere Textversion zu stützen, als es der Kritiker gemacht hätte.
Allein, was soll das? Der Antisemitismus ist ein relevantes Thema in unserer Gesellschaft - geschenkt. Die Inszenierung dafür zu kritisieren, dass sie nicht hier ihren Schwerpunkt gelegt hat, wäre mir nach diesem Abend tatsächlich nicht in den Sinn gekommen. Warum auch? Es ging halt um Anderes.
Die Regie dafür zu kritisieren, dass sie diejenige Textfassung gewählt hat, die mit dem Suizid endet und nicht mit dem stillen Tod - ja mei, wäre ja auch schade, wenn Neuinszenierungen dann doch nur Zitate alter Meister wären.
Dass der Kritiker allerdings die Tiefe des Geschlechtertauschs nicht verstanden zu haben scheint, ist bedauerlich. Was er da über die Bewertungen von Männern und Frauen schreibt {"pretty woman"), zeigt doch nur, wie viel Aufbruch es in unserem Sehgewohnheiten noch braucht.

Darum: es gibt, wie immer, einiges zu kritisieren. Der Text ist oft so platt, wie die Vorlage wohl zu sein scheint. Regelmäßige Karlsruher Schauspielgäste finden im Spiel der Darsteller:innen deren Können und deren Begrenzungen wieder. In der klanglichen Ausgestaltung über die verschiedenen Inszenierungen von Anna Bergmann hinweg dürfte es bisweilen ein bisschen mehr Varianz geben.

Dass am Ende eines Abends aber besondere, schöne, irritierende und bereichernde Bilder und Sätze im Gedächtnis bleiben, ist schön und dafür zu danken. Gleichzeitig, dass im bunt gemischten Premierenpublikum, in dem auch Menschen sitzen sollen, die am Nachmittag noch auf der Haushaltsmesse in der Vorstadt waren, an verschiedenen Stellen Freude und Fröhlichkeit aufkam, kann nur jemand kritisieren, dem es egal ist, ob neben ihm noch Menschen im Theater sitzen, wenn nur seine reine Lehre gewährt wird.
Anna Iwanowa, Karlsruhe: Geschenkt?
Lieber Franz Xaver, Ihre Einwände habe ich mit Interesse gelesen. Eine Frage allerdings habe ich an Sie und jene, die Ihnen zustimmen. Wie würden Sie den folgenden Satz bewerten: "Die Unterdrückung von Frauen ist ein relevantes Thema in unserer Gesellschaft - geschenkt."
Anna Iwanowa, Karlsruhe: Überrascht von mir
Die Kritik von Thomas Rothschild hängt sich an der Variation des Wortes auf, dass nun für Iwanow statt für Iwanowa genutzt wird. Ich weiß nicht, wie lange dramaturgisch disktutiert wurde, gerade zur Zeit vieler antisemitischer Hetze aus Querdenker- und ähnlichen Kreisen das vorgeschlagene Wort "Saujud" für die männliche Variante von Braschs Judenschlampe ersetzt wurde durch "Jude". Mir ist es nicht aufgefallen und dennoch ist damit auch die Einstellung dieser Iwanowa nicht geringer ausgefallen und ich sah auch dies als antisemitisch.
Ihrer Antwort an Franz Xaver entnehme ich, dass die Unterdrückung der Frau zur Zeit inflationär thematisiert würde.
Ich war von mir überrascht, dass ich einer Frau soviel Härte und Grausamkeit nicht zugetraut hätte. Egal, ob jetzt hier in Europa Giorgia Meloni als Faschistin an die Macht kommt, ich Marine Le Pen noch immer als eine Bedrohung sehe und in Deutschland rechte Frauen wie von Storch, Weidel oder Birgit Kelle mich gruseln lassen.
Ich habe den Abend anders als Sie empfunden, es war eine grandiose Inszenierung von Anna Bergmann, schön, kraftvoll, überraschend, anregend, anspruchsvoll, unterhaltsam, hochaktuell bis zur Apokalypse und so auch dem für mich passenden Suizid, exzellent gespielt - vor allem von Sandeh, Agranovskij, Petri und auch von Anne Müller. Ihre Kritik hingegen nur als eine sich am Frauenthema, das es für mich nicht (allein) war, abarbeitende Attacke.
Anna Iwanowa, Karlsruhe: Allgegenwärtiger Slogan
Ich habe die Schlussfolgerung des Kritikers nicht nachvollziehen können: "Aufs Geschlecht kommt es an, wie auch das T-Shirt bei der Schlussverbeugung verkündet. Soviel zur deutschen Befindlichkeit im Jahr 2022." Denn auch damit kamen die Frauen und Männer der wunderbaren Inszenierung selbst in der Schlussverbeugung in der Gegegwart an. Ein kurzes Internetzen zeigt "Women Life Freedom" als den Slogan der iranischen Frauen - und Männer - in ihrem Kampf gegen das Mullah-Regime. Auch als Slogan der weltweiten Solidarität. Herr Rothschild hätte sich vor seiner seltsamen Schlussfolgerung über diese drei Worte informieren können, denn dieser Spruch ist gerade allgegenwärtig. Dann wäre auch seine Kritik ein wenig mehr in der gesellschaftlichen Gegenwart angekommen.
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