nachtkritik-Theatertreffen 2024: das Ergebnis
Lieblinge 2024
19. Januar 2024. Das 17. virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2024 ist entschieden! Die Leser:innen von nachtkritik.de haben aus den 43 Vorschlägen der nachtkritik-Autor:innen ein Tableau aus zehn Inszenierungen gewählt. Insgesamt stimmten 7115 Wähler:innen ab und vergaben 10832 Stimmen.
Das Ergebnis
19. Januar 2024. Wie jedes Jahr wurde das Gros der Stimmen pro Wahlgang für eine Herzensinszenierung abgegeben. Die Abstimmungen, in denen für die maximal mögliche Anzahl von zehn Produktionen votiert wurde, bilden die Ausnahme. Das nachtkritik-Theatertreffen ist und bleibt eine Mobilisierungswahl, bei der Fans ihren Häusern, Künstler*innen oder den konkreten Abenden volle Unterstützung verleihen.
Wie uns verschiedene Rückmeldungen zu verstehen gaben, hat unsere IP-Sperre ihren Auftrag in diesem Jahr gar zu ernst genommen und Leser*innen, die gerne bei der Wahl mitmachen wollten, unverrichteter Dinge von dannen ziehen lassen. Wir werden im nächsten Jahr hier einen Austausch vornehmen und ein gütigeres Modul verwenden.
Zu den zehn Inszenierungen mit den meisten Voten gehört einerseits vor allem politische Spurensuche und die Aufarbeitung der rechtsextremen Terroranschläge in Hanau und Soligen. Ins Tableau gewählt wurden Ayşe Güvendirens "Als wäre es gestern gewesen" vom Nationatheater Mannheim, Tuğsal Moğuls "And now Hanau", eine Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Theater Münster, Theater Oberhausen und Bassam Ghazis "Solingen 1993", eine Produktion des Stadt:Kollektiv am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Andererseits erhielten große Klassiker-Inzenierungen mehr Voten als andere Arbeiten: Ulrich Rasches "Agamemnon", Johan Simons' siebenstündige Dostojewski-Erkundung "Die Brüder Karamasow", "Richard III." von Evgeny Titov am Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert.
Das ist das Publikumsergebnis mit den zehn favorisierten Inszenierungen in alphabetischer Reihenfolge (mit den Begründungen unserer Autor:innen für ihre Nominierung).
Agamemnon von Aischylos Regie: Ulrich Rasche Residenztheater München, Koproduktion Epidauros-Festival Premiere am 8. Dezember 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed} Die Beharrlichkeit, mit der Ulrich Rasche seiner sehr persönlichen Ästhetik seit bald zwei Jahrzehnten treu bleibt, stößt auf bisweilen harsche Ablehnung bei den Anhängern eines psychologisch-realistischen Theaters. Wer eine dezidierte Handschrift, das Primat der formalen Strenge vor der Einfühlung schätzt, wird nicht müde, Rasches Umsetzungen, bei aller scheinbaren Gleichförmigkeit, zu bestaunen. Sein "Agamemnon" beginnt mit vier Musikern, die an Marimbas und später an einer Batterie verschiedener Trommeln durchgängig die rhythmisierte Sprache begleiten. Der Chor schreitet, erst als Schattenriss, dann im Halbdunkel unaufhörlich auf der Drehbühne vor und zurück. Den Duktus könnte man als Sprechoper kennzeichnen. Chor und Protagonisten bilden bei Rasche eine Einheit, im Gegensatz zu den Orestien von Peter Stein und Ariane Mnouchkine, die den Kontrast von Chor und Individuum pointierten. Klytämnestras Mord an Agamemnon wird in blendendes Licht getaucht. Die Rächerin Iphigenies und Rivalin Kassandras sowie ihr Komplize Ägisth treten splitternackt auf, triumphierend, wie ein Vorgriff auf die Elektra von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, deren Opfer sie im zweiten Teil der Trilogie, in den Choephoren, werden. Der Münchner "Agamemnon" erweist sich als Triumph für Ulrich Rasches Methode. Die Fabel ist ja bekannt, und dass der Krieg, in Troja, in der Ukraine, in Israel schrecklich und grausam ist, bedarf wohl keiner Aufklärung, tendiert zur Banalität. Den Mehrwert auf der Bühne macht die Ästhetik aus. (Thomas Rothschild) |
