Wanderer nah am Weltuntergang

27. April 2024. Die Münchner Kammerspiele wollten eigentlich Elfriede Jelineks Klimakatastrophen-Stück "Sonne/Luft" ins Programm nehmen, doch die Autorin kam mit einem neuen Text zuvor. "Asche" ist die Fortsetzung der Geschichte vom Ende der Menschheit, und auch dem eigenen Tod. Regisseur Falk Richter erschafft dafür einen Bildersturm.

Von Martin Jost

Elfriede Jelineks "Asche", uraufgeführt von Falk Richter an den Kammerspielen München © Maurice Korbel

27. April 2024. Ein Jelinek-Abend von Falk Richter ist auch eine gute Metapher für den Weltuntergang: Man sitzt mit einem Haufen Leute eng aufeinander und fragt sich die ganze Zeit: Was passiert hier und was bedeutet das alles? Seht Ihr das auch? Bin ich zu dumm oder fragt Ihr euch auch die ganze Zeit, was das soll? Naja, ich sag erst mal nix.

Elfriede Jelineks neuester Text "Asche", gehört zu ihren abstrakteren. Er assoziiert sich durch die griechische und die christliche Mythologie, durch die vier Elemente Erde, Wasser, Luft, Feuer und ihre Verschmutzung durch den Menschen, er umkreist das Thema Technik und streift die Frage, wer eigentlich den letzten überlebenden Menschen begraben soll. Jelineks Kalauer-Dichte ist reduziert. Ein paar Power-Pointen stechen heraus: "Da die Menschen sich nicht ändern, muß sich also die Natur ändern", oder: "Warum nur haben wir [das Wasser] nicht gleich aus Plastik hergestellt?, wir hätten uns viel erspart, [...] So mußten wir das Plastik erst hineintun".

Paradiesvögel im Plastikmüll

Als eine Abfolge von unterschiedlichen Szenen, die vor allem durch Licht (Charlotte Marr, William Grüger), Kostüme (Andy Besuch) und Maske markiert sind, strukturiert Falk Richter den Abend in Kapitel, die nicht vom Text vorgegeben sind. Dasselbe Bühnenbild aus weißem Tempel-Halbrund und schwarzem Kletterfelsen (Bühne: Katrin Hoffmann) wird jeweils mit Figuren und Requisiten angefüllt und mit Videoprojektionen und Musik geflutet. Das schafft Stimmungen, schließt den kopflastigen Text aber nicht auf.

Strandausflug in Falk Richters Inszenierung von "Asche" an den Münchner Kammerspielen © Maurice Korbel

In der ersten Szene markieren die sechs Schauspieler*innen gleich mal ihr Revier, indem sie aus Strandtaschen und Proviantkisten Plastemüll auf die Bühne kippen, bis sie knöcheltief im Abfall waten. Aus der Badehose geht es in den Arztkittel und später treten drei schrille Wesen auf: chimärenhafte Paradiesvögel mit je einem Flügel und einem nackten Arm. In ihrem Federkleid schimmern Platinen, auch das Gesicht verschwindet unter elektronischen Bauteilen.

Die Videokunst von Lion Bischof und die Musik von Matthias Grübel interpretieren den Text auf ihre Weise. Manche Passagen sprechen KI-animierte Avatare mit synthetischen Stimmen, die verstörend genau auf der Grenze zwischen Mensch und Fake balancieren. 

Überformte Welt

Wenn man nach einem Motiv sucht, das den Abend zusammenbindet, dann ist das neben der Leitfarbe Orange das unauflösbare Ineinander-Verschmoren von Natur und Technik. Kein Kostüm, kein Requisit, keine Animation, die nicht Natur synthetisiert oder Künstliches organisch überwächst. Vielleicht ist Falk Richters These, dass es kein Zurück mehr gibt, weil die menschliche Überformung der Welt zu weit fortgeschritten ist. Auch Elfriede Jelineks These scheint zu sein, dass wir nicht mehr zu retten sind. Ihr Grundton ist sarkastisch und – bei aller Auflehnung gegen höhere Mächte – fatalistisch.

