Kleider machen Leute

28. April 2024. In Arbeiten wie "ugly duckling" hat Regisseur Bastian Kraft von der Lust und der Not der Verwandlung erzählt. Jetzt sucht er mit Bernards Shaws "Pygmalion" nach Bezügen zur Eliza-Doolittle-Geschichte, rollt den Catwalk aus und versucht sich an der Ballroom-Tradition. So einfach ist das aber nicht.

Von Christian Rakow

Bernard Shaws "Pygmalion" von Bastian Kraft inszeniert am Deutschen Theater Berlin © David Baltzer

28. April 2024. Das ist ein beeindruckender Aufstieg, den Eliza Doolittle da hinlegt: vom armen Blumenmädchen an der Straßenecke hinein ins Londoner Herrenhaus. Der Sprachforscher Henry Higgins bringt ihr Etikette und die gehobene Ausdrucksweise der Oberschicht bei, um eine Wette zu gewinnen: Eliza werde für alle Welt als Herzogin durchgehen, wenn er mit ihr fertig sei. Und tatsächlich. Eliza trainiert und brilliert.

Weil aber Higgens ein ziemlich grober Klotz ist und sich um die Seele der jungen Frau so wenig wie um die sozialen Konsequenzen seines Tuns schert, verlässt Eliza ihn nach dem Experiment. Aufrechter und selbstbewusster schreitet sie ins Leben. Und er jammert ihr hinterher.

Eliza Doolittle in Dir

Diese Geschichte hat Bernard Shaw 1913 in seinem Drama "Pygmalion" erdacht, Frederick Loewe hat aus ihr 1956 das Musical "My Fair Lady" komponiert, Joseph Weizenbaum benannte 1966 sein erstes Computerprogramm für Sprachsimulationen nach Eliza. Ein doller Weg, wahrlich.

Suche nach den Bezügen zur Eliza Doolittle: das Ensemble in Bastian Krafts "Pygmalion" am Deutschen Theater Berlin © David Baltzer

Weil es in Shaws Drama um die Kraft des Auftritts und des äußeren Anscheins geht – Sprachkleider machen Leute – hat Regisseur Bastian Kraft seine relativ freie Adaption des Shaw-Stückes in den Kammerspielen des Deutschen Theaters auf einen Catwalk verlegt (Bühne: Peter Baur). Engagiert stolzieren seine fünf Akteur*innen darauf zu ihren Szenen, anfangs in defensiveren, blässlichen Kostümen, später in funkelnder Glamour-Robe (Design von Inga Timm). Sie reißen knapp nacherzählend das Geschehen des Dramas an, fügen eigene biografische Berichte ein und trollen sich dann wieder. Die Choreografien (von Angélique Mimi, Iconic House of Prodigy) sind, laut Programmheft, vom "Ballroom" inspiriert, also von den extravaganten Szene-Shows, die aus der queeren sowie afro- und lateinamerikanischen New Yorker Subkultur der 1960er Jahre hervorgingen.

Wille zur Bekenntniskunst

Nun ist es gewiss unglücklich, dass erst vor zwei Tagen an der Volksbühne bei der Pollesch-Abschiedsparty der "Ballroom des House of St. Laurent" lief, wo es ziemlich brummte, und die Host*in des Events trotzdem die Umstehenden beschimpfte, weil diese Theatergänger viel zu wenig johlten. Quasi: Abglanz ist nicht, es muss schon das echte Feuer sein. Aber ehrlich, gegen die Nummer heute am DT war die Stimmung in der Volksbühne am Siedepunkt.

Pygmalion4 1200 David BaltzerSchattenspiele, Leinwandprojektionen: Mercy Dorcas Otieno und Caner Sunar in "Pygmalion" © David Baltzer

Die laschen Hüftschwünge in diesem "Pygmalion" sind eigentlich Sinnbild des Ganzen: Bastian Kraft greift nach Formen, ohne auch nur einen Hauch der damit verbunden Lebendigkeit einzuspeisen. Der Abend ist Karosserie ohne Antrieb. In ihren biographischen Häppchen suchen die Spieler*innen reihum ihren Bezug zur Eliza-Thematik und künden dann von ihrem einstmaligen Traum, auf einer deutschen Stadttheaterbühne zu stehen, oder vom Wunsch, Liebe zu spüren, auch wenn man sich selbst nicht als begehrenswert empfindet. "Doolittle, dream big", witzelt Caner Sunar und gibt damit das Erkenntnismotiv vor. Diese kleinen reflexiven Einschübe sind die Schwundstufe einer autofiktionalen Bekenntniskunst, die Häuser wie das Maxim Gorki Theater groß gemacht haben.