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Als wäre es gestern gewesen von Ayşe Güvendiren Regie: Ayşe Güvendiren Nationaltheater Mannheim Premiere am 2. Dezember 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed} Tag für Tag werden in Deutschland Menschen Opfer rechter und rassistischer Gewalt. Taten und Täter bleiben in Erinnerung, die Opfer meist nicht. Deshalb sucht die Regisseurin Ayşe Güvendiren nach einer angemessenen Form des kollektiven Erinnerns. Das Stück "Als wäre es gestern gewesen", das sie für die Schauspielsparte des Mannheimer Nationaltheaters konzipiert und inszeniert hat, beschreibt sie als einen Versuch, "einen Gedenkabend zu gestalten, der die Gewalt – soweit es geht – ausklammert und die Leben, die Geschichten, die Träume, die Sehnsüchte der Betroffenen in den Fokus nimmt". Dafür hat sie die Familien der Opfer befragt. Hat Geschichten aus dem Leben der Ermordeten gehört, die nun auf der Bühne weitererzählt werden. Hat Fotos gesammelt, die in den Raum gebeamt werden, und Songs, die sich die Hinterbliebenen zum Gedenken an ihre Liebsten gewünscht haben: Lieblingslieder der Opfer oder solche, an die sich positive Ereignisse knüpfen. Es ist ein emotional sehr komplexer, aufwühlender und kraftvoller Abend geworden, der sehr nahe geht. Er soll "trotz allem eine Feier des Lebens und der Zuversicht" sein und den Hinterbliebenen als Empowerment dienen. Denn, so Güvendiren: "Auch Trauer muss man überleben." Dass dieser inszenierte Liederabend so gut funktioniert, dafür ist die berührende Hingabe verantwortlich, mit der die Schauspieler:innen Leonard Burkhardt, Antoinette Ullrich, Larissa Voulgarelis und der Musiker Torsten Knoll spielen, singen und erinnern. Alle Lieder werden in den Originalsprachen performt. Dafür hat das Ensemble die jeweilige Aussprache – ob Türkisch, Griechisch, Vietnamesisch, Wolof oder Jiddisch – mit Sprach-Coaches genau einstudiert. (Verena Großkreutz) |
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And now Hanau von Tuğsal Moğul Regie: Tuğsal Moğul Ruhrfestspiele Recklinghausen, Theater Münster, Theater Oberhausen, Maxim Gorki Theater Berlin Premiere am 12. Mai 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed}Die kritische Aufarbeitung des rechtsextremen Terroranschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau ist politisches Theater im besten Sinne, weil es nicht nur fragwürdige Momente und Widersprüche in der staatlichen Umgangsweise mit dem Terroranschlag, von der Tatnacht über die nachfolgende Aufklärung in dokumentarischer, gleichwohl spannend gespielter Weise aufdeckt. Die Wahl des Oberhausener Ratssaals stellt das Stück in produktive Spannung mit dem Spielort im physischen Zentrum kommunaler Macht. Darüber hinaus aber leisten Stück und Inszenierung wertvolle Erinnerungsarbeit, indem sie die Terroropfer als liebenswerte Menschen porträtieren und somit vor dem Vergessen bewahren. Theater ist hier eng verbunden mit dem gesellschaftlichen Engagement der Hanauer Initiative 19. Februar und erhebt eine wichtige Stimme auf der Bühne im Einwanderungsland. (Karin Yeşilada) |
