Die mit den Krähen spricht

9. Mai 2024. In ihrem preisgekrönten autobiografischen Roman "Ein von Schatten begrenzter Raum" erzählt Emine Sevgi Özdamar ihre Geschichte als die Geschichte einer Frau, die nur im Theater wirklich eine Heimat finden konnte. Nuran David Calis hat das gewaltige Werk nun auf die Bühne gebracht.

Von Gerhard Preußer

"Ein von Schatten begrenzter Raum" nach dem Roman von Emine Sevgi Özdamar am Schauspiel Köln © David Baltzer

9. Mai 2024. "Ein von Schatten begrenzter Raum“ ist ein Theaterroman. Emine Sevgi Özdamar ist Schauspielerin. Was liegt näher, als den Roman auf die Bühne zu bringen? Aber das hat seine Tücken. 760 Seiten, 50 Jahre Lebensgeschichte, ein Stil, der die Welt mit der Lupe betrachtet, mit Liebe zu jedem Detail und jedem Menschen. Das passt doch nicht in einen Theaterabend. Aber das Theater hat dafür Mittel entwickelt. Und Nuran David Calis‘ Inszenierung nutzt sie alle.

Stationen einer Lebensreise

Ein halbierter Eisenbahnwagon ist das zentrale Element des Bühnenbilds (Bühne: Anne Ehrlich), etwas ältlich, wie aus den 1970er, 1980er Jahren, die Fenster lassen sich noch öffnen. Unterwegs ist die Erzählerfigur, von Istanbul nach Berlin, nach Paris, Belgien, Avignon, wieder Berlin, Bochum. Auf die im Roman immer wiederholte Frage: "Madame, wo wohnen Sie?“ folgen immer unterschiedliche Antworten: bei einem Menschen, bei einem Ding, bei einem Tier. Einmal ist es ein Bochumer Eichhörnchen. So versucht die Bühne in ein Bild zu packen, was die Erzählung in einen lang gestreckten zeitlichen Ablauf fügt.

Emine Sevgi Özdamar ist Schauspielerin und ihre Figur, die das Leben ihrer Autorin in der ersten Person erzählt, ist es auch. Autorin wie Erzählerin kommen zunächst 1965, dann 1976 aus Istanbul nach Berlin. Die Autorin fühlt sich wohl in einer Rolle, sie selbst zu sein und eine andere. Also gibt es auf der Bühne drei quasi Emine Sevgi Özdamars, mit langem schwarzem Haar, geschminkten Augen. Geschlecht spielt keine Rolle, die Persönlichkeit der Schauspielerinnen (Kristin Steffen, Michaela Steiger) und des Schauspielers (Daron Yates) schon.

Diverse Emine Sevgi Ozdamars im Zugabteil © David Baltzer

Özdamar ist in der Theaterwelt auch berühmt geworden durch ihre Fähigkeit, Proben mitzuzeichnen. Das hat sie bei Benno Besson in den 70er Jahren in der Volksbühne Berlin-Ost getan, dann bei Besson in Avignon, später bei Matthias Langhoff in Bochum. Also werden Storyboards (gezeichnet von Nuran David Calis) projiziert, die jeweils die Stationen von Özdamars Lebensreise zeigen.

"How does it feel without home?"

Der Roman ist vielschichtig, wechselt die Schauplätze und Zeiten, springt vor und zurück. Nicht nur alles, was in den 70 bis 90er Jahren Rang und Namen hatte in der europäischen Theaterwelt, kommt vor, sondern auch, was in der Türkei geschah, zwei Militärputsche 1960 und 1980, der Völkermord an den Armeniern 1915, der Bevölkerungstausch zwischen Griechenland und der Türkei 1924, die Besetzung Griechenlands durch die Deutschen 1944, die Euphorie der Istanbuler Jugend 1968.

Entsprechend vielfältig versucht die Bühne Vorder- Hinter- und Seitengründe zu zeigen. Anfangs eine, später drei, Kameras zeigen, was vor dem Bahnwagon geschieht. An den Seiten gibt es ein französisches Café, ein breites Bett, ein türkisches Wohnzimmer mit Teppich. Durch die Fenster des Wagons sieht man häufig eine(n) Darsteller:in an einem Schreibtisch Text in eine Schreibmaschine tippen.

Durch ein anderes Wagonfenster sieht man eine(n) Schauspieler:in an einem Schminktisch den Spiegel bemalen. Wenn die eine Schauspielerin mit den Krähen über ihr Leben spricht, schwingen die beiden anderen im Hintergrund riesige Krähenflügel. Musik gibt es auch. Nahliegende Songs werden eingespielt und leise nachgesungen: Bob Dylans "How does it feel without a home, like a rolling stone“, Edith Piafs "Non, je ne regrette rien“.

Aber wer ist Karl?

Alle Mittel sind da, sind zueinander in Bezug gesetzt, und kommen dem Roman doch nicht bei. Özdamars Art, die Welt zu sehen, wie sie Dinge sprechen lässt, wie sie Glücksmomente dehnt, wie sie Privates und Politisches ineinander verschlingt, ist ein sprachliches Phänomen. Und diese lustvolle, metaphernreiche Sprache verfliegt im Eiltempo der Inszenierung. Schnellsprechübungen hört man. Sie müssen sein, wenn man Özdamars minutiöse Beschreibungslust in knapp zwei Stunden unterbringen will.

