Umzingelt von Anzeigetafeln

von Elena Philipp

Berlin, 16. Januar 2010. Ein trister Hinterhof unter einer Straßenlaterne mit zwei garagenähnlichen Bauten aus verschmutztem Beton. Davor die Reste eines Umzugs - Bananenkisten, Altkleider, Zivilisationsmüll. Das ist das Bühnensetting. Rechts vorne auf der Bühne wird mit sechs Telefonbuchsen ein Call Center angedeutet, als Verbindung mit dem Rest der globalisierten Welt.

Mittig über den Betonquadern ein gemalter Prospekt. Hochhäuser, mittelhohe Häuser. Eine durchschnittliche Metropole. Auf die Leinwände rechts und links der Spielfläche, die die schäbige Szenerie überragen wie gigantische Anzeigentafeln, werden Stadtszenen projiziert, aus Japan, Südafrika, den USA. Passanten, Straßenkinder, Imbissverkäufer. Verkehrsströme, die im Zeitraffer durch gesichtslose Städte pulsieren. Nur die Werbeschriftzüge verraten noch, in welchem Land die Aufnahmen zu lokalisieren sind.

Gefühle im Supermarkt

Eine passende Kulisse für das Treiben, das Macras' Performances kennzeichnet. Eine rasante Szene jagt die nächste, mehrere Aktionen gleichzeitig überfordern die Wahrnehmung der Zuschauer. Während Franz Rogowski und Miki Shoji als deutsch-japanisches Paar über das Essen streiten, produziert sich Ronni Maciel in Badehose als Fitnesswunder, dem Liegestütz und Klimmzug in jeder noch so verrückten Bühnenecke gelingen.

Fernanda Farah im kleinen Roten erzählt während dessen eine Supermarktepisode von zersprungenen Tomatengläsern, die sie zum Weinen brachten; Johanna Lemke kreiselt mit in den Nacken gelegtem Kopf zwischen den Figuren über die Bühne, und Denis Kuhnert balanciert Ana Mondini in einem zarten Duett auf seinen Armen. Diese Gleichzeitigkeit ist für eine Megacity das perfekte Bild. Macras hat ihr Thema Megalopolis gut gewählt, in den wuchernden Stadtkonglomeraten werden laut UN-Berichten im Jahr 2030 weltweit drei von fünf Menschen wohnen.

Sprachverwirrungen und andere Missverständnisse

Zu fragmentarischen Lebensgeschichten verknüpfen sich manche Szenen, etwa wenn Johanna Lemke ihren Vater anruft, beim ersten Mal als aufgeregter Neuling in der großen Stadt, beim zweiten Mal als Abgestürzte, HIV-positiv und ohne Geld. Beide Male legt er auf. Fernanda Farah und Miki Shoji gelingt eine Verständigung: Die Japanerin singt ein Lied, und die Brasilianerin versteht Englisch. "Watashi", Ich, singt Shoji. "What does she want", versteht Farah. Auch wenn dem Einverständnis ein Missverstehen zugrunde liegt, deutet sich eine interkulturelle Freundschaft an.

Hyoung-Min Kim und Miki Shoji performen keine durchgängigen Figuren, sie spielen mit unterschiedlichen Identitäten. Sie sind Femmes Fatales in aufreizenden Kleidern, die Denis Kuhnert zu Boden tanzen und mit ihren High Heels besteigen; dann wieder hausen sie abgerissen im Müll, unscheinbar, geduckt. Hyoung-Min Kim predigt als einbeinige Bettlerin - "oh Lord!" - den Passanten eine verheißungsvolle Zukunft und schwingt sich behänd mit zurückgebundenem Bein über die Bühne. Macras’ Human Ressources sind top.

Die Szenen einer Großstadt umwindet Anouk Froidevaux mit theoretischen Girlanden. Wie aus dem Ei gepellt in Weste, Bluse, Hose, preist die Kanadierin das Architekturmodell "Typical Plan", die strenge Rasterung von Fassaden und Räumen. Auf den Leinwänden Büro-Kuben. Perfekte Umgebungen schaffe Typical Plan: neutral, bedeutungsleer, ereignislos. Unkenntliche Städte. Ärgerlich nur, dass die makellosen Räume von menschlichen "Mini-Ökologien" besetzt würden, die Typical Plan als Identitäten vereitelndes Teufelszeug verunglimpft.

