Trotzdem weiter erzählen 

5. Mai 2024. Mit einer Tänzerin, einer Sopranistin und einem Schauspieler besetzt Wu Tsang die Hauptfigur in ihrer "Carmen" nach Georges Bizet. Als spartenübergreifende Produktion ist der Abend gesetzt, mit Text-Bearbeitungen von Sophia Al-Maria und Choreografien von Josh Johnson. Doch wie hoch ist der Mehrwert, den sie damit schafft?

Von Christa Dietrich

"Carmen" von Wu Tsang, Moved by the Motion und der Autorin Sophia Al-Maria adaptiert am Schauspielhaus Zürich © Inés Manai

5. Mai 2024. Sie sind zu dritt. Eine raucht betont lasziv, in ihren schwarzen Haarlocken steckt eine rote Blüte. Eine zweite, üppig kostümiert als Operndiva, lacht schrill. Die Dritte liegt am Boden. Sie wird nach einiger Zeit weggeschleift. Wer die Musik schon nach ein paar Takten zuordnen kann, darf sich sicher sein: Trotz der Verdreifachung der Figur handelt es sich beim ersten Bild um ein vorweggenommenes Finale der Oper "Carmen".

Das 1875 uraufgeführte Werk mit der Musik von Georges Bizet endet tragisch und zählt dennoch zu den unangefochtenen Hits dieses Genres. In Zürich hatte die Neuinszenierung nun nicht im Opernhaus Premiere, sondern im Schauspielhaus beziehungsweise dessen Dependance, dem Schiffbau.

Reduktion aufs Wesentliche

Wu Tsang, die US-amerikanische Filmemacherin, Performancekünstlerin und Regisseurin, verantwortet diese Fassung mit Tanz und vielen Sprechpassagen. Fürs Verständnis sind Kenntnisse in Französisch (für das Originallibretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy) als auch in Englisch, in Deutsch und Spanisch hilfreich. Wobei der Blick auf den Screen mit der Übersetzung nicht von der Handlung ablenken dürfte, gleichen Bühnenkonstellation und Personenführung doch eher einer erweitert konzertanten Aufführung dieser Oper in Kostüm und Maske. Tanz ist in solchen Umsetzungen oft dennoch vorgesehen. Und meistens ist er dabei sogar aufwendiger als das handlungsbasierte Bewegungsvokabular, das das Ensemble Moved by the Motion nun sehen lässt.

Denn Choreograf Josh Johnson hat Reduktion verordnet. Wer die Zürcher Arbeiten wie "Der Sturm" oder „Moby Dick“ von Wu Tsang in Erinnerung hat, sieht sich wieder Sparsamkeit ausgesetzt. Für die Bühne liefern Nicole Hoesli und Nina Mader nicht mehr als einen hohen Arenabogen, der auch als Eingang zur Zigarrenfabrik und zur Schenke dient, sowie ein paar Steine und ein Baumskelett für die Schmugglerszenen. Kyle Luu (Kostüme) zeigt die Flamenco- und Uniformassoziationen und weil Alicia Aumüller den Leutnant Zuniga und einen Uni-Professor zu spielen hat, ist ihr Anzug zweigeteilt. 

Carmen1 1200 Moved by The Motion uRuf nach Freiheit? Wu Tsangs "Carmen" © Inés Manai 

Diesen Professor hat die Autorin Sophia Al-Maria hinzugeschrieben. In Anlehnung an den Erzähler in der dem Opernlibretto zugrunde liegenden Novelle von Prosper Mérimée forscht eine Studentin nach Hinrichtungen in der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Um Geldgeber des Instituts nicht zu vergrämen, die die Vergangenheit lieber ruhen lassen, wird ihre Arbeit jedoch behindert. 

Zusätzliche politische Perspektive

Konkrete historische Fakten fördert diese Meriem dabei nicht zutage, mit dieser Textadaptierung erhält die Inszenierung jedoch eine zusätzliche politische Perspektive. Das ist gut gesetzt. Durch die Dreifachbesetzung der Hauptfigur mit der Mezzosopranistin Katia Ledoux, der Performancekünstlerin Tosh Basco und dem Schauspieler Benjamin Radjaipour werden gleichsam Rollenbilder hinterfragt. 

Ein wesentlicher Handlungsaspekt, nämlich der grausame Femizid, wird von der Regie dann allerdings nicht weiter thematisiert. Er passiert. Nicht nur Opernkenner wissen es: Während Carmen ein selbstbestimmtes Leben führen will und mit ihren Partnern den Augenblick genießt, verbindet Don José Liebe mit Besitz und ermordet die Frau. 

