Hildesheimer Thesen VI - Die Transformation des deutschen Theatersystems
Vernetzung stärken
von Thomas Schmidt
Hildesheim, 28. November 2012.
These 1
Das deutsche Theater- und Orchestersystem steht vor der größten Umbruchssituation seit seiner Wiederentstehung in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, weil vor allem das öffentