Erkaltende Gemeinschaftsräume

4. Mai 2024. Großbritanniens Regierung spart. Und bankrotte britische Städte wie Birmingham und Nottingham sehen sich gezwungen, ihre gesamte Kunstförderung ebenso wie etliche Sozialdienste zu streichen. Wie reagieren lokale Kunst- und Theaterschaffende auf diese neue Phase des konservativen Austeritätsexperiments?

Von Georg Döcker

Förderdämmerung: Das Kulturzentrum Nottingham Contemporary © Contemporarynottingham, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

4. Mai 2024. Unter britischen Kunst- und Theaterschaffenden herrscht aktuell vor allem eins: Verunsicherung. Namhafte Städte wie Birmingham und Nottingham mussten im März die kommunalen Kunstbudgets in einem beispiellosen Vorgang gänzlich streichen, zusätzlich zu schweren Einschnitten im Sozialbereich. Allerdings zeigen sich die lokalen Kunst- und Kulturmilieus weniger durch den Umstand der Kürzungen selbst verunsichert als durch die Unklarheit darüber, wie die Kürzungen konkret umgesetzt werden sollen und wie sie künftig dem gesamten Sozialnetz der Stadt schaden werden.

Hinter den Maßnahmen steht eine Verschärfung der Austeritätspolitik aus Westminster, die bar jeder ökonomischen Notwendigkeit auf die Produktion von Ungewissheit setzt, um so die Bevölkerung zu regieren. Kunst und Theater in Großbritannien werden politisch herausgefordert, sich künstlerisch zur Macht staatlich verordneter Zukunftslosigkeit zu verhalten.

Aber der Reihe nach: Wie kam es zu den 100-Prozent-Kürzungen der Kunstförderung in mehreren britischen Gemeinden? Erlebt Großbritannien bloß die Fortführung breitflächiger Sparpolitik oder etwas Schlimmeres? Und was sagen lokale Vertreter:innen aus Kunst, Theater und Performance dazu?

Kredit gegen die Veräußerung von Gemeingut

Birmingham ist mit eineinhalb Millionen Einwohner:innen die zweitgrößte Stadt des Landes, Nottingham eine Universitätsstadt mit traditionell starker Kunstszene. Die beiden Städte, auf die ich mich bei meinen Recherchen konzentriere, mussten Ende 2023 verlautbaren, dass sie effektiv bankrott sind – genauso wie Slough, Croydon und andere Kommunen. Zwar hat sowohl in Birmingham als auch Nottingham der von Labour geführte Stadtrat teures Missmanagement betrieben, aber das strukturelle Problem besteht im krankenden Föderalismus: Seit Anfang der 2010er-Jahre wurden die beiden Verwaltungseinheiten um je eine Milliarde Pfund staatlicher Förderung gebracht, während Familien, Arme und Alte seit der hohen Inflation umso mehr die Unterstützung der Stadteinrichtungen suchen. So geht es vielen Kommunen: Fast eine von fünf gibt an, dass sie im nächsten Jahr pleite gehen könnte.

Die chronische Unterfinanzierung hat System: Die Londoner Regierung hat zwar Birmingham einen Kredit von 1.25 Milliarden Pfund gewährt, aber unter der Auflage, dass die Stadt kommunales Eigentum verkauft. Elf Gemeinschaftszentren werden veräußert, Gemeingut privatisiert. Um in den nächsten zwei Jahren 300 Millionen Pfund zu sparen, werden dem Vernehmen nach 25 der 35 Stadtbibliotheken geschlossen, Sozialleistungen für Kinder und Familien eingeschränkt, und die Kommunalsteuer wird in 24 Monaten um 21 Prozent angehoben. Schätzungen zufolge handelt es sich damit um das größte Sparpaket in der britischen Kommunalgeschichte.

