Kolumne: Grand Guignol im Opernhaus - Wenn Theater überwältigt
Nur halbwegs zusammengesetzt
7. Mai 2024. Wann bin ich da verloren gegangen?, fragt sich unser Kolumnist im Rückblick auf seine letzten Theaterbesuche. Bei denen ihn weder der unverständliche Inhalt noch die überfrachtete Inszenierung erreichten, obwohl er die Ausgangstexte kannte, ja gezielt ausgesucht hatte. Übers Nicht-folgen-können und seine Gründe.
Von Atif Mohammed Nour Hussein
7. Mai 2024. … und ich habe es nicht verstanden … nur eine vage Ahnung, worum es gehen könnte und warum das stattfindet. Wann bin ich da verloren gegangen – im Nicht-folgen-können, im hoffnungslos Nach-Anschluss-suchen?
Lärm und Licht statt klarem Zugriff
Von vorn: Es ist schon eine Weile her, da wollte ich wieder einmal "Schmutzige Hände" sehen. Wollte gemeinsam mit einem Publikum noch einmal ergründen, warum Sartre das Stück geschrieben hat, warum es immer wieder inszeniert und gespielt wird. Aber kaum beginnt die Vorstellung, fährt der Schreck, verursacht durch Lärm und grelles Licht, so tief ins Hirn und Kommendes wird vor und hinter haushohen, kreisenden Bretterwänden so sehr verunklart, dass zu viel Zeit vergeht, zu erkennen, wer hier wer ist, was die voneinander wollen, warum wer was zu wem sagt.
Und ist dann wieder alles halbwegs zusammengesetzt, sind die da auf Bühne schon ganz woanders. Weit weg. Ach, das muss Jessica sein – aber warum ist die jetzt so ein Klischee-Püppchen? Und warum stemmen die die Sprache so vor sich her? Trotz Mikroports versteh ich nix? Und warum drehen sich die Bretterwände um eine leere Mitte, lassen den Schauspieler*innen nur schmalste Wege drumherum? Alles Randfiguren?
Die Form ist hoch, die Oberfläche weit gespannt. Und bleibt doch unkenntlich … Später spaziere ich durch Programmhefte, Textexegesen und Kritiken. Da ist dann alles wieder klar(er) – ich hätte es nur gern während der Vorstellung erlebt.
Wann ist das passiert, dass Inszenierungen derart kodifiziert sind, dass trotz Seherfahrung und hoher Konzentration so wenig eindringt in mich? Oder, dieser leise Zweifel schleicht sich ein, es gibt einen guten Grund für formale, ästhetische, technische Überfrachtung: Nicht der Komplexität der textlichen Vorlagen mit einem ausdifferenzierten interpretatorischen Willen zu begegnen fordert diese Fülle, sondern dessen Fehlen oder – und hier wird Zweifel zu, sicherlich, ungeheurem Vorwurf – das Unvermögen, dieser Komplexität gerecht zu werden.
Wörter fallen übereinander her
Gibt es eine Entsprechung für Déjà-vus, wenn es um ein bestimmtes Gefühl geht? Déjà ressenti? So etwas hatte ich vor ein paar Tagen im Berliner Festspielhaus während Ulrich Rasches "Nathan". Ein Echo der Sartre-Inszenierung und übrigens auch ein Echo des Dessauer "Hamlet" beim letztjährigen Theatertreffen. Zugegeben, es war "mein erster Rasche" und ich war vorgewarnt durch zahlreiche Rezensionen seiner anderen Arbeiten. Vielleicht liegt es auch an meiner Weigerung, mich intensiv auf einen Abend vorzubereiten – beim "Nathan" hätte ich vorher auch geschworen: Kein Problem! Kenn' ich!