Carmen4 1200 Ines ManaiWu Tsangs "Carmen" © Inés Manai

Micaëla, das angepasste Mädchen, kommt in Wu Tsangs Bearbeitung nicht vor und der Stierkämpfer Escamillo, salopp gespielt von Steven Sowah, ist eher Schwerenöter als Carmens männliches Pendant. Carmen bleibt somit auch hier die singuläre Erscheinung, die Rebellin. Trotz der Bearbeitung offenbart Wu Tsang die Absicht, Neulinge erst einmal an den Stoff heranzuführen. 

Guter Arrangeur

Bizets Musik bringt das Collegium Novum Zürich unter der Leitung von Jonathan Palmer Lakeland zur Wirkung. Die Eingriffe von Andrew Yee sind das Ergebnis eines guten Arrangeurs. Dass man in dem vorwiegend rot-schwarzen Ambiente akustisch nichts vermisst, ist auch den Stimmen zuzuschreiben. Der Tenor Ryan Capozzo (Don José) lässt viel Potenzial hören und die Mezzosopranistin Katia Ledoux bringt warmes Timbre ein. Ein schlank besetztes Orchester, das im Hintergrund agiert, ist zwar eine kleinere Hürde als ein voller Orchestergraben, aber das Interagieren mit der Tänzerin und dem Schauspieler ist eine Herausforderung.

"Kämpfen, rational sein, abergläubisch sein, Angst haben, sich selbst verlieren …", heißt es im hinzugefügten, mitunter pathetisch ausgefransten Epilog. "Zu wissen, wie diese Geschichte endet, sie trotzdem weiter zu erzählen", lautet eine weitere Aufforderung. Nicht wesentlich mehr passiert in dieser Produktion, aber auch nicht weniger.

Carmen
Nach der Oper von Georges Bizet und der Novelle von Prosper Mérimée
In einer Fassung von Moved by the Motion mit der Autorin Sophia Al-Maria
Inszenierung: Wu Tsang, Choreografie: Josh Johnson, musikalische Leitung: Jonathan Palmer Lakeland, Bühne: Nicole Hoesli und Nina Mader, Kostüme: Kyle Luu.
Mit: Katia Ledoux, Tosh Basco, Benjamin Radjaipour, Ryan Capozzo, Perle Palombe, Alicia Aumüller, Steven Sowah, Tabita Johannes, Josh Johnson, Sophie Yukiko, Simon Thöni, Tänzerinnen und Tänzer
Premiere am 4. Mai 2024 
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch

Kritikenrundschau

Wu Tsangs Inszenierung sei "von einer archäologischen Suche getrieben", schreibt Lilo Weber in der NZZ (6.5.2024). "Schnelle Rhythmen peitschen die Auseinandersetzungen um diese Suche an, als würde hier eine Uhr durch die Jahrhunderte ticken." Der Abend versuche, die "Männerphantasie" des Stoffs "Schicht um Schicht abzutragen" – zusammen mit dem "formidablen Collegium Novum unter der Leitung von Jonathan Palmer Lakeland" gelinge "großes Theater".

Katia Ledoux sei "ohne Wenn und Aber Herz und Highlight des Abends", findet Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (5.5.2024). Überhaupt seien es "die musikalischen Anteile, die aus der gewagt heterogenen Soiree herausleuchten". Der "Gegenwartsbezug" stürme "als eine Art Parforceritt in die Oper hinein" und die auf Bizet "fußende großartige, durchaus auch schräge Komposition von Andrew Yee" sei "wahrlich Grund genug für den lauten Premierenjubel und die stehenden Ovationen", so die Kritikerin.

Szenisch komme diese Fassung mit neuer Nebenhandlung "zwar etwas pathetisch daher, aber die Aussage ist klar", so Dagmar Walser im SRF (6.5.2024): "Die Geschichte wiederholt sich immer wieder, ist über Genres, Sprachen und Zeiten hinweg verbunden und gerade starke, unabhängige Frauen zahlen dabei einen hohen Preis und oft mit ihrem Leben." Leider bleibe die Inszenierung bei diesen konzeptuellen Andeutungen stehen, das Bühnengeschehen wirke über weite Strecken seltsam statisch. "Und so übernimmt dann doch immer wieder die Musik den Lead – obwohl die Inszenierung doch über die tradierte Darstellung der Oper hinausgehen wollte."

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