Aus einer Zeit vor der Zeit

12. Juli 2023. Beschwörungen und Rituale: Aus der Ukraine kommt "Chornobyldorf" zum Festival "Theater der Welt" nach Frankfurt, ein musiktheatralisches Projekt, das tief in musikalischen Traditionen der Region am südöstlichen Rand Europas gräbt. In seinem Finale wird es auch zum politischen Manifest.

Von Michael Laages

"Chornobyldorf. Archäologische Oper" von Roman Grygoriv & Illia Razumeiko / Opera aperta bei Theater der Welt in Frankfurt © Artem Golkin

12. Juli 2023. Leider führt der Titel in die Irre. "Chornobyldorf" ist ein Wortspiel, montiert aus der (womöglich) ukrainischen Schreibweise des europäischen Schicksalsortes, den wir gemeinhin als "Tschernobyl" kennen, und dem Namen des österreichischen Städtchens Zwentendorf, das an der Donau liegt und gar nicht so weit weg von Wien; hier sollte einst Österreichs einziges Kernkraftwerk entstehen. Gebaut wurde es, aber nie in Betrieb genommen – während Tschernobyl Europa 1986 den "GAU" bescherte, den damals "größten anzunehmenden Unfall" der Kernenergie.

Ein europäisches Menetekel

Erst die Kernschmelze weit weg im japanischen Fukushima brachte 25 Jahre später, 2011, die politische Kehrtwende in Europa. Die aktuelle Kriegsgefahr für die von russischen Truppen besetzten, aber weiterhin von ukrainischem Personal betriebenen Reaktoren in Saporischchja ruft die Erinnerung an Tschernobyl gerade immer wieder wach: als europäisches Menetekel.

Tatsächlich mag die Verknüpfung zweier vollkommen unterschiedlicher Dramen in der Geschichte der Kernenergie am Beginn der Entstehung der "archäologischen Oper" gestanden haben, die Roman Grygoriv und Illia Razumeiko für das eigene Ensemble "Opera Aperta" in Kyiv entworfen haben, das sie seit 2015 betreiben; aber zu ahnen sind Chornobyl (oder Tschernobyl) und Saporischschja nur in gelegentlichen Video-Sequenzen, Zwentendorf kommt eigentlich gar nicht vor, bestenfalls als Gedanke. "Archäologisch" allerdings ist dieses Musiktheater tatsächlich – denn es gräbt sehr tief in musikalischen Traditionen der Region am südöstlichen Rand Europas.

Wer die Geschichte der seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch in Westeuropa bekannt gewordenen Chöre aus Bulgarien miterlebt hat, wird viele Strukturen in den musikalischen Arrangements für "Chornobyldorf" wiedererkannt haben. Und das markiert den dritten Baustein im titelgebenden Wortspiel – denn immer wieder bilden Stimmen eines Chores das Fundament der Oper. Und generell hinterlässt der Gesang die nachhaltigsten Wirkungen an diesem durchaus anstrengenden Abend.

Chornobylndorf ArtemGolkin uDie Musikgeschichte des Landes zum Leuchten bringen © Artem Golkin

Sieben Szenen, hier auf Deutsch "Novellen" genannt, erzählen Grygoriv und Razumeiko; und sie legen Spuren aus, die eher in die antike Mythologie zurückreichen: hin zu "Elektra" zu Beginn, zum irrenden Odysseus und gegen Ende auch zur Geschichte um den Sänger Orpheus und die geliebte Eurydike, die er nicht zurückholen kann aus dem Reich der Toten. Viele der chorischen Gesänge wirken auch wie religiöse, ja kirchlich-orthodox grundierte Rituale; immer wieder tauchen Kreuze auf, und an einer Seite des Bühnenraums im Bockenheimer Depot, gelegentlich immer noch Spielstätte für das Frankfurter Schauspiel, führen Stufen hinauf zu einer Art Altar; auf ihm erscheint zu Beginn im Strahlenkranz Elektra - nackt.

Gleißend und schrill

Generell steht ziemlich oft der nackte Körper im Mittelpunkt, bei Sängerinnen und Sängern, in Musik und Tanz – und diese Konzentration auf die natürliche Physis des Menschen bildet den kraftvollen Kontrast zu priesterhaften Umhängen und traditionell grundierter Kostümierung. Die dörflich-abgeschiedene Welt im geographischen Südosten Europas, etwa in den Grenzregionen Rumäniens, Bulgariens und eben auch der Ukraine und Russlands, ist immer präsent an diesem Abend, und die Rituale, die sie prägen, klingen zu uns herüber wie aus einer Zeit vor aller Zeit.