In Nottingham ein ähnliches Bild: 53 Millionen Pfund fehlen für das neue Finanzjahr. Westminster hat einen Vorstand eingesetzt, der fortan die letzte Entscheidungsgewalt hat, womit die Lokalpolitik entmachtet ist. Der Leiter des Rats in Nottingham benennt den Druck zum Einsparen genau: David Mellen spricht von "duress", Nötigung oder Zwang. 

Ende der städtischen Kunstförderung

Der gänzliche Abbau der Kunstförderung wird daher als Ergebnis einer unmöglichen Wahl erkenntlich: Entweder die Sozialdienste völlig ruinieren oder auf Kunst verzichten. In Nottingham geht es um 200.000 Pfund für fünf städtische Kunstinstitutionen, die auf Null reduziert werden. Große Kürzungen gingen dem schon voraus, denn vor 13 Jahren hatte alleine das Nottingham Playhouse, eines der zwei großen Theater der Stadt, noch 433.000 Pfund jährlich erhalten. In Birmingham wird gestaffelt, dieses Finanzjahr 50 Prozent weniger, im nächsten Jahr 100 Prozent. Betroffen sind große Institutionen wie das Birmingham Rep für Drama und Sprechtheater und das Birmingham International Dance Festival.

Theaterbrief UK Birmingham Rep CErebus555 CC BY SA 3.0 viaWikimediaCommonsBald auch ohne kommunale Förderung: das Birmingham Rep © Erebus555 – CC BY SA 3.0 via Wikimedia Commons

Die zwei Städte aus den Midlands stehen mit ihrer de facto nicht mehr existenten Kunstpolitik nicht allein da. Suffolk hat die Mittel für Kunst ebenfalls um 100 Prozent reduziert, Bristol um 40 Prozent, die Liste ließe sich fortführen. Zwar gibt es in Großbritannien mit dem Arts Council England (ACE) eine zweite Säule für Kunstförderung, aber auch die nationale Behörde hat zwischen 2010 und 2023 effektiv rund ein Drittel ihres Fördervolumens verloren.

Wahlgeschenk statt Föderalismusreform

Dass sich die Verbannung von Kunst und Kultur aus dem Verantwortungsbereich der Kommunen verhindern lässt, hat Equity, die Gewerkschaft für 50.000 Mitglieder aus darstellender Kunst und Unterhaltungsindustrie, bewiesen, indem sie einen alternativen Förderplan für Suffolk vorgelegt hat. Aber nichts davon wäre nötig, hätte Großbritanniens Finanzminister Jeremy Hunt in seinem jüngsten Budget auf ein vorzeitiges Wahlgeschenk verzichtet; anstatt die Krankenversicherungsabgabe um zwei Prozent zu verringern, hätte er problemlos die Finanzlöcher sämtlicher englischer Kommunen stopfen können. Zwar hat Hunt zehn Millionen extra für Kunst und Kultur in den West Midlands in Aussicht gestellt, aber das politische Kalkül ist klar: Die Aufrechterhaltung der strukturellen föderalen Schieflage erlaubt es, in die Kommunen hineinzuregieren und das Leid sowie die Verunsicherung der Mehrheit der lokalen Bevölkerung mit neuen Sparmaßnahmen auf die Spitze zu treiben.

Tatsächlich symbolisieren die 100-Prozent-Kürzungen für die Kunst eine neue Qualität konservativer Austeritätspolitik: Nicht nur dass sie bewusst produzierter Alternativlosigkeit geschuldet sind – sind sie in ihrer Totalität Ausdruck politischer Gewalt. Es geht nicht mehr um Kontrolle durch eine stete Reduktion von Leistungen; es geht um Zwang und Eliminierung. Die Tory-Regierung um Premierminister Rishi Sunak hat nicht bloß immer weniger, sondern tatsächlich nichts für die meisten Brit:innen übrig.

