Ihr Knaben von Argos

19. Dezember 2023. Heute kein Diskurs, keine News im Handydisplay, keine Kommentare und Gegenkommentare. Heute ein Weihnachtsgedicht in Zeiten wie diesen.

Von Atif Mohammed Nour Hussein

19. Dezember 2023.

Diesmal wird alles besser, haben sie gesagt. Anders, aber besser.
Aber es ist schlimmer. Anders, aber schlimmer.
Da ist diese intellektuelle Erstarrung, die alle erfasst zu haben scheint.
Mich eingeschlossen.
Und, ich würde gerne meine Fähigkeit, emphatisch zu sein, töten.
Schließlich muss ich in ein paar Tagen Weihnachten feiern.
Sonst kommt Knecht Ruprecht, verkleidet als bayerischer Ministerpräsident, und wirft mich aus dem Land.

Nie wieder, haben sie gesagt. Aber sie haben vergessen zu sagen, was.
Nie wieder Krieg, kann es nicht sein. Denn Krieg ist ständig.
Nie wieder sind die Juden schuld, kann es auch nicht sein. Denn die sind wieder schuld.
Fahrradfahrer haben Pause. Klimakleber auch.

Wie Leid auf Schuld und neue Schuld auf Leid
sich wuchernd forterbt, schildern jene alten,
überlieferten Geschichten …

Das hilft auch nicht.
Keine Katharsis.
Nur ein kompletter Zirkelschluss.

Die Bilder, still oder bewegt, töten nicht.
Weder die in Handydisplay-Größe noch die in Cinemascope.
Doch treffen sie, wie ein Schuss, den Nerv. Den letzten.

Die Theatermaschinen liefern Lärm, nennen es Musik, und Rauch, nennen es Bühnennebel.
Beim Einlass reichen sie Ohrstöpsel.
Zum Schutz, sagen sie.
Das Bier auf der Bühne gibt es gratis.
Fürs Koma zu wenig.
Die angekündigte Auslöschung findet nicht statt, hier.
Anderswo …

Sie jagen dir Lichtblitze ins Auge.
Als wäre das der Auftrag.
Wir quälen dich im Theater!
Anderswo …

Studenten reenacten den deutschen Januar 1935.
In der halben, westlichen Welt.
Quell des Universalismus. Der Aufklärung.
Hort der Demokratie.
Juden! Raus! Aus! Universitäten!
Den weißen Faschisten freuts.
Wäscht sich die Hände.
Der Rektor steht mit dem Rücken zur Wand.
Die Hände erhoben. Die Innenflächen weiß, nicht rot!

Der metallische Geschmack von Blut.
Wird im Theater durch Menthol ersetzt.

Schauspieler werden erschossen.
Anderswo …
Theater werden zerschossen.
Anderswo …
Arnas Kinder sterben.
Anderswo …

Doch noch ist alle Schuld nicht abgegolten.
Und schon am Morgen nach der letzten Schlacht
Steht gegen ... steht gegen … steht Bruder auf gegen Bruder …

Das sei der Fluch!

In ihrem Streit sollen beide,
einer durch die Hand des andern sterben!

Und sie sterben. Beide. Einer durch die Hand des Anderen.
Brüder sind nicht mehr.

Ein Echo? Zurückgeworfen 2544 Jahre später?
Und nun zu euch, ihr Knaben von Argos,
euch soll, sobald ihr mannbar seid,
die Eroberung Thebens gelingen.
Doch wartet, bis der erste Bartflaum euer Kinn umschattet,
dann beginnt sofort ein frisches Heer in Argos auszurichten
und Thebens sieben Tore zu berennen.
Sie sollen schwer empfinden, dass die Brut der Löwen ausgewachsen,
die Zerstörer ihrer Stadt erstanden sind.
Die Epigonen wird die Nachwelt euch in der Hellenen Heldenlieder heißen.
Das ist der Lohn der gottgefäll’gen Tat. (ruft Athene).

Alles fällt in eins. Nicht nur die Toten in dasselbe Grab.
Alles ist Genozid. Alles Holocaust. Alles Nakba.
Nur Terror nicht. Der ist jetzt erhabener Widerstand.
Und grinst: Nicht nur uns töten wir, sondern auch andere, wenn es Not tut.
Und diese falsche Not frisst ihre Kinder. Ihre Ärzte. Ihre Journalisten.
Denn, diese falsche Not hat von Revolutionen nie gehört.
Auch auf der Bühne müssen alle untergehen.
Mit Mann und Fledermaus.
Verbleiben dürfen nur die Bienen!

Niemand der nicht ruft: I condemn! erhält den Preis.
Und muss den Tisch verlassen.
Die Herzkönigin schreit hinterher: Kopf ab!
Oder waren das die Jakobiner?

"Begeht nicht den gleichen Fehler wie wir", warnte einer zaghaft.
Doch zu laut rauschte schon das Blut der Rache in den Ohren.
Diesmal wird alles besser, sagen sie.
Diesmal bleibt nur noch die Schuld. Für Leid ist keiner mehr da.
Zuletzt.
Neuer Marschbefehl! Baum kaufen! Aufstellen! Kerzen anzünden!
Für die Chanukkia gibt’s den Feuerlöscher!


Der Text verwendet Zitate aus einem neugeschriebenen Prolog zur "Antigone"-Fassung von Sœren Voima von 1996, aus der "Maßnahme" von Bertolt Brecht und aus "Die Hilfeflehenden" von Euripides.

Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.

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