Die Bühnentechnik, die Szenographie gibt ihr Bestes – sich auf den Ton und damit auch auf die Sprache einzustellen, wird zur ersten Hürde. Sicher, zuhören ist anders als selbst zu lesen. Wenn du selber liest, kannst du dir Zeit nehmen oder einfach über die Sätze fliegen. Wenn jemand zu dir spricht, musst du dich ständig bemühen, deine Aufmerksamkeit mit ihrem*seinem Sprechtempo in Einklang zu bringen. Mal spricht sie*er dann zu schnell oder zu langsam. Alles wird immer unschärfer, vorläufiger. Es ist wie ein Schwanken und Zögern. Wörter fallen übereinander her und alles wird zu etwas Ungreifbarem. Etwas zugleich Vorhandenem und Nichtvorhandenem …
Ohne Programmheft kein Verstehen
Die Schauspieler*innen helfen auch nicht wirklich weiter. Das ist sicher ungerecht, denn das sind wunderbare Leute da auf der Bühne. Nur sind sie so sehr mit dem Inszenierungskonzept verbunden und, wie ich behaupte, so sehr bemüht, mich durch ihre Kunst, ihre Energie, ihre Präsenz abzulenken, dass ich aufgebe, sie zu verstehen.
Körpersprache, Choreographie, Musik, Licht, Nebel tun ihr Übriges, die Verwirrung komplett zu machen. So sitze ich dann da, reihe Vermutungen an Vermutungen … in langen Absätzen ohne jeglichen Dialog.
Ist das wirklich ein Text von Lessing: "Die Juden sind ein Volk, das nur von den Nationen lebt, die es erst bei sich aufgenommen. Seit sie vertrieben sind aus Palästina, haben sie ihre Nation nicht bewahrt und keine neue gegründet. Sie haben keine Gesetze und keine Regierung, leben als Fremdkörper in jeder Nation, die sie aufnimmt, haben keine Kultur, keine Wissenschaft, sondern leben von dem, was sie von andern erwerben. Sie haben keine Mittel oder Fähigkeiten, um je ein Vaterland zu gründen oder zu erhalten. Besitzen keine Tugend und Moral, noch Achtung vor dem eigenen Gesetz oder dem fremden. Sie sondern sich von anderen ab, sind voller Egoismus, Selbstsucht, Eigennutz und so bedrohen sie den Frieden aller"? – Spricht da jetzt der Patriarch? Oder der Klosterbruder? – Nein, das hat der Voltaire gesagt, Dummerchen! – Ah, danke für die Information. Kommt leider zweieinhalb Stunden zu spät. – Hättest Du mal vorher ins Programmheft geschaut.
Worum es möglicherweise geht und warum das alles gut und richtig und wesentlich ist, das lese ich dann später bei Esther Slevogt im nachtkritik-Shorty. Danke dafür. Beruhigt, aber versöhnt mich nicht.
Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein
Atif Mohammed Nour Hussein
Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.
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Auch ich beobachte auf deutschsprachigen Sprechbühnen eine zunehmende Kodifizierung der Theatersprache. Für wen arbeitet man da? Für die Kritiker? Dramaturgen von anderen Theatern – die üblichen Dekodierungsexperten halt?
Oder arbeitet man nur für die Reputation in der eigenen Blase?
Auf jeden Fall für eine spezialisierte Publikumsschicht.
Warum sagt so selten jemand „Der Kaiser ist ja ganz nackt“?
Oft erlebe ich eine Monotie immer gleicher Stimmlagen (meist Mittellage), die immer gleich wichtig politisch-pamphletartig deklamieren, oder wie Hussein es beschreibt, die "Sprache vor sich herstemmen". Das klingt dann wichtig und relevant, aber absolut un-sinnlich, un-berührend, der Botschaft verpflichtet, nicht dem Genuss. Im Theater möchte ich auch akustisch im Gesprochenen baden, möchte mich an der Artikulation, am Stimmenrepertoire erfreuen. Das nicht als Selbstzweck, aber als Ausdrucksform, die das Stück bereichert und dem Spiel der Schuaspieler*innen eine weitere Dimension verleiht.