Zukunft von Projekten vor Ort: Unklar

Wie reagiert man in Kunst und Theater auf die Streichungen? Ich frage bei Ian Hyde nach, CEO der Ikon Gallery in Birmingham, die regelmäßig Performances kuratiert, letztes Jahr etwa mehrere Arbeiten der indonesischen Performance-Künstlerin Melati Suryodarmo, die für durational performances und körperzentrierte Arbeiten bekannt ist und unter anderem bei der Biennale in Venedig zu Gast war. 2012 wurde Ikon noch mit 300.000 Pfund von der lokalen Behörde finanziert, aber weil es zuletzt nur 19.700 Pfund waren, fällt der Förderverlust kaum noch ins Gewicht. Ohnehin ist Hyde bemüht, das Positive zu sehen: Die Galerie ist mittlerweile Montag und Dienstag geschlossen, aber dadurch spare man Strom- und Heizkosten, was ökologische Vorteile bringe. Pro Jahr wird eine Ausstellung weniger gezeigt, aber dafür bleibe mehr Zeit für das Rahmenprogramm rund um jede Ausstellung.

Sehr besorgt ist Hyde hingegen, was die Zusammenarbeit mit lokalen Einrichtungen wie den Stadtbüchereien betrifft: Nachdem viele von ihnen schließen werden, ist die Zukunft jener Projekte, die direkt die Bewohner:innen einzelner Stadtviertel erreichen, völlig unklar. Auch Sean Foley, Intendant des Birmingham Rep, hatte zuletzt in einem Zeitungsinterview angemerkt, dass sein Theater zwar überleben werde, bei über 20 Prozent Steigerung der Kommunalsteuer aber zu befürchten sei, dass sich viele Besucher:innen die Theaterkarten nicht mehr leisten könnten.

Verliert Kunst ihren Gemeingutstatus?

Es ist diese Sorge, die alle teilen, mit denen ich spreche: Nicht, dass anerkannte Theater, Museen und Galerien schließen müssen, aber dass Kunst und Kultur effektiv ihren Gemeingutstatus verlieren, weil der Zugang für die breite Bevölkerung nicht mehr gegeben ist. "The very local level gets completely and utterly torn apart", sagt Cathy Wade, Künstlerin in Birmingham und Leiterin des MA Arts and Education Practices an der Birmingham City University – die lokale Kultur, sie wird komplett zerstört.

Wade verweist auf den ungewissen Status der Neighbourhood Arts Forums, bei denen sich mehrere ihrer Studierenden einbringen. Das Northfield Arts Forum ist in einem Shopping Center angesiedelt und bietet damit etwa Kindern direkten Zugang zur kreativen Betätigung; sie können dort zum Beispiel kostenlos bunte theatrale Masken basteln. Wie die anderen Foren ist es vorwiegend durch die Kommune finanziert, weshalb die Aussichten für die Organisation unklar sind. Wade selbst arbeitet derzeit an Children Own the City, einem Projekt mit einer Grundschule, bei dem sich die Kinder mit Zeichnungen und anderen kreativen Mitteln ihre Stadt aneignen. Der Fokus liegt auf dem lokalen Kanal, um der tristen Realität eine öko-soziale Zukunftsvision entgegenzusetzen.

Theaterbrief GB CathyWade Children Own The City 3 uBlumen, ein Wald für Tiere und keine Autos: ein Beispiel aus Cathy Wades Projekt Children Own The City © Cathy Wade

Unterdessen berichtet mir Canan Batur, Kuratorin für Performance des Kunstzentrums Nottingham Contemporary, dass ihre kuratorische Arbeit längst nicht mehr bei rein künstlerischen Überlegungen ansetze, sondern zur ständigen Problemlösung sozialer Notstände geworden sei. Letztes Jahr, als das Heizen der eigenen Wohnung für viele zu teuer wurde, hat das Zentrum gratis Filmvorführungen organisiert, die darauf abzielten, lokalen Familien einige Stunden Aufenthalt im Warmen zu garantieren. Performance-Kuration wird zur sozialen Intervention, die Körperwärme spendet.