Auch die Musik setzt auf diesen extrem fremden Ton – gleich zwei sehr ungewöhnliche Saiten-Instrumente sind im Einsatz neben Cello und Gitarre: das auch in Ungarns Folklore-Tradition populäre "Hackbrett", eine Art liegende Zither, die gezupft, gestrichen und geschlagen werden kann (und hier auch wird!), außerdem das Dulcimer, ein weiteres Zither-Instrument. Was die drei Musiker in diesen Konstellationen erarbeiten, wirkt oft gleißend und schrill; ein weiterer spielt eine dreifach ineinander verschweißte Posaune, Trompete und Flöte und sitzt in einer blechern-stählernen Schlagwerk-Installation; zudem ist in einer der sieben Novellen ein präpariertes und programmiertes Klavier zu hören.

Chornobylndorf 2 ArtemGolkin uDer (nackte) Körper im Mittelpunkt © Artem Golkin

Insgesamt folgt die Musik keiner festen Form, außer dass sie laut ist und ohne Melodien, Harmonie und Rhythmus auskommt; aber sie überrascht, als sie kurz vor den letzten mächtig lärmenden Aufschwüngen den kleinen Volkslied-Kanon vom "Bruder Jakob" (oder "Frere Jacques") zitiert und danach ein Blasmusik-Spektakel mit unterschiedlichsten Versionen von Tuba und Euphonium vom Zaun bricht. Aber da sind wir ja auch schon in den Ekstasen der "Saturnalien" angekommen; hier wird noch Lenin geköpft (ein riesiger Requisiten-Kopf mit blutigem Hals!), Alt-Väterchen Breschnew wünscht der Jugend alles Gute (damals, als die Ukraine noch fester Teil der Sowjetunion war), und die nackten Bilder überstürzen sich … da bebt der Boden im Bockenheimer Depot, und noch einmal wird die ganze Spiel-Piste zwischen Video-Wand und Altar genutzt.

Rundum-Spektakel ohne Grenzen

Wir, das Publikum, sitzen auf Podesten rechts und links dieser Piste; und ein bisschen erschlagen sind wir am Ende schon. Das furiose Spektakel lässt uns einerseits beeindruckt und andererseits irritiert zurück. Natürlich (und wie zu erwarten) wird im Schlussbeifall auch die ukrainische Flagge gezeigt (und ein andere in Rot und Schwarz) und solange wir keine Geschichte über Tschernobyl und Zwentendorf erwartet haben, folgen wir diesem Rundum-Spektakel ohne Grenzen – verstört und animiert.

 

Chornobyldorf. Archäologische Oper
Von Roman Grygoriv & Illia Razumeiko / Opera aperta
Musik, Libretto, Regie, Bühne und Dramaturgie: Roman Grygoriv und Illia Razumeiko, Text: Yurii Izdryk, Ovid, Ivan Kotlyarevskyy und Illia Razumeiko, Choreographie: Khrystyna Slobodianluk, Video: Denis Melnyk.
Mit: Yuliia Alieksieieva, Yevhen Bal, Yevgeny Malofeev, Mariia Potapenko, Nazgul Shukaeva, Khrystyna Slobodianluk, Marichka Shtyrbulova, Yuliia Vitraniuk, Diana Ziabchenko; Musiker: Zoltan Almashy, Ihor Bolohuk, Roman Grygoriv, Illia Razumeiko.
Deutschlandpremiere am 11. Juli 2022
Dauer 2 Stunden, keine Pause 

www.theaterderwelt.de


Mehr dazu: Lena Myhashko zeichnet in ihrem Essay anhand von vier exemplarischen Inszenierungen die Entwicklung des ukrainischen Theaters der letzten Jahren nach – und beschreibt, was es über die Gründe für die russische Invasion zu erzählen wusste.

 

Kritikenrundschau

"Obwohl markante Darstellerinnen und Darsteller um uns herum unterwegs sind, tritt der Mensch doch zurück hinter einem mysteriösen Gesamtmechanismus (daraus zieht der Abend vielleicht den apokalyptischen, postmenschlichen Effekt)", schreibt Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (13.7.2023). "Unbegreiflich, aber schön", so fasst die Kritierin ihre Eindrücke zusammen. "Sinnlichkeit setzt sich zur Wehr gegen Not und Bedrohung. Kann man lapidar finden, ist aber intensiv und ernst."