Kräfte der Stadt, Kräfte der Körper

Menschenfeindliche, gesichtslose Orte sind diese Megalopoleis. In ihnen und gegen sie behaupten sich Macras' Figuren, die mit vollem Körpereinsatz gegen Wände taumeln, artistisch über die Bühne hangeln, das Fallen probieren oder sich vorsichtig umeinander winden. In einer wiederkehrenden, synchronen Bewegungssequenz haben die Performer den Kopf zurückgeworfen, richten den Blick vielleicht in den Himmel über einer Straßenschlucht. Sie stoßen sich kurz vom Boden ab, um mit Wucht im Sitzen zu landen, werfen die Arme nach hinten und reißen ihren Kopf nach vorne.

Es entsteht der paradoxe Eindruck, als wirkten auf die Körper einerseits mächtige externe Kräfte und als verfügten die Tänzer andererseits vollständig über ihren Leib. Beherrschter Kontrollverlust. Der Körper ist bei Macras vielleicht nicht der letzte Hort der Individualität in einer gleichförmigen Umwelt, aber er ist ein Instrument, das man gegen diese Umwelt in Stellung bringen kann. Wer das Fallen lernt, den wirft so leicht nichts um, könnte man simpel formulieren. Optimismus waltet in Macras' "Megalopolis".

Samba open end

Das ist spritzig und unterhaltsam anzusehen, doch mit zunehmender Dauer löst sich das Thema auf und die Szenenfolge wird beliebig. Die bemerkenswerten Musiker helfen mit einem energetisch antreibenden Samba-Rhythmus über das letzte Dutzend Minuten hinweg, aber nur mit Gewalt ist der Abend zu beenden: Fernanda Farah schlägt mit dem Gummiknüppel auf eine Bananenkiste ein, aus der ein tierähnliches Fiepen dringt. Dann erst ist Ruhe im Karton.

 

Megalopolis
Regie und Choreographie: Constanza Macras, Dramaturgie: Carmen Mehnert, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Gilvan Coelho de Oliveira, Sophie du Vinage,  Video: Constanza Macras, Maria Onis, Tobias Götz. Mit: Fernanda Farah, Anouk Froidevaux, Hyoung-Min Kim, Ronni Maciel, Ana Mondini, Franz Rogowski, Denis Kuhnert, Johanna Lemke, Miki Shoji, Damir Zisko. Musik: Santiago Blaum, Kristina Lösche-Löwensen, Almut Lustig.

www.schaubuehne.de


Mehr zu Constanza Macras im nachtkritik-Archiv: berichtetet wurde u.a über Brickland, das im Dezember 2007 an der Berliner Schaubühne entstand. Im Juli 2008 inszenierte sie gemeinsam mit Thomas Ostermeier Shakespeares Sommernachtstraum, der beim Epidaurus Festival in Griechenland herauskam.

 

Kritikenrundschau

Constanza Macras habe ihre Methode weiterentwickelt, meint Sandra Luzina im Tagesspiegel (18.1.) fest: "Die Choreografin arbeitet mit Übertreibung und Überforderung bis zum Overkill. Sie spitzt Stereotypen zu, rückt den Klischees über ethnische Minderheiten zu Leibe. In 'Megalopolis' arbeitet sie zudem mit einer forcierten Gleichzeitigkeit. Viele Aktionen ereignen sich simultan, die hysterischen Minidramen geschehen parallel, doch immer wieder kreuzen sich die Wege dieser modernen Nomaden, die gestrandet sind im Dickicht der Städte." Und "Megalopolis" sei "beileibe keine Multi-Kulti-Idylle. Hier blüht der Rassismus, hier beuten die Minderheiten sich gegenseitig aus – auch sexuell." Die Inszenierung biete aggressive Momente und grimmige Komik. Manchmal auch wolle Macras "zu viel, etwa bei einem Exkurs über Leni Riefenstahl und Albert Speers größenwahnsinniges Germania-Projekt. Doch sie verbindet Trash, Tragik, Komik und Reflexion zu einem furios tänzerischen Abend über die Stadt, den Müll und die Körper."

"Ordentlich gearbeitet" sei in "Megalopolis" die "Inszenierung des Chaos und gut gemacht", schreibt Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (18.1.): "Nur ist alles eben auch furchtbar voraussehbar. Das wird – allerdings nur in mancher Hinsicht – so bleiben für den Rest des Abends." Eigentlich gebe es, "bis auf die manchmal unglaublichen Videos von Tobias Götz und Maria Onis, keine Szene, die etwas wirklich Überraschendes erzählen würde." Doch dann entwickle das Stück "einen ganz eigenen Rhythmus, eine Art Strom, einen Flow, in dem sich atmosphärisch tatsächlich etwas verdichtet von dem Lebensgefühl in den Megastädten." Wie alles ineinander greife und gleichzeitig geschehe, "wie die Akteure unaufhörlich ihre Kostüme wechseln und dann doch immer wieder ihre eigenen Widergänger zu spielen scheinen – das hat eine enorme, suggestive Kraft". Und so fänden in "Megalopolis" "die Mittel der Macras in gewisser Weise zu sich selbst. Auch wenn dafür andererseits die besonderen Beobachtungen fehlen."