Foodbank statt Wissenschaft

Ein umfassendes Bild der Lage zeigt, dass die auch die Kunst- und Geisteswissenschaften an vielen britischen Universitäten massiven Sparprogrammen ausgesetzt sind. Nicht nur die Praxis, besonders die Theorie gilt vermehrt als entbehrlich. Aktuell trifft es Goldsmiths, wo 17 Prozent der Stellen abgebaut werden sollen. Die University of Roehampton wiederum hatte schon während der Covid-19-Pandemie über 220 Wissenschaftler:innen gekündigt und damit auch die renommierten Dance und Drama Departments zerstört.

Als ich dort noch vor den Kürzungen meinen PhD begann, lernte ich Theaterwissenschaftlerin Sarah Gorman kennen. Sie musste Anfang 2021 gehen und arbeitet heute in einer Londoner Foodbank. Wollte sie an die Universität zurück, müsste sie als erfahrene Wissenschaftlerin entweder viele Drittmittel einwerben, die in ihrem Forschungsfeld Feminismus und gender jedoch karg sind, oder einen Management-Posten annehmen, in dem sie wiederum Kündigungen von Kolleg:innen verwaltet – womit sich der Zynismus der Strukturen offenbart. Lieber hilft sie direkt jenen, die sich kein Essen leisten können: "In the current climate in the UK it just feels like everything is so broken. At least I am doing something hands on and I know it has an immediate benefit." Gerade fühle sich in Großbritannien alles kaputt an. Wenigstens tue sie etwas Praktisches, vom dem sie wisse, dass es einen unmittelbaren Nutzen habe, sagt Gorman.

Soziale Kunst

Welcher Ausblick bleibt für Kunst und Theater? Wo hinreichende Planungen politisch verunmöglicht werden und das Netz an öffentlichen Kunst-, Bildungs- und Sozialeinrichtungen attackiert wird, rückt man umso mehr zusammen. Die Ikon Gallery hilft mitunter Künstler:innen, die sich den neuen Laptop oder die Studio-Miete nicht mehr leisten können. Nottingham Contemporary fungiert zuweilen, wie Batur meint, als eine Art "day care and space where you provide education that is not provided by the school system". Das Kunstzentrum als Tagesstätte und Raum für Bildung, die das Schulsystem nicht bietet.

Theaterbrief UK Nottingham Contemporary Screenshot TheSpaceAufenthaltsraum für die städtische Community wie für Künstler:innen: "The Space" des Nottingham Contemporary © Nottingham Contemporary

Und der Nachwuchs? Das junge Performance-Duo Daz Scott und Martha Harrison, das unter dem Namen Calico in Birmingham arbeitet, erwartet erst gar keine adäquate Unterstützung: "We expect some level of lack of support when it comes to the government and local councils funding us." Sie gehen von vornherein davon aus, dass sie von der Regierung und der Stadtverwaltung kaum Mittel erhalten. Einmal wurden sie bislang von der Stadt gefördert; dass es bald ein zweites Mal gibt, bezweifeln sie. Vom Arts Council England haben sie immerhin 29.000 Pfund bekommen, mit denen sie und ihr Team im April eine Bühnenversion von "Curfew" probiert haben, einem Projekt, das während der Pandemie zunächst als Kurzfilm entstanden war.

Als Reaktion auf den Femizid an Sarah Everard in London im März 2021 imaginiert "Curfew" den Freiraum, der sich für Frauen auftun würde, würde über Männer eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Öffentlicher Raum als Raum für alle wird hier mit Medien wie Film und Performance eingefordert, die zusammen eine "multimedia campaign" ergeben sollen. Denn Calico wissen längst: "A theatre show on its own does not have any value." Eine Theaterproduktion alleine hat keinen Wert.

 

Georg Döcker schreibt, forscht und unterrichtet zu Tanz, Theater und Performance. Aktuell schließt er an der University of Roehampton in London seinen PhD ab (Stipendien von AHRC Techne Consortium und University of Roehampton) und forscht an der Uni Salzburg zur Genealogie feministischen Spektakels nach Florentina Holzinger (Ernst-Mach-Stipendium des OeAD). Er betreibt einen Blog auf georgdoecker.wordpress.com.

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