Die Schauspieler*innen finden jede*r für sich ihren Zugang zum Text und spielen ihn makellos. Bernardo Arias Porras versprüht mit schlaksigem Charme die allerfeinste Ironie. Katharina Bach misst mit ihrem körperlichen Spiel stets den ganzen Raum aus. Gegen Ende, als der Abend ausfasert, holt sie uns mit ihrer Version von Patti Smiths "My Madrigal" auf eine Insel, auf der es noch Luft zum Atmen gibt.

Yoga! Die Welt ist eh nicht mehr zu retten: Katharina Bach in "Asche" © Maurice Korbel

Svetlana Belesova wandelt so souverän zwischen Figuren und Typen, dass wir sie immer erst wiedererkennen müssen. Johanna Kappauf verhandelt die sperrigsten Gedankengänge mit einer Natürlichkeit, als lägen diese nicht nur nahe, sondern als finden sich darin auch noch glühende Hoffnungsschimmer. Thomas Schmauser adelt seinen Slapstick mit heiligem Ernst. Ulrike Willenbachers Figur ähnelt am ehesten einer jelinekförmigen Erzählerin. Die Art, wie sie die Benutzeroberfläche der Welt bedient, zeugt von einem Misstrauen, das sie zur idealen Beobachterin macht.

Bewegte Bilder zu Musik

Aber auch die Beobachterin scheint maximal unsicher, was vor sich geht. Falk Richter hat die Textnuss "Asche" nicht geknackt. Es bleibt offen, ob ein guter Kern in der Schale steckt. Richters Bildergalerie der Szenen-Ideen funktioniert wie MTV früher: Hauptsache bewegte Bilder zur Musik. Die Schauspieler*innen ihrerseits behandeln den Text letztlich wie ein empfindliches schönes Ding, halten ihn ehrfürchtig ins Licht und legen ihn ganz vorsichtig zurück ins Etui.

Bevor man dahinterkommt, ob die anderen verstanden haben, was hier läuft, ist alles vorbei. Mit dem Weltuntergang ist es ja genauso: Die einen sagen, es gehe alles den Bach runter, und die anderen zeigen ihnen den Vogel. Die einen sind starr vor Angst und die anderen sitzen es lieber aus. Wie im Theater, so auf Erden.


Asche
Uraufführung
von Elfriede Jelinek
Regie: Falk Richter, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Andy Besuch, Musik & Sounddesign: Matthias Grübel, Video: Lion Bischof, Licht: Charlotte Marr mit William Grüger.
Mit: Bernardo Arias Porras, Katharina Bach, Svetlana Belesova, Johanna Kappauf, Thomas Schmauser, Ulrike Willenbacher.
Premiere am 26. April 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de


Offenlegung: Der Autor ist im Hauptberuf Angestellter der Münchner Volkshochschule GmbH, die mit der Landeshauptstadt München dieselbe Gesellschafterin hat wie die Münchner Kammerspiele.

 

Kritikenrundschau

Es gebe in "Asche" kein Zurück, auch keine Ertüchtigung oder Erkenntnis durch das Theater. "Man wird nur durch die Mangel gedreht: durch die technisch hochgerüstete Bildermangel des Regisseurs, der dem traurigen Zustand der Autorin wie dem der Welt gleichermaßen markig-illustrativ beizukommen versucht", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.4.2024). Richter gehe das fragile Textgespinst "mit ganz großem Besteck an. Er kann das: die Theatermaschinerie bedienen auf der virtuellen Höhe der Zeit." Eine unablässige, ausgesprochen aufwendige Abfolge immer neuer Szenen und Situationen, ein Bildgewitter, in dem die Schauspieler in immer neuer Aufmachung unterwegs seien.

"Asche" sei ein ganz zärtlicher Theatertext. "Doch Regisseur Falk Richter inszeniert einen Ascheregen", so Jakob Hayer in der Welt (29.4.2024). "Nicht einmal im Ansatz lässt sich wiedergeben, welche Menge an Stimmungen, Atmosphären, Kostüme und Spielweisen auf die Bühne gebracht wird, es ist ein exorbitanter Verbrauch." Bevor die Bilder in die Tiefe gehen, scheint Richter sie wieder einzureißen, bevor sie fertiggebaut sind.

"Falk Richter illustriert die sich in aufsehenerregenden Spurwechseln vollziehende Trauerrede der Autorin mit einer XL-Ladung Apokalypse-Bilder", so Margarete Affenzeller im Standard (29.4.2024). "KI-Bilder von schönen Naturlandschaften, die im nächsten Moment zerfallen." Alles sei an dem Abend auf eine "Zeit danach" eingestellt, die Erde ist bereits verbrannt, die Macht liegt längst nicht mehr bei den Menschen. Der Abend enthalte aber auch viel Zynismus, den der Witz nicht immer abzufangen im Stande sei.

Jelineks "Weltuntergangsgeschichte" werde von Falk Richter in Bilder und Sounds der "Apokalypse" gekleidet, berichtet Christoph Leibold für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (26.4.2024). Aber Jelineks "Hang zum Kalauer" inszenatorisch in "Klamauk" zu übersetzen, "funktioniert nur so mittel gut". Einschätzung: "Jelinek kann Komik und Katastrophe. Falk Richter eher nur letzteres." Der Kritiker moniert im Ganzen "viel Getöse" in einer "überspannten", "bedeutungsschwer" raunenden Inszenierung.

"Wirklich fürchterlich", findet Wolfgang Höbel vom Spiegel (27.4.2024) den Abend. "Cool und clean und mit hohler Ironie sagen Automatengesichter einen Text auf." Den Verzweiflungstiraden der Nobelpreisträgerin sind die Theatermittel aus Sicht dieses Kritikers nicht gewachsen.

"Erneut zeigt sich die Schriftstellerin also als eine scharfe Beobachterin und kritische Analytikerin der Zeitläufte. Und einmal mehr kondensiert sie ihre Erkenntnisse in Literatur, die wuchtig ist und zugleich durchwirkt von sprachlicher Schönheit und feinem Witz," schreib Michael Schleicher im Münchner Merkur (4.2024). "Asche" sei "ein Werk, das die Bühne braucht – "Richter und sein wunderbares Ensemble haben ihm diese bereitet". "Katharina Bach, Svetlana Belesova, Johanna Kappauf, Ulrike Willenbacher, Bernardo Arias Porras und Thomas Schmauser beeindruckenden Kritiker "in jedem Moment dieser 105 Minuten mit ihrer klug durchdachten und empathischen Textgestaltung. Sie lassen Jelineks Sprachfluss glitzern und glitschen, reißend rauschen oder im Pianissimo plätschern."

"Würde sich dieser Abend allein in die Riege der zahlreichen Klimadystopien der vergangenen Jahre einordnen, ließe sich gewiss über sein Surplus streiten," schreibt Björn Hayer in der taz (30.4.2024). Doch verspreche der Text, "obgleich er nicht zu den stärksten der 1946 geborenen Schriftstellerin gehört, noch mehr. Insbesondere weil er das kollektive Untergangsschicksal mit dem Schmerz des individuellen Abschieds engführt." Falk Richters Regie zeugt aus Sicht des Kritikers dabei von "reichlich Fingerspitzengefühl". "Zwischen den passenden Bilderfluten in den grotesken, gesellschaftskritischen Szenen bremst er die Dynamik der ausufernden Klagesuaden mehrfach aus, um Raum zu schaffen, für die leisen und melancholischen Momente darin."

Kommentare  
Asche, München: Verpasste Chance
Sicherlich ist eine Inszenierung der Textfelder von Elfriede Jelinek anspruchsvoll und braucht eine tragende Regieidee. Wenn Regisseur und Produktionsteam mit den gegebenen Textmöglichkeiten eine solche nicht entwickelt haben, sollte sie es lieber lassen und bei einem Leseabend bleiben. Mehr als 80 Prozent des ausgewählten Jelinek-Textes wurde in der Uraufführung von „Asche“ von den Schauspieler:innen einzeln oder als Chor direkt zum Publikum - wie in einer schlechten Predigt - deklamiert, oft sogar vorn an der Bühnenrampe stehend. Dies wird auch dadurch nicht besser, dass der Text hin und wieder von mehreren Personen gleichzeitig oder leicht zeitversetzt gesprochen wird. Eine Interaktion der einzelnen Figuren war - abgesehen von klamaukigen Slapsticks - kaum gegeben. Dies hat auf mich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, langweilig und hilflos gewirkt und mich öfter auf die Uhr schauen lassen. Ja, Thomas Schmauser als die Hitze nicht mehr aushaltende Kreatur auf der Erde war witzig und eindrücklich. Ingesamt konnten jedoch die eingespielten Videoszenen mit ihren z. T. mit KI verschärften Kriegs- und Klimakatastrophen, Darbietungen von Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“, ein dystopischer Soundtrack und eine aufwendige Lichttechnik diesen Mangel an dramatischer inszenatorischer Substanz für mich nicht überdecken. Auch wenn man anführen mag, dass Einsamkeit, Vereinzelung und (zu späte) Trauer gezeigt werden sollten, so waren die aneinandergereihten Monologe und die vorherrschende Darbietungsform der direkten „Ansprache des Publikums“ in meinen Augen dürftig bis nervig. Auch die titelgebende Verschränkung des Abschieds vom verstorbenen Lebensgefährten Jelineks mit dem Abschied vom Planet Erde, die wir Menschen über weite Gebiete zu Asche haben „verbrennen“ lassen oder mit anderen Klimakatastrophen lebensuntauglich gemacht haben, gelang allenfalls in Ansätzen in der Trauer, die zum Ende der Inszenierung angestimmt wurde. Jelinek gelingt es in ihren Texten oft, das ihr ganz eigener Sprachwitz und Zynismus die beschriebene Tragik verstärkt und die Tragik ihrerseits die bittere Komik befeuert und verschärft. Genau diesem kunstvollen Ineinander kommt Falk Richter und das Team dieser Produktion inszenatorisch trotz der Vielzahl der eingesetzten Mittel leider nicht nach; Tragik und oft arg abgegriffene komisch gemeinte Regieideen bleiben eher unverbunden und getrennt voneinander. (Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen auch Christoph Leibold im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunkkultur.de/abschied-von-der-erde-elfriede-jelineks-asche-an-den-kammerspielen-muenchen-dlf-kultur-0057e564-100.html und Wolfgang Höbel im „Spiegel“: https://www.spiegel.de/kultur/elfriede-jelineks-neues-stueck-asche-das-theater-spielt-mal-wieder-apokalypse-a-3cdd241a-1dfc-4f69-856c-7f6de02714d9?sara_ref=re-so-app-sh )

Jossi Wieler hat mit seiner herausragenden Inszenierung von „Rechnitz (Ein Würgeengel)“ an den Münchner Kammerspielen und anderen Arbeiten ebenso wie Nicolas Stemann gezeigt, dass man Jelinek-Texte auch anspruchsvoll, tiefsinnig und berührend in Szene setzen kann. Auch wenn Falk Richter mit seiner Inszenierung „Am Königsweg“ am Schauspielhaus Hamburg ausgezeichnet worden ist - dort ist ihm sicherlich mehr Interaktion und szenische Dramatik gelungen - kann ich bei den bisher von Herrn Richter an den Münchner Kammerspielen und beim Kunstfest Weimar gezeigten Inszenierungen (vgl. einige meiner Kritiken in den Kommentaren auf nachtkritik.de) nicht nachvollziehen, weshalb die Kammerspiele an ihm als Regisseur festhalten.
Asche, München: Zuviel Bühnenspektakel
Falk Richters Inszenierung legt viel auf Elfriedes Jelineks wieder einmal recht schwierige und manchmal auch fragwürdige Textfläche „Asche“ drauf. Es bleibt auch auf der Bühne eine Textfläche, die man schwer greifen kann. Künstliche Intelligenz, sprechende Avatare, Aufteilung des Textes auf mehrere SchauspielerInnen, Chaos auf der Bühne, Plastikmüll, Elfriede Jelineks Person selbst wird dargestellt, und und und, all das hilft zwar ein wenig, den Text annähernd zu verstehen. Eine bekannte Methode bei Texten von Elfriede Jelinek. Es wird aber andererseits etwas zu sehr ein Bühnenspektakel. Ich hatte den Eindruck, dass der Inszenierung von „Asche“ etwas fehlte: Ruhe und Verbitterung, Traurigkeit. Hilflosigkeit bei diesen düsteren und so wahren Themen (Altern, Tod und Zerstörung der Erde). Vielleicht ist etwas zuviel Spektakel draufgelegt. Mal sehen, wie es Hamburg (Thalia Theater) und Hannover (Staatstheater) in der kommenden Spielzeit machen werden.

Meine volle Besprechung unter www.qooz.de
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