Kolumne Experte des Monats – Dirk Pilz über Frank Castorf, Experte für Konsenshass
Im Leitartikelmodus
von Dirk Pilz
Berlin, 23. Februar 2016. Als ich kürzlich die Auskunft von Frank Castorf las, es gehe ihm um einen Streit wider jene "herrschende Konsenskultur", die das "elementare Grundgefühl“ des Hasses leider zudecke, ist mir einer meiner Lehrer im letzten Schuljahr eingefallen, der uns im Fach Geschichte unterrichtete und mitten in der Lehrstunde von der Tafel die Stichworte zur Historie der deutschen Arbeiterbewegung fortwischte, um, wie er sagte, noch einmal von vorn zu beginnen, was für ihn hieß, mit der Sklavenhaltergesellschaft.
Und während er wischend an der Tafel stand, hielt er plötzlich inne, um uns dringend zu empfehlen, alles, was wir derzeit fühlten und dächten, auch, was wir hofften und was uns ängstigte, aufzuschreiben, sei es auch nur in wenigen holprigen Sätzen. Denn später, so fügte er an, würden wir uns unsere Gedanken und Gefühle nicht mehr glauben, hielten wir für ausgeschlossen, je derart gefürchtet oder gehofft zu haben. Und wer weiß, so sprach er zur Tafel gewandt, wie sehr wir dies künftig bereuen würden, weil wir nicht fähig wären, uns selbst zu begreifen, erinnerten wir uns nicht an all die jetzigen widersprüchlichen Hoffnungen und Ängste.
Die Welt als Raster
Das war im späten Oktober 1989 in einer westsächsischen Kleinstadt, in jenen aufreibenden, gefühlsgeladenen Wochen, als zwar alles möglich schien, aber alles auch, so erinnere ich mich, ins Raster eines Entweder-Oder gebracht wurde. Und so wie damals kommt es mir auch heute wieder vor, dass das Zögern und Unentschiedensein, der Zweifel, das Noch-nicht-Bescheid-Wissen in der politischen Kultur nicht statthaft ist, es sei denn um den Preis, in ihr bestenfalls zur Provinz zu gehören, also als vernachlässigenswert erachtet zu werden.
Anspruch auf Anerkennung durfte sich seinerzeit und darf sich heute wieder nur erhoffen, wer sich seiner möglichst schnellen Meinung sicher ist, sei es in der entschiedenen Mitgliedschaft einer angenommenen Konsenskultur oder sei es, wie Castorf vorgibt, im Widerstand gegen sie. Tastendes Beobachten, die Unsicherheit der eigenen Position ist in solchem Pro-und-Contra-Denken beiderseits nicht vorgesehen. Entsprechend bedarf es diesem Denken gemäß keiner Auseinandersetzung mit der sogenannten Wirklichkeit, weil die jeweilige Meinung schon vor der Wahrnehmung feststeht.
Platz nehmen auf dem Göttersitz
In diesem Sinne ist Castorf ganz Jünger einer unter Theatermenschen weitverbreiteten und entsprechend überaus konsensfähigen Durchblicker-Kultur, die so tut, als ließe sich Gegenwart wie Geschichte nur in jenem Leitartikel-Modus begreifen, der immerfort vorgaukelt, begreifen und durchschauen zu können, was auf den kleinen und großen Bühnen der Politik von Clausnitz bis Aleppo derzeit geschieht. Es bleibt dabei nicht nur offen, was solche Durchblicker überhaupt befähigt, auf dem Göttersitz Platz zu nehmen, sondern auch keinerlei Raum für die widerstreitenden Kräfte des eigenen Denkens und Fühlens.
Von Konsenskultur kann ja nur sprechen, wer von der Unordnung der eigenen Wahrnehmung nichts, über die unordentliche Welt aber alles zu wissen vorgibt. Was Wirklichkeit ist, ist Meinung geworden. Entsprechend hat die Wirklichkeit der eigenen Meinung zu gehorchen. Eine Wirklichkeit, die sich in Meinungen nicht fassen lässt, ist für dieses Welt- und also Meinungsbild naturgemäß nicht vorhanden. Es gibt Konsens oder Dissens, mehr nicht. Dass der Hass in solcher Welt-Ordnung ein Grundelement ist, versteht sich daraus von selbst.
Konsens-, Dissens- und andere -welten
Nichts ist jedoch einfacher, so habe ich meinen Geschichtslehrer damals begriffen, als das Welt- und Seelengeschehen in solche Pro-und-Contra-Raster zu spannen, nichts schwerer, als den eigenen Gedanken und Gefühlen zu glauben, um den Zweifeln und Unsicherheiten Platz zu geben und damit auch einer Wahrnehmung, die nicht auf Meinungsmodus geschaltet ist. Die veröffentlichte Erinnerung an den deutschen Herbst 1989 gibt ihm, wie ich heute zu wissen meine, vollends recht, kommt sie doch längst einzig in diesen Modi vor.
