Hose runter, Witz raus!

5. Mai 2024. Olle Klamotte? Von wegen! Mit dem Schenkelklopfer um den erlebnishungrigen Onkel Klapproth, der unter schillernden Irren das echte Leben sucht, hat schon Frank Castorf an der Berliner Volksbühne Theatergeschichte geschrieben. Max Simonischek wurde jetzt als beinharter Komödienregisseur nach Cottbus gerufen. Und er liefert.

Von Sylvia Belka-Lorenz  

"Pension Schöller" in der Regie von Max Simonischek am Staatstheater Cottbus © Bernd Schönberger

5. Mai 2024. Der Abend ist furchtbar. Der Abend ist hinreißend. Pension Schöller, ein aus der Zeit gefallener Schenkelklopfer: albern, plump, frei von Subtilität und (identitäts-)politischer Korrektheit. Und wenn schon der Pressetext "einen verrückten Abend zum Tränenlachen" ankündigt, dann geht sowas ja gerne auch mal schief. Nun hätte spätestens zur Pause jede*r die Chance gehabt, das Theater ohne Aufhebens zu verlassen – stattdessen mag man nicht einmal Klo oder Bar aufsuchen, so sehr hat der Wahnsinn da schon um sich gegriffen. Aber von vorn.

Der Pensionär Philipp Klapproth hat eigentlich alles: Geld, seine Ruhe und eine Affinität zu gewagten Anzügen. Allerdings plagt ihn die Langeweile, getarnt als Sehnsucht nach dem vermeintlich echten Leben. Die Grenzerfahrung, die ihm vorschwebt, ist ein Ausflug in eine Irrenanstalt. Klapproths Neffe Alfred hat die Idee, die nahegelegene Pension Schöller als psychiatrische Anstalt auszugeben. Das funktioniert ganz gut, denn sämtliche Bewohner sind exzentrisch genug, um jederzeit als Patienten durchzugehen.

Behämmert, lächerlich, emotional unterversorgt

Onkel Philipp ist im Paradies. Womit er nicht rechnet, ist, dass er den Wahnsinn nicht nach Belieben wieder abschütteln kann und dass all die Bekloppten wenig später auf seinem ehemals so idyllischen Landsitz im Brandenburgischen auftauchen. Und mit ihnen die Frage, ob die alten Zuordnungen von Wahnsinn und Normalität so eigentlich noch haltbar sind.

"Immer spielt ihr und scherzt?" Friedrich Hölderlin hat das den Verzweifelten zugeschrieben. Die Welt ist aus der Ordnung geraten, sie ist nicht mehr zu verstehen, vielleicht auch nicht zu retten. So ist der Wahnsinn spätestens im 20. Jahrhundert zu einem der zentralen Motive in Kunst und Literatur geworden, verschwimmen doch die Grenzen zwischen Normalität und Irrsinn in atemberaubendem Tempo. Nun kann es gut sein, dass das weit mehr ist, als den Autoren Wilhelm Jacoby und Carl Laufs jemals vorgeschwebt hatte. Zwei Karnevalisten, die sich vor 130 Jahren anschickten, ihre Hauptfigur auf einen schnöde-voyeuristischen Trip Richtung Klapse zu entsenden. Die Pointe: keiner der Bekloppten, auf die er da trifft, hat eine amtliche Diagnose. Alle sind behämmert und lächerlich, einsam und emotional unterversorgt. Der Irrsinn ist nichts anderes als eine Projektion – im Theater wie im richtigen Leben.

Pension Schoeller 1 CBerndSchoenberger uOhne Vorwarnung in den nächsten Gag: Susann Thiede (Schöller), Manolo Bertling (Philipp Klapproth) und Raphael Kübler (Prof. Bernhardy) © Bernd Schönberger

Max Simonischek, Schauspieler und Regisseur, aufgewachsen im "Biotop Theater" und selber kampferprobt auf den großen deutschsprachigen Bühnen und vor Kameras, wurde nach Cottbus geholt, um nichts Geringeres abzuliefern als beinharte Komödie. Und er liefert. Alles, was am Theater normalerweise (sic!) verpönt ist: Es wird chargiert, gealbert und gekreischt. Tür auf, Tür zu, ran an die Rampe, Klaps auf Po, runter mit der Hose, raus mit dem nächsten platten Wortwitz. Ohne Vorwarnung brechen Figuren aus in den nächsten Gag, den nächsten Slapstick; eine Schauspielschule auf Drogen.

Das funktioniert, weil er hier das Ensemble dafür hat – und allen voran Manolo Bertling als Philipp Klapproth und Johannes Scheidweiler als Eugen Rümpel, den Möchtegern-Schauspieler mit dem legendären Sprachfehler. "Anne Knassiker" möchte er geben, den Hamnet und König Near, Schinner und Nessing, wäre da nicht permanent seine Zunge im Wege.