Nicht lustig

Am ehesten rettet noch Julia Gräfner ihre Haut, wenn sie in der Rolle des Henry Higgens mit Wonne derbe umher flucht und zum Höhepunkt eine Lektion in Atem- und Sprechübungen gibt, wie sie an Schauspielkaderschmieden gelehrt werden. Ansonsten darf jede*r mal Eliza Doolittle sein und sich im Dialektsprechen ausprobieren. Wobei man uns glaubhaft versichert, dass man den gewählten Dialekt halt nicht so gut beherrsche. Und wirklich, es klingt wie Kreissparkasse auf Betriebsausflug. Irgendwann wird Caner Sunars Eliza auch ein türkischer Akzent ausgetrieben: "Lustisch. Nein. Lustisch. Nein. Lusti[ch]." Nicht lustig.


Pygmalion
nach Bernard Shaw
In einer Bearbeitung von Bastian Kraft und Ensemble
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Musik: Björn SC Deigner, Video: Jonas Link, Coaching / Choreografie: Angélique Mimi (Iconic House of Prodigy), Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Christopher-Fares Köhler.
Mit: Julia Gräfner, Jens Koch, Daria von Loewenich, Mercy Dorcas Otieno, Caner Sunar.
Premiere am 27. April 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

Kritikenrundschau

Die Zuschauer werden als Motherfuckers angesprochen, die ihre fuckin' Cellphones ausstellen sollen. Aber die fünf Spieler wollen niemanden beleidigen, "sondern probieren ein paar Slangs und Sprechweisen aus, denn in dem Stück geht es um den Klassismus von Sprache und Gehabe", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (28.4.2024, online 10.23 Uhr). Dem Regisseur Bastian Kraft sei es aber offenbar sehr wichtig, dass auch der verpennteste Zuschauer folgen könne. "Offen bleibt, ob man vielleicht doch einer Aufwärmübung beim Sprechtraining beiwohnt. Es werden auch jeder interpretatorische Gedanke und jede autobiografische Assoziation ausformuliert und abgearbeitet wie bei einem Referat." Klischeespiel mit angeklebten Bärten und Kinderbuchkostümen, knallbunt beleuchtet und beschallt, so Seidler.

"Die Inszenierung wechselt zwischen ambitioniert hingeworfenen Pygmalion-Szenen, biographischen Einsprengseln der Schauspieler*innen und – besonders überflüssig – Erklärszenen", so Barbara Behrendt im Inforadio (29.4.2024). "Komplexer, weitsichtiger, gedankenschärfer und auch leidenschaftlicher hätte ein Abend über Klassenunterschiede schon sein müssen."

Kommentare  
Pygmalion, DT Berlin: Schade
Die Geschichte fand ich eigentlich ganz schön und ideenreich umgesetzt. Nur die Schauspieler haben mich mit ihren Darbietungen überhaupt nicht erreicht. Die Texte wirkten eher auswendig gelernt und aufgesagt als mitreissende autobiographische Lebensgeschichten. Eigentlich bin ich vom Ensemble des DT Besseres gewohnt. Schade!!!
Pygmalion, DT Berlin: Schwieriger Vergleich
Ich schätze Herrn Rakows Kritiken normalerweise sehr, aber in dieser Kritik gibt es ein paar Passagen, die ich doch über die Maße gehässig finde.
Besonders den Vergleich zur Gedenkveranstaltung für Pollesch, einer einmaligen Veranstaltung ist für mich schwierig und nicht hilfreich. Was ist denn da die Forderung? Für jede Vorstellung von Pygmalion ein ganzes House zu engagieren?
Bin sehr enttäuscht von dieser Kritik.
Pygmalion, DT Berlin: Mit Leib und Seele
@2. Werte*r TeEss, die Forderung ist: Wenn man sich für einen Stoff interessiert, dann mit Leib und Seele.
Pygmalion, DT Berlin: Augenhöhe
Schade, dass die Kritik mehrheitlich unsachlich und untergriffig ist. Lieblos und entwertend.

Zum erste Kommentar von @Sabine: Die Wirkung des Spiels/Texts und die Qualität der Schauspieler oder gar des ganzen Ensembles gleich zu setzen ist einerseits unfair, weiter sehr kurz gedacht und dient einer vielschichtigen Inszenierungsbetrachtung genau so wenig wie die Kritik.