Anders als damals wird heute aber, wie man von Castorf lernen kann, bereits das Gegenwartsgeschehen genommen, als wäre es ein Leitartikelgegenstand. Als gäbe es keine widersprüchlichen Hoffnungen und Ängste, als könne man sich selbst und die derzeitigen Vorkommnisse Konsens- oder Dissenswelten zuordnen. Ich lebe, glaube ich, in einer anderen Welt.
Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
In dem Zusammenhang wurde ich wieder an den Spruch 'Der Fuchs weiß viele Dinge, doch der Igel weiß ein großes Ding' erinnert (z.B.: http://www.zeit.de/1982/25/von-fuechsen-und-igeln/komplettansicht).
zwei Sachen interessieren mich:
1. Haben Sie denn damals, im späten Oktober 1989, all das, was Sie fühlten und dachten, was Sie hofften und was Sie ängstigte, aufgeschrieben? Und wenn ja, können Sie es heute glauben, dass Sie das geschrieben haben?
2. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie Frank Castorf zu vorschnell in die Leitartikel-Abteilung verfrachten. Ja, er behauptet, es gebe einen Konsens, aber ist seine Entscheidung für den Dissens (oder für das, was er Dissens nennt) nicht auch gerade eine für die Unsicherheit und für den Zweifel? Sicher führt Castorf eine Sprache, die sich durchblickerisch gibt. Aber auf welcher Seite er steht, sagt er im Grunde nicht. Jedenfalls nicht auf der Seite der Killer oder der Pegida, das macht er auch deutlich. Er äußert aber einen Zweifel an Meinungen, die gleichsam leitartikelhaft und zugleich weitgehend unwidersprochen in der Welt stehen. Zum Beispiel an der Meinung, dass das Repräsentationsprinzip die einzig denkbare Form der Demokratie sei. Ich sehe bislang nicht, dass Castorf wirkliche Alternativen aufbietet, sondern nur, dass er sich zu zweifeln erlaubt, dass alle Vereinbarungen, die in unserer Gesellschaft getroffen wurden, alternativlos sind. Ich vermute (und hoffe), dass die widersprüchlichen Ängste und Hoffnungen auch in Frank Castorf ihren Platz finden.
zu Ihren Fragen nur dies kurz:
Ich habe damals im Herbst 89 leider nur wenig notiert und glaube heute kaum mehr, dass das alles gewesen sein soll, was ich als aufschreibenswert betrachtet habe.
Zu Ihrer zweiten Frage: "verfrachten" möchte ich eigentlich niemand, auch Castorf nicht. Aber dass die "Entscheidung für Dissens" auch eine "für die Unsicherheit und für den Zweifel" sein soll, glaube ich ganz und gar nicht; denn das wäre ein rein formales Verständnis von Dissens, eben das bloße Absetzen von einem vermuteten Konsens. Abgesehen davon kann man sich, so jedenfalls meine Erfahrung, ohnehin nicht "für die Unsicherheit" entscheiden, man wird dazu doch eher gebracht. Es ist ja auch nichts, was sich einfachhin wünschen ließe.
Dass ich bei all dem übrigens nicht für irgendeine Standpunktlosigkeit plädiere, ergibt sich, so hoffte ich jedenfalls, von selbst. Denn seinen Standpunkt könnte man ja, wenn überhaupt, nur los werden, indem man sich dem bloßen Pro und Contra überlässt.
herzliche Grüße,
Dirk Pilz
Ganz jenseits von Pilz' sehr guter und auch notwendiger Kolumne der Versuch einer die Debatte verfremdenden Frage: Was spricht eigentlich gegen einen gescheiten Leitartikel? Wie z. B. die von Heribert Prandl in der "Süddeutschen"? Hätten sich nicht etwa ein Tucholsky oder ein Willemsen über das pejorativ gemeinte Wortungetüm "leitartikelhaft" gewundert?
Anders und weniger standgepunktet: Willemsen öffentlich über einen Leitartikel, Tucholsky vielleicht beim Privatdinner :D - Das nächste Mal, habe ich mir überlegt, spare ich mir das Tippen einer Antwort in die Kommentarspalte hier und kritzle sie einfach auf einen Zettel; und dann knalle ich den schön vorsichtig in Ihr "Stückeschreiben" in mein Regal - und da kommt das bestimmt auch bei Ihnen an!! Daran glaube ich ganz fest!