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Das 13. Jahr von Signa Konzept und Regie: Signa und Arthur Köstler Deutsches Schauspielhaus Hamburg Premiere am 21. Oktober 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed}Der fundamentale Reiz der Nähe war, ist und bleibt unvergleichlich – Signa und Arthur Koestler haben diesmal den deutlich als "Simulation" gekennzeichneten Versuch unternommen, uns, das Publikum, zurückzuverwandeln in 12-jährige, die in einem rätselhaften, verhext-verfluchten und immer nebelschweren Dorf stranden, in armseligen Hütten und bei noch armseligeren Familien, zurückgeworfen auf sich selbst ... Erstmals waren Ensemble-Mitglieder vom Schauspielhaus integriert - wie das Publikum fühlten sie sich enorm bereichert und entgrenzt. Ein europäischer Kulturfonds übrigens müsste her, der diese Art von Theater finanziell absichert - denn selbst wohlhabende Bühnen werden sich (das steht zu fürchten) solche Kraftakte absehbar kaum noch leisten können. (Michael Laages) Signa bauen wieder eine Horrorlandschaft, wie gewohnt mit ausgesucht trostloser Ausstattung und mit einem seltsamen, passiv-aggressiven Figurentableau, das dem Publikum den Besuch zur Hölle macht. Aber diesmal behaupten Signa nicht mehr eine verstörende Realität, von vornherein ist klar, dass man es bei "Das 13. Jahr" mit einer Inszenierung zu tun hat. Ein Albtraum ist es trotzdem, womöglich noch unerträglicher als frühere Arbeiten des österreichisch-dänischen Kollektivs. (Falk Schreiber) |
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Die Brüder Karamasow nach Fjodor Dostojewski Regie: Johan Simons Schauspielhaus Bochum Premiere am 14. Oktober 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed}"Die Brüder Karamasow“ – eines langen Tages Reise in die Nacht und ins Licht froher Botschaft. Die siebenstündige Dostojewski-Erkundung von Johan Simons und seinem wunderbaren Ensemble im Schauspielhaus Bochum ist im Gesamten ihrer Stimmungswechsel und -bilder wie eine Sinfonie, die uns durch ihre verschiedenen Sätze führt. Die Aufführung nimmt das Wesen einer hellwachen Séance an, um ganz bei sich zu sein und aus ihrer lauernden Entspanntheit jähe Ekstase, wilde Jagd, kollabierende Gemütsruhe, psychische Blitzgewitter und moralische Absolutismen hervorzubringen. (Andreas Wilink) |
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Drache von Jewgeni Schwarz, aus dem Russischen von Günter Jäniche Regie: Mareike Mikat Neuen Theater Halle Premiere am 15. September 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed}Die Inszenierung ist eine an der Oberfläche grellbunte, in Wahrheit aber sehr subtile Übung zur Verführbarkeit des Menschen. Mareike Mikat legt enorm viele Schichten frei, die bis ins Heute reichen, ohne zu plakativ zu sein. Der Fokus liegt dabei auf Elsa, gespielt von Tristan Becker. Ganz in Weiß (mit einem Hauch von Hellblau und blonder Perücke) ist sie angelehnt an Disneys gleichnamige "Eiskönigin". Becker macht aus der Frau, der eigentlich die Rolle des Opfers zugedacht ist, die Heldin des Abends. Der Rest ist große Lust am Spiel, bis zur Pause wird geradezu schwankhaft übertrieben: falsche Schnurrbärte, Sprachholpereien à la "im Geifer des Geschlechts", Luftballons und Wattebälle. Ein Abend voller Anspielungen und zauberhafter Ideen. (Matthias Schmidt) |
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Jagdszenen von Martin Sperr Regie: Julia Prechsl Theater Magdeburg Premiere am 9. September 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed} Das Stück über die Ausgrenzung von als anders empfundenen Menschen, das gemeinschaftsstiftende Produzieren von Außenseitern und die Terrorherrschaft all dessen, was als "normal" empfunden wird, ist sowohl als Text als auch in der Inszenierung sensationell zeitlos und wahr. Figuren, Bühne und Musik gehen brachial nah; alles, was Liebe ist oder die Sehnsucht, einander nah zu sein, wird zerstört durch eine post-faschistische Gesellschaft in einem Dorf nach dem Krieg, die zugleich schon wieder eine prä-faschistische ist. (Christian Muggenthaler) |