Begeisterung im Nuss-Schlüpfer

Der Abend hat seine Längen. Und er spart nicht mit Plattheiten. Der Großwildjäger trägt einen Plüschlöwen um die Schulter und Socken mit Animalprint, Herr Klapproth begeistert im Nuss-Schlüpfer. Aber weil das Publikum so vergnügt mitzieht, albert man sich auf der Bühne mitunter in Rage. Der Gipfel: Schauspiel-Aspirant Eugen Rümpel deklamiert Schillers "Glocke". Das ist hart ohne L. Eugen macht es wett mit viel, sehr viel Ambition. Schinners Gnocke wird ein ums andere Mal von vorne begonnen – da lässt er sich von den Bühnenarbeitern beim Umbau nicht abhalten und nicht von der Pause und von den geöffneten Saaltüren. Eugen spielt – und nicht wenige Menschen ziehen mit ihm die Pause durch.

Pension Schoeller 5 CBerndSchoenberger uTür auf, Tür zu und immer ran an die Rampe: Kai Börner (Gröber, Major a. D.), Manolo Bertling (Philipp Klapproth) und Sigrun Fischer (Ida Klapproth) © Bernd Schönberger

Eine der vielen guten Ideen des Abends war es, Harald Thor dafür eine völlig abstrakte Bühne bauen zu lassen. Große ramponierte Pappkisten, die wahlweise Caféhaus, Klapse oder Klapproths Landsitz sind; zwei davon übereinander gestapelt ergeben eine zweiteilige Giraffe, die Lydia heißt. Ebenso gut lassen sich darin die ganzen Irren verstauen, als sie Klapproth auf seinem Landsitz im Sinne des Wortes heim-suchen (eine der wunderbaren Etüden: Klapproth in einer der Kisten in einem Schaumbad aus Knüllpapier).

Eine kühne Spielplanentscheidung, mit der Theater- und Schauspielleitung auf die ausdrückliche Forderung des Cottbuser Publikums reagieren, hier endlich mal wieder ein "richtiges" Stück anzubieten; nichts queer-feministisches, nichts mit nervigen Verweisen auf eine noch nervigere Gegenwart. Die hohe Kunst war es, genau das zu liefern – allerdings mit den drei Umdrehungen mehr, die den Unterschied ausmachen zwischen Provinztheater und Kunst.

Welt, Bühne, Irrenhaus

Der Abend geht auf, weil Cottbus aktuell das qualitativ beste Schauspielensemble seit der Christoph-Schroth-Ära versammelt hat. Da aber die Brandenburger Kulturpolitik nicht minder irrational funktioniert als Schöllers Pension, deswegen wird es das in der Konstellation unter der dreiköpfigen Leitung um Armin Petras nicht mehr lange geben. Intendant Stephan Märki wird das Haus verlassen; bis heute hat es das Kulturministerium nicht fertiggebracht, seine Nachfolge zu klären. Die hochkarätigen Kandidaten haben, Überraschung, wenig Lust auf Sparzwänge und undurchsichtige politische Strukturen; gute Leute drohen indes abhanden zu kommen. Theatrum Mundi. Die Welt ist eine Bühne, die Bühne ist die Welt – und die Welt ist ein Irrenhaus. Was zu beweisen war. 

Der Applaus geht so lange, dass am Ende tatsächlich drei Stunden komplett sind. Großes Theatervergnügen. Ein Kniefall vor der Schauspielkunst. Und der Verdacht: Wir sind alle Patienten.

 

Pension Schöller
von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs in einer Bearbeitung von Jürgen Wölffer
Regie: Max Simonischek, Bühne: Harald Thor, Kostüme: Tanja Hofmann, Musik: Daniel Freitag, Dramaturgie: Wiebke Rüter.
Mit: Manolo Bertling, Sigrun Fischer, Markus Paul, Susann Thiede, Lucie Luise Thiede, Johannes Scheidweiler, Kai Börner, Ariadne Pabst, Raphael Kübler.
Premiere am 4. Mai 2024
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-cottbus.de

 

Kritikenrundschau

In dieser Inszenierung sei "sichtlich die Freude des 41-jährigen Regisseurs zu spüren, Gewohntes hinwegzufegen und die verschiedensten Charaktere in all ihrer Skurrilität auf die Bühne zu bringen", schreibt Ida Kretzschmar in der Märkischen Oderzeitung (6.5.2024). Beinahe bis zur "Schmerz- und Lachgrenze" suche Simonischek nach Antworten: "Wie tolerant können wir sein? Sind wir bereit, Andersartigkeit, Andersdenkende zu akzeptieren?" Die Schauspieler seien zudem "spitze", ist die Kritikerin erfreut.

Simonischek erwecke den politisch unkorrekten, aber temporeichen Text zum Leben und mache eine aberwitzige Groteske über unsere Welt daraus, ebenso wie ein Fest der Fantasie und der Schauspielkunst, sagt Frank Dietschreit beim rbb (6.5.2024). Schrille Typen agierten in Kisten und Kästen aus Papier und Pappe – alles sei möglich und anders als man denke, so Dietschreit. Die Inszenierung, die sich textlich eng an die die Vorlage halte, wirke als würden sich Wolfgang Ambros und Tom Waits "zu einem völlig verrückten Konzert auf dem Wiener Zentralfriedhof treffen". Allein Johannes Scheidtweilers Figur des Eugen Rümpel (die Max Simonischek selbst schon gespielt habe) lohne einen Theaterbesuch – wie er "im Dschungel der Buchstaben und im Dickicht der Buchstaben so rumfischt und -fummelt, das ist ganz, ganz große Schauspielkunst, da möchte man niederknien".

 

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