Ich wünsche uns Liebe und Dankbarkeit für das was wir in Theatern sehen dürfen, dort versucht wird und denen gegenüber, die wochenlang an diesem einzigartigen Kommunikationsangebot, der Inszenierung gearbeitet haben.

Man muss es ja nicht mögen, doch wenigstens die Augenhöhe behalten.
Pygmalion, Berlin: Beseelte Leiber
Ob Kritiker*in oder Publikum - nicht jede Person, muss einen Abend mögen, nicht jede*r beim Applaus aufstehen und vielleicht gibt es sogar gute Gründe, gegen den Abend zu sprechen. Aber war Kritik nicht mal der Ort, der darüber eben nicht polemisch, kraftmeierisch und verletzend sprach? Oder ist vielleicht auch das nur eine Unterstellung...

Da stehen beseelten Leiber auf der Bühne, die sich angreifbar machen. Das zu nutzen, um die eigenen Postion in grelle Farben zu zeichnen, das zeugt von wenig Hingabe zum eigenen Metier; oder aber von der Verzweiflung, mit Härte Klicks und Relevanz zu erzeugen. Beides wäre sehr schad.

Als Kollegen-Person ist man es gewohnt, mit einer ganz eigenen Lesebrille die Nachtkritiken zu lesen. Dies ist eine Kritik, bei der man die Brille lieber ganz absetzen möchte.

Man darf viele Klicks wünschen, die Relevanz jedenfalls verabschiedet sich gerade durch die Hinterür.
Pygmalion, Berlin: Frage
Ist das eigentlich auch schon Klassismus, den Sabine in ihrem Kommentar durchscheinen lässt?
Dann käme ja wenigstens hier in der Kommentarleiste das vor, was manche Kritiken in der Inszenierung vermisst haben.
Pygmalion, DT Berlin: Fetzen dürfen fliegen
@5 "Aber war Kritik nicht mal der Ort, der darüber eben nicht polemisch, kraftmeierisch und verletzend sprach?" Nein. Früher haben Kritiker wie Alfred Kerr, C. Bernd Sucher und Gerhard Stadelmaier so scharf geschossen, dass es teils gar zu Gerichtsverfahren kam. Und ich finde, das muss auch heute noch möglich sein. Wo leidenschaftlich um Kunst gestritten wird, da müssen auch die Fetzen fliegen dürfen.
Pygmalion, Berlin: Clickbait
Die Inszenierung zu vergleichen mit Polleschs Trauerfeier, ist geschmack- und pietätlos. Seit Nachtkritik den Schnelligkeitsvorteil verloren hat (die Kritiken von rbb, Berliner Zeitung, Morgenpost, teilweise auch SZ sind inzwischen auch am nächsten Morgen vor 11.00 Uhr online) muss es noch mehr Clickbait geben. Vielleicht mal bis zum Nachmittag warten?
Pygmalion, Berlin: Muss das sein?
@7 Klar, denn früher war alles besser... Ich will mir nicht vorstellen, wie verletzend es für die Spieler*innen und Beteiligten sein muss, solche Worte hier zu lesen. Ich stimme @5 voll zu, die Kritik ist weit über eine Konstruktivität hinausgeschossen.
Pygmalion, Berlin: Aushalten oder lassen
Nun, das ist eben die Gefahr, wenn man sich als Schauspieler*in auf der Bühne mit persönlichen Geschichten angreifbar macht, wie #5 sagt. Dann muss es trotzdem ausgehalten werden, wenn die Darstellung oder eher Zurschaustellung dessen kritisiert wird, auch mit harten Worten. Es führt eben nicht immer zu tieferen Auseinandersetzungen, sondern kann paradoxerweise zum Gegenteil dessen führen. Sich selbst spielen oder sich selbst ins Verhältnis zu Figur und Geschichten setzen durch Heraustreten aus diesen birgt die Gefahr, jegliche Ambivalenz, jedwede Spannung und unterschwellige Ebenen zu verlieren. Und dann kommt eben Erklär- und Moraltheater heraus wie in diesem Fall. Uns wird ja die ganze Zeit gesagt, was wir denken und wie wir das finden sollen. Es gibt kaum Uninteressanteres auf einer Bühne. Und zu #7: wenn man sich auf eine Bühne stellt und das auch noch mit persönlichen Geschichten, kann man doch nicht erwarten, dafür nicht kritisiert oder sogar angegriffen zu werden. Das muss man sogar erwarten. Dann muss man es entweder aushalten oder es unterlassen.
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