An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts - Roland Schimmelpfenning hat seinen ersten Roman veröffentlicht
Ein Wunder
von Eva Biringer
16. März 2016. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, genau genommen Anfang 2015, verzeichnete Deutschland 31 Wolfsrudel, davon sieben in Brandenburg, Tendenz steigend. Dass sie sich in den südlichen, an Sachsen grenzenden Wäldern besonders wohlfühlen, ist keine literarische Erfindung, sondern eine Tatsache. Auch im Zentrum von Roland Schimmelpfennigs erstem Roman steht ein Wolf. Von der polnischen Grenze aus bahnt er sich einen Weg durch das tiefverschneite Brandenburg, Richtung Berlin. Ist "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts", nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, ein deutsches Wintermärchen?
Von der erzählerischen Haltung her keinesfalls, eher lautet das Motto: Tod den Schachtelsätzen! Zwar erzeugt der dokumentarische Duktus nicht den Eindruck von etwas schnell Hingeworfenem – was der Medienkonsument des 21. Jahrhunderts ja durchaus gewohnt ist –, allerdings eine unüberbrückbare Distanz seinen Figuren gegenüber. Davon gibt es viele und wie es sich für einen klug konstruierten Roman gehört, haben alle irgendwie miteinander zu tun. ("Klug konstruiert" ist nicht ironisch gemeint, das muss man dem auf Ironie getrimmten Leser des 21. Jahrhunderts vielleicht deutlich machen.)
Kantiger Schauplatz Berlin
Im Zentrum der Handlung steht ein junges Paar, das seiner dörflichen Perspektivlosigkeit und den saufenden Eltern entflieht, und zwar wie Hänsel und Gretel geradewegs in den Wald hinein. Nicht anhand von Brotkrumen, sondern ihrer Spuren im Schnee nimmt der frisch aus der stationären Psychiatrie entlassene Vater des Jungen die Verfolgung auf. Über Umwege gelangen Elisabeth und Micha nach Berlin, wo sie auf eine ihre Vergangenheit verbrennende Spirituelle, zwei ihre eigenen Exkremente verbrennenden DDR-Relikte und beinahe auch die geschiedenen Künstler-Eltern des Mädchens treffen. Parallel wird die Geschichte eines polnischen Pärchens erzählt, von dem wenigstens ein Teil am Leben scheitert, und zweier Spätkaufbesitzer, deren schwarz-rot-goldenes Interiourdesignkonzept den sensiblen Leser aufmerken lässt: Achtung, Wutbürger! Tatsächlich ist dieser Charly in seinem Wunsch, einen Wolf abzuknallen, der möglicherweise nur eine Zeitungsente ist, der kantigste Charakter von allen.
Längst nicht so kantig allerdings wie Berlin als Schauplatz. Beeindruckend ortskundig tourt der Autor durch den Osten der Stadt, mit seinen Ringbahn-Schluchten und entkernten, der Gentrifizierung freigegebenen Altbauten, den menschgewordenen Würstchenbuden und nur ganz selten klischeebehafteten Mitte-Galerien. Aus Minimalbeschreibungen wie "Die Menschen in dem vollen Einkaufzentrum. Rolltreppen. Musik" wird ein Kiezkosmos, der eigenen Gesetzen folgt, so wie Elisabeths und Michas von Landflucht gezeichnetes Dorf. Mit dem Unterschied, dass die Großstadt ihre Bewohner verschluckt und jede Suche "sinnlos" bleibt, während in der Provinz der Busfahrer sofort das Ausbleiben seiner Fahrgäste bemerkt.
Und der Wolf?
Der 1967 geborene Schimmelpfennig ist der meistgespielte zeitgenössische Dramatiker an deutschen Bühnen, seine sensiblen Gesellschaftsskizzen wie "Der goldene Drache" preisgekrönt, sein Arbeitspensum legendär. Als ehemaliger Journalist und Regisseur seiner eigenen Werke kann es nicht an mangelndem Einfühlungsvermögen liegen, dass uns seine Figuren so "eiskalt" lassen wie der titelgebende Januarmorgen. Manchmal wuchert aus einem einzelnen Satz eine Charaktertragödie: "Dann riss er die Augen wieder so komisch auf, ein Tick, eine nervöse Angewohnheit, aber es fühlte sich gut an in den Augenwinkeln, es tat ein bisschen weh, und es machte wach." Geht doch? Meistens ist jedoch lesbar der Theatermann am Werk. Angesichts der Aussparung innerer Vorgänge, der Unterteilung der Handlung in knappe Szenen und ihrem klar strukturierten dramatischen Verlauf wäre "An einem eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" vermutlich ein größerer Gewinn vom Theater- denn vom Lesesessel aus. Beziehungsweise wird, denn der Inszenierung der Uraufführung sollte sich Schimmelpfennig unbedingt annehmen.
Und der Wolf? Er ist das alle Handlungsstränge bündelnde Motiv, steht für den Gegensatz von Wildnis und Zivilisation, von Ein-Bus-pro-Tag-Provinz und Hauptstadtmoloch. Und wird zum Fetischobjekt sämtlicher Medien. Haben die keine anderen Themen? Dass das verwackelte Handyfoto eines Wolfs von Berlin aus "um die Welt geht", wirkt wie eine Farce angesichts Bilder von Händen im Stacheldraht und an Strände gespülter Kinderleichen. Den Wolf zur Einsamkeitsmetapher des an der (eiskalten!) Gegenwart leidenden Menschen zu stilisieren, ist eines derart souveränen Dramatikers wie Schimmelpfennig nicht würdig. "Ja, das war ein Wunder", heißt es an einer Stelle über eine Volontärin, die im Wolf ihre Chance auf eine Festanstellung wittert, und "kein Wort von alldem glaubte, und die Geschichte ein paar Stunden später trotzdem schrieb, denn eine Geschichte ist eine Geschichte." Vielleicht ist dieses Romandebüt weniger Wintermärchen als das: Eine Geschichte, die eben mal aufgeschrieben werden wollte.
Roland Schimmelpfennig:
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
S. Fischer, 254 Seiten, 19,99 €
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(Liebe(r) mal ne Frage,
die einen sagen so, die anderen so. Da hängt vermutlich davon ab, welche Zeiträume man ansetzt.
MfG, Georg Kasch / Redaktion)