Constanza Macras habe in "Megalopolis" "stellenweise derart das Tempo herausgenommen, dass das Stück manchmal fast wirkt wie eine Installation", schreibt Frank Weigand auf tanznetz.de (17.1.). Habe es in anderen Stücken von Constanza Macras noch "längere Geschichten oder zumindest narrative Sequenzen" gegeben, zerfalle in "Megalopolis" "alles in seine Einzelteile. Zitate der Bewegungssprachen von Tanz-Kollegen wie Meg Stuart oder Jeremy Wade stehen neben Coverversionen berühmter Popsongs und verstärken den Eindruck, dass es für die Bewohner der Riesenstadt keine authentischen Momente mehr geben kann." Betrachte man "Megalopolis" "eher als Installation denn als Bühnenstück, kann man der Choreografin auch so manchen dramaturgischen Durchhänger verzeihen. Leider ist der Erkenntnisgewinn der Produktion dennoch relativ gering". Der "eigentliche Star des Abends" sei übrigens Fernanda Farah, "die sich so virtuos zwischen verschiedenen Stimmungen und Tonlagen hin- und herbewegt, dass man sie am liebsten in einem Castorf-Stück an der Volksbühne sehen möchte."

Dem "städtischen Moloch, seinen metastasierenden Krebsgeschwüren und kosmetisch veredelten Boulevards, den Parias der bildungsfernen Schichten" und "den Distinktionsgewinnlern der New Economy" habe Macras in der Vergangenheit "bildmächtige Collagen abgewonnen", schreibt Dorion Weickmann (Süddeutsche Zeitung, 19.1.). Mit "Megalopolis" hole sie nun "zum globalen Streich aus, und ihre "Dorky Park"-Darsteller erweisen sich auch dafür als großartiges Instrument". Hinter den "Wahrnehmungs-, Satz- und Bildfetzen, die Constanza Macras in gewohnt hohem Tempo über- und hintereinander schiebt", werden dabei "die Umrisse der neuen, der heutigen Türme von Babel sichtbar". Denn "zwischen Eltern und Kindern, Latinos und Asiaten, Zuhältern und Huren, Mann und Frau herrscht, wie Constanza Macras zeigt, babylonische Verwirrung". Constanza Macras' "Bewegungsrhetorik" protze dabei "mit Muskelmasse und frivoler Totalität", Und "den Mann mit dem Streichholz und das Kind mit der Pistole wird der Zuschauer nicht mehr vergessen".

 

Kommentare  
Megalopolis, Berlin: Fernanda Farah
Man möchte sie am liebsten in einem Castorf-Stück an der Volksbühne sehen, schwärmte Frank Weigand auf tanznetz.de von der brasilianischen Tänzerin Fernanda Farah nach der Premiere von "Megalopolis" an der Schaubühne im Januar 2010. Meines Wissens hat sich dieser Kritiker-Wunsch bislang nicht erfüllt. Aber nach einigen Umwälzungen der Berliner Theaterszene steht Fernanda Farah neun Jahre später tatsächlich auf den Volksbühnen-Brettern: Castorf ist bekanntlich nicht mehr Hausherr, aber der aktuelle Interims-Intendant lud die Produktion, die an der Schaubühne längst nicht mehr im Repertoire ist, zu seinem exzellenten Gastspiel-Programm, mit dem sich das in der Ära Dercon zu oft leere Haus wieder füllt.

Das Problem des Abends ist, dass er abgesehen von einigen starken Tanzszenen, die ein Gefühl von der Verunsicherung der Menschen und der Rasanz des Alltags in Megacities vermitteln, zu wenig zu erzählen hat und verflacht. Vor allem in der zweiten Hälfte gerät das Thema zu oft aus dem Fokus, ein Exkurs reiht sich an den nächsten, Leni Riefenstahl und Albert Speer stehen unvermittelt neben streitenden Paaren, die sich auf der Straße eine Szene machen.

„Megalopolis“ leidet auch darunter, dass aus der Urbesetzung zwei Akteure fehlen: Franz Rogowski, der nur in einigen Videoeinspielern (kauend im Diner) auftaucht und nach seiner Zeit an den Münchner Kammerspielen momentan im Kino sehr präsent ist (3x im Berlinale-Wettbewerb in den vergangenen beiden Jahren) und der Hiphop-Tänzer Denis Kuhnert, der zuletzt vor allem mit Falk Richter und Armin Petras zusammenarbeitete.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/02/22/megalopolis-constanza-macras-kritik/
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