Schatten Raum 4 CDavidBaltzer uIm Café in Paris © David Baltzer

Die vielen Namen, die Özdamar nennt ("Wenn man von seinem eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an. Dann werden nur manche besonderen Menschen dein Land.“) erhascht man nur, wenn man sie schon kennt. Da ist man froh, wenn Benno Besson, Hermann Beil und Heiner Müller sichtbar von den Schauspieler:innen karikiert auferstehen.

Aber wer ist Karl, der mit der Protagonistin ihre Eltern in der Türkei besucht? Wer es nicht schon weiß, kann nicht erkennen, dass dies der Bühnenbildner Karl Kneidl ist, Özdamars Ehemann. Szenische Aktion kommt nur in Andeutungen oder wilden Übertreibungen vor. Die Inszenierung komprimiert und überzeichnet – das Gegenteil von Özdamars Erinnerungsgenauigkeit und Gefühlsunmittelbarkeit.

Keine Übersicht

Im Spielplan des Kölner Schauspiels ist die Inszenierung eine sinnvolle Ergänzung zu Akın Emanuel Șipals "Akıns Traum (vom Osmanischen Reich)“, weil nun die moderne Türkei aus einer oppositionellen Perspektive in den Blick kommt. Die Inszenierung will mit Tempo und mit komplex ineinander verzahnten Theatermitteln einen eigenen Weg finden, Özdamars Geschichte theatergemäß zu erzählen. Aber weder erreicht die Inszenierung damit eine Übersicht über die Geschehnisse noch eine emotionale Wirkung, die auf Empathie beruhte. Was dem Publikum bleibt, ist nur der leicht angestrengte gedankliche Nachvollzug des aufregenden, glücklichen, selbstbestimmten Lebenswegs einer türkischen Künstlerin der 1968er-Generation in Europa.

Ein von Schatten begrenzter Raum
nach dem gleichnamigen Roman von Emine Sevgi Özdamar
In einer Bühnenfassung von Stawrula Panagiotaki
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Musik: Vivan Bhatti, Licht: Michael Frank, Storyboards: Nuran David Calis, Dramaturgie: Ida Feldmann.
Mit: Kristin Steffen, Michaela Steiger, Daron Yates.
Premiere am 8. Mai 2024
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

 

Kritikenrundschau

Der Fokus der Inszenierung liege auf dem immer noch aktuellen Debattenthema um Identitätskonflikte der Erzählerin, bemerkt Max Florian Kühlem in der Süddeutschen Zeitung (9.5.2024). "Das Drama, das im Buch auf der intellektuellen Ebene abläuft, auf der Ebene sprachlicher Bilder und Verwandlungen, wird auf der Bühne zum emotionalen Drama. Das hat eine andere, eigene Kraft und Energie - man klatscht am Ende gerne lang, aber eben nicht euphorisch."

Von einem interessanten Theaterabend spricht Axel Hill in der Kölnischen Rundschau (10.5.2024), auch wenn er den Eindruck hat, dass "hier etwas wahllos das Regie-Besteck eingesetzt wird". Die Geschichten seien spannend, die Gedankenflüge nachvollziehbar, die Anekdoten unterhaltend. "Das Trio spielt intensiv, lotet sowohl Zwischentöne als auch den sprichwörtlichen Zucker für den Affen aus." Trotzdem bleibt für den Kritiker die Frage offen, "ob es gutes Theater ist, wenn mehr oder weniger ein Prosatext vorgetragen wird." Dem zentralen theatralen Moment der Interaktion zwischen Charakteren, dem Mit- und Gegeneinander von Figuren könnten Zuschauer in diesem Format nicht beiwohnen. "Der Dialog weicht dem Monolog, auch wenn dies wie hier im Depot von großer Spielfreude getragen wird."

Mit der Kraft des Romans kann der Abend nicht mithalten. Aber wie Kunst im Transit entsteht, in erzwungenen oder freiwilligen Fluchtbewegungen und mutigen Grenzüberschreitungen, das zeigen Nuran David Calis und
sein Ensemble sehr eindrücklich", schreibt Christian Bros im Kölner Stadtanzeiger (10.5.2024)

"Regisseur Nuran David Calis entzündet ein Feuerwerk an Bühnenmitteln", berichtet Dorothea Marcus für die taz (11.5.2024). "Calis spielt Nina-Hagen-Songs ein, lässt Piaf- und Dylan-Songs singen, eröffnet immer neue Bühnen- und Soundräume: Hubschrauber kreisen, die Schauspieler karikieren Theatergrößen, gehetzt rasen sie durch die Monolog-Massen, sprechen seltsam burschikos-aufgesetzt." Schön sei es, "wenn sich Momente der Stille auf den Spielinseln ergeben". Fazit: "Wenn dieser Theaterabend noch etwas gebraucht hätte, dann mehr Mut und Ruhe, diese kleinen Dinge zu betonen."

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