Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Wolfgang Behrens verrät, was Kritiker*innen (manchmal) glücklich macht
Die Kritikerfalle
von Wolfgang Behrens
11. Dezember 2018. Man darf sich den Kritiker nicht als glücklichen Menschen vorstellen. Macht ja auch keiner. Christine Dössel – immerhin selbst Kritikerin – beschrieb ihn vor ein paar Jahren als "ein bisschen gebeugt, gram und miesmuffelig." Und das war noch freundlich ausgedrückt, denn die meisten vermuten hinter dem Kritiker einen durch und durch bösen Menschen, der sich zu seinem Platz im Parkett, Reihe 6, Mitte einzig mit dem Ziel schleppt, eine in wochenlanger Mühsal geprobte Theaterarbeit im Handstreich zu erledigen.
Sehsucht nach der Welle
Das ist natürlich nicht wahr, obwohl man dieses Bild in Theaterkreisen kaum je aus den Köpfen wird entfernen können. Dass Kritiker auch Menschen sind, dass sie vielleicht sogar ihre eigenen Nöte haben, damit brauche ich bei Theaterleuten gar nicht erst anzufangen. Dabei stimmt es! Ich zum Beispiel litt, als ich noch ein Kritiker war, regelmäßig an Versagensangst. Und die setzte meist bereits ein, bevor die Vorstellung überhaupt angefangen hatte.
Vor allem dann, wenn ich über Stil und Arbeitsweise der entsprechenden Regisseur*innen so gut wie gar nichts wusste – wenn ich zum Beispiel in die sogenannte Provinz gefahren war, um mir dort einen Ibsen oder einen Lessing anzuschauen. In solchen Fällen flackerte in mir kurz die Befürchtung auf, dass ich einen stinknormalen Abend erleben könnte. Einen Abend, an dem Schauspieler*innen in traditionellen Kostümen traditionelles Schauspiel in einem traditionellen Bühnenbild abliefern. Das muss ja nicht einmal schlechtes Theater sein, aber was sollte ich dann schreiben? Als Kritiker möchte man ja Thesen schwingen, möchte auf der Welle der Avantgarde mitreiten. Man möchte seinen Geist über das Bindeglied der Inszenierung mit dem heißesten Diskursscheiß verknüpfen. Was man eher nicht möchte ist: über eine Theateraufführung als Theateraufführung schreiben.
Mittelreichtum
Es gibt daher Inszenierungen, die es den Kritiker*innen besonders leicht machen und die sie daher besonders lieben – man könnte sie die Kritikerinszenierungen nennen, und das müssen nicht unbedingt die Inszenierungen sein, die beim Publikum in der höchsten Gunst stehen. Solche Kritikerinszenierungen lassen sehr schnell ihre konzeptionelle oder ästhetische Setzung erkennen. Der Kritiker (zum Beispiel ich) ist begeistert, weil er etwas versteht. Die Arbeit, eine These zu entwickeln, wird ihm weitgehend abgenommen, weil ihm die These von der Aufführung schon überdeutlich ins Gesicht gerieben wird. Von nun an zittert er, ob die Behauptung der Aufführung auch durchgehalten wird. Wenn ja, dann ist sie "konsequent" oder, noch besser: "radikal". Wenn nicht, dann ist die Aufführung "nicht schlüssig" oder "unentschieden" oder wie auch immer.
Im Umkehrschluss gibt es allerdings auch Aufführungen, die es bei den Kritiker*innen besonders schwer haben. Das können Inszenierungen sein, die in erster Linie darauf setzen, dass sich die Schauspieler*innen den Stoff einfach erspielen. Die keine explizite Ästhetik vorgeben, sondern eher mit einem Reichtum an Mitteln arbeiten, der auch mal Unterschiedliches nebeneinander bestehen lässt. Oder Inszenierungen, die mannigfaltigen Spuren in einem Text nachgehen, anstatt ihm eine Leitidee überzustülpen.
Allerlei Andeutungen
Der Kritiker hätte jetzt eigentlich jede Menge Arbeit, er könnte allerlei Andeutungen nachgehen und müsste viel beschreiben, vielleicht sogar einzelne Spielweisen und Schauspielerleistungen – was bekanntlich wahnsinnig schwierig ist. Bequemer ist es da, das "Fehlen einer überzeugenden Regie-Idee" zu bemängeln.
Als ich noch ein Kritiker war, war ich naturgemäß immer erleichtert, auf kritikförmige Inszenierungen zu stoßen: Die Kritiken schrieben sich dann quasi von alleine. Ich möchte freilich nicht wissen, wie oft ich dabei in die Kritikerfalle getappt bin, eine Inszenierung als konsequent gepriesen zu haben, die einfach nur eindimensional war. Und wie oft bin ich wohl daran gescheitert, eine ästhetisch reiche, aber vermeintlich unschlüssige Aufführung halbwegs adäquat zu bewerten? Ich sollte darüber jedoch nicht zu lange nachdenken, denn sonst werde ich noch gram und miesmuffelig. Und wenigstens den Dramaturgen wollen wir uns doch als glücklichen Menschen vorstellen!
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit letzter Spielzeit Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
Zuletzt befasste sich Wolfgang Behrens in seiner Kolumne mit Rezensions-Floskeln.
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Nun kommt das Bekenntnis des Dramaturgen.....
Wer ganz abenteuerlich auferlegt ist darf sich auch ein bischen in die literarische Freiheit wagen und möglichst komplett am Bühnengeschehen vorbei zu argumentieren um einen größeren gesellschaftlichen Diskurs aufzumachen. Auf jeden Fall vermieden werden sollte eine mehrseitige (man meine sogar kritische) Auseinandersetzung mit dem Gesehenen, einer kritischen Reflektion der eigenen Eindrücke bedarf es sowieso nicht. Schließlich geht es ja darum den Abend (oder vielleicht auch gleich die ganze Inszenierung) zu kritisieren und sich als wahrnehmendes Subjekt komplett zu verflüchtigen.
Dafür sind ihre dramaturgischen Anweisungstexte und der obligatorische vierte Wand Bruch bestens geeignet. Als Alternative darf man auch ruhig mal einen Abend einfach in siebenstündiger Länge ansetzen und einfach darauf vertrauen, dass Herr oder Frau Kritiker sowieso die Hälfte verschlafen hat, die vorgefertigte Ideologievermittlung reift dann gleich auf bestem Boden.