Der Kirschgarten - Salzburger Landestheater
"Leidende Frauen sind so niveaulos!"
8. April 2024. Es ist das Transformationsstück schlechthin: Die Realitätsverweigerin Ljubow Ranjewskaja schlägt jeden Modernisierungsakt aus, mit der sie ihren Kirschgarten vor der Versteigerung retten könnte. Der Gewinner ist der aristokratieferne Sozialaufsteiger Lopachin. Bei Regisseurin Alexandra Liedtke sind die Sympathien klar verteilt.
Von Reinhard Kriechbaum
8. April 2024. Die Party ist vorbei. Aber das heißt nicht, dass es mit dem Tanzen ein Ende hat. Die Assoziation zu einem Totentanz stellt sich wiederholt ein in Alexandra Liedtkes Salzburger Inszenierung von Anton Tschechows Lebens- und Gesellschaftsabgesang "Der Kirschgarten".
"Ich weiß gar nicht, ob ich Tee trinken soll oder mich erhängen", sagt da etwa Semjon Jepichodow, der uns hier nicht als melancholischer Kontorist entgegentritt, sondern als herumlungernder subalterner Eigenbrötler, dem die Arbeit abhandengekommen ist. Damit verkörpert er so etwas wie das Alter Ego des greisen Dieners Firs, der mit seinen Kaffeetassen durch diese heutige Welt von gestern schlurft und sinniert: "Man muss die Vergangenheit besser sehen als sie war, um an der Gegenwart nicht zu verzweifeln."
Der Traum aller Frauen
Semjon und Firs (Georg Clementi und Marco Dott) bilden in Alexandra Liedtkes Inszenierung tatsächlich ein allgegenwärtig-komisches Dienerpaar – beide ebensowenig abzuschütteln wie die Erinnerung an bessere Zeiten. Was für eine Szene, wenn Jascha – bloß mit Shorts angetan und hier keineswegs seiner Funktion als "junger Diener" nachkommend – die Gouvernante Charlotta auf den Schoß nimmt und Semjon diese Liebesszene als gehörnter Grand Guignol aus nächster Nähe beobachtet! Zuvor hatte Jascha – in dessen Rolle die Regisseurin den Text mehrerer Figuren gepackt hat – mit strotzendem Selbstbewusstsein verkündet, dass er sich selbst sowieso für den Traum aller Frauen halte und herablassend erklärt: "Leidende Frauen sind so niveaulos."
Alexandra Liedtke hat viele kleine Geschichten herausgeschält aus dem liebenswerten Figuren-Pandämonium des Tschechow-Stücks. Eine jede und ein jeder schaut sehnsüchtig hinaus in den Kirschgarten – aber es braucht ja gar nicht erst die Kettensäge zu dessen Abholzung! Ein morsches Baum-Skelett hat man zuletzt sogar ins Haus gezerrt. Wie ein biologisches Memento mori liegt das Ding sonderbar deplatziert da. Neben ihm wird die ohnmächtige Ljubow Andrejewna Ranjewskaja – die besonders hingebungsvoll nostalgiebegabte Hausherrin – hingebettet, nachdem sie erfahren hat, dass ausgerechnet Lopachin den Kirschgarten ersteigert hat. Ausgerechnet er, der das Grundstück parzellieren und so etwas bauen will, was man heutzutage Chalet nennt!
Mit dem Radio gegen die Wirklichkeit
Tina Eberhardt spielt diese quasi im Sprung gelähmte Lebefrau, die kurzerhand das Radio aufgedreht hatte, als Lopachin (Maximilian Paier) ihr das erste Mal seine Idee vom Ferienhausbau vortrug. Sie will, ja kann nicht hören auf das Offenkundige. Ihr Ohnmachtsanfall später erfordert übrigens einen reaktionsschnellen Sprint von Lopachin, der die isoliert Dastehende im allerletzten Moment auffängt.