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Nachkommen. Ein lautes Schweigen! von Emre Akal Regie: Emre Akal Theater Münster Premiere am 19. Januar 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed}Emre Akals dystopische Grusel-Komödie spielt in einem bunten Tiny-House und stellt sich mit viel Witz zentralen Fragen der Zeit. Dieser spannungsreiche Ansatz hat das Publikum in Münster sehr polarisiert – und gerade dadurch gezeigt, dass Akal sowohl mit seinem Text als auch seiner Bildsprache einen Nerv getroffen hat. (Kai Bremer) |
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Richard III. von William Shakespeare Regie: Evgeny Titov Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere am 2. September 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed}Die Männer fehlen, bis auf ihn natürlich, den monströsen Titelhelden, und man vermisst sie nicht. Ohnehin leisten sie keine spürbare Gegenwehr, das tun in dieser Lesart des blutrünstigen Dramas die Frauen. Jedenfalls hat Evgeny Titov, an sich kein Bilderstürmer unter den Regisseuren, eine ganze Reihe von Belegen dafür gefunden, dass es die Frauen, Mütter, Schwiegermütter etc. sind, die Hölzer in die Speichen dieses perfiden Machtgetriebes stemmen. Überdies ist die Inszenierung im extravaganten Italowestern-Look bildschön anzusehen. (Martin Krumbholz) |
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Solingen 1993 von Bassam Ghazi und Birgit Lengers Regie: Bassam Ghazi Düsseldorfer Schauspielhaus, Stadt:Kollektiv Premiere am 15. April 2023 {slider=Begründung der Nominierung|closed}Mit "Solingen 1993" haben Bassam Ghazi und das Stadt:Kollektiv, ausgehend von dem neonazistischen Brandanschlag 1993, ein multiperspektivisches berührendes Gesamtkunstwerk entwickelt. Die Stadt Solingen selbst wird zum Gedenk- und Reflexionsraum: Erinnerungsguerilla der Nachgeborenen, Würdigung der Toten, Solidaritätserklärung mit den Überlebenden, politische Spurensuche und Expert:innentheater auf höchstem Niveau. (Cornelia Fiedler) |
- Hier die 43 Nominierungen, aus denen in diesem Jahr gewählt werden konnte.
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Mehr zu den Gewinnern der vergangenen Jahre: Ergebnis 2023, Ergebnis 2022, Ergebnis 2021, Ergebnis 2020.
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Aber an die Redaktion von Nachtkritik.de: Die Inszenierung ist nicht vom Jungen Schauspiel, sondern von der grandiosen Sparte Stadt:Kollektiv, die zahlreiche Angebote zum mitmachen hat.
Sowieso solltet ihr mal über dieses fantastische Konzept schreiben, denn das Stadt:Kollektiv zeigt jedes Jahr, wie ein Theater der Zukunft aussehen kann.
(Anm. Redaktion: die Produktionssparte ist inzwischen geändert. Vielen Dank für den Hinweis!)
Mich freut erstmal, dass einige der nominierenden KritikerInnen ihre eine Stimme für Produktionen genutzt haben, über die sie zumindest hier gar nicht geschrieben haben. Und zweitens dass diese Produktionen dann wiederum soviel Unterstützung erfahren haben (wobei das wie immer auch eine Frage der Mobilisierung sein kann, aber je...).
Ich kann ohne Probleme in 1 Stunde 200 Mal abstimmen.
Einige Produktionen in kleineren Städten sind sicherlich ganz wunderbar. Aber mal ganz ehrlich: glaubt wirklich einer im Ernst, daß es dort mehr Leute gibt, die in's Theater gehen und eine bestimmte Vorstellung toll finden und für diese auf Nachtkritik stimmern, als in München, Hamburg, Berlin oder Köln?
Ich bin gespannt, ob dieser Kommentar überhaupt veröffentlicht wird.