Liedtkes Inszenierung besticht durch viele kleine Aufmerksamkeiten, die jede einzelne Figur als Individuum auszeichnen. Die Realitätsverweigerung hat viele Gesichter. Jenes von Tochter Anja (Leyla Bischoff) ist besonders offen, wogegen Pflegetochter Warja (Nikola Jaritz-Rudle) fast versteinert wirkt. Larissa Enzi als Charlotta, eine Bedienstete mit wenig Aussichten, wird, wer weiß, vielleicht doch einmal mit Jascha (Thomas Wegscheider) glücklich. Der verkündet zwar vorerst, dass "in Paris alles besser" sei, "auch die Frauen". Es wird aber nichts aus Paris.
Gregor Schulz als Student Pjotr und Maximilian Paier als Lopachin, der sich seiner herkunft wegen "Bauer" schimpfen lassen muss: Das sind jene beiden, die hinausblicken aus dem engen Kirschgarten-Horizont und doch ein jeder auf seine Art auch festhängen in der Konvention. Ljubow greift Pjotr beherzt in den Schritt, als dieser allzu vollmundig von der künftig besseren Welt spintisiert, und Lopachin wird als frischgebackener Gutsherr am Ende total verunsichert und allein dastehen, ratlos den Schlüssel in den Händen halten – auch er kann einem leidtun. Leonid Gajew (Matthias Herman), soignierter Bruder der bankrotten Gutsbesitzerin, wird sich am Ende selbst hineinsetzen in den Bücherschrank, von dem er so geschwärmt hat und der doch nur als Vitrine für einen Strauß Trockenblumen gedient hat.
Zeugen und Zaubermittel
Viele einnehmende Ideen, dabei immer ein gewisser Hang zur Übertreibung: Das Sich-Zurücknehmen gelingt an diesem Abend generell weniger gut als das Aus-sich-Herausgehen. Niemand steht hier im Sonderverdacht schauspielerischer Exzellenz, aber die Regisseurin weiß die Stellschrauben so zu justieren, dass das Ensemble rund und gleichgewichtig wirkt.
Gar wundersam präsentiert sich das Drehbühnenbild von Philip Rubner. Drei parallele Wände mit sehr vielen Türen machen es möglich, dass immer mehr Leute gegenwärtig sind als in der jeweiligen Szene vorgeschrieben. Da ist niemand je allein oder zu zweit, immer sind Augen- und Ohrenzeugen zugange. Und ein weiteres Zaubermittel: der Tanz – sei's auch die Anmutung von Totentanz –, als pantomimische Überhöhung zwischen den Akten. Das hat Stil. Ans Herz greift der Tod des uralten Firs, der sein Haupt in den Schoß von Grischa legt – Ljubows verstorbenem Sohn, der in dem Totentanz gelegentlich als Wiedergänger auftaucht.
Der Kirschgarten
von Anton Pawlowitsch Tschechow
Regie: Alexandra Liedtke, Bühne: Philip Rubner, Kostüme: Johanna Lakner, Musik: Karsten Riedel, Dramaturgie: Friederike Bernau.
Mit: Tina Eberhardt, Leyla Bischoff, Nikola Jaritz-Rudle, Matthias Hermann, Maximilian Paier, Gregor Schulz, Georg Clementi, Larissa Enzi, Marco Dott, Thomas Wegscheider.
Premiere am 7. April 2024
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.salzburger-landestheater.at
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Ein Satz wie: "Niemand steht hier im Sonderverdacht schauspielerischer Exzellenz," ist so pauschal verletzend und herabwürdigend, im vorgerückten 21. Jahrhundert finde ich dergleichen in einer Theaterkritik nicht mehr angemessen.
In den alten Zeiten unter Gerhard Stadelmaier mag die Schauspieler:innen-Beleidigung als Subgenre des Feuilletons gegolten haben.
Die lieblose Abqualifizierung des ganzen Ensembles in einer sonst ausgewogen wirken wollenden Kritik erweckt bei mir jedoch den Eindruck, dass Sie selbst nur einfach nicht bemerkt haben, was Sie da schreiben.
Und das noch nebenbei: "Semjon ... (beobachtet) die Liebesszene als gehörnter Grand Guignol". "Grand Guignol" ist ein stehender Begriff und Gattungsname (und zwar für das Pariser Horror- und Trash-Theater des 19. Jahrhunderts, mit blutspritzendem Splatter), kann daher nicht in wörtlicher Übersetzung (etwa "großes Kasperle") verwendet werden. Im Sprachenunterricht nennt man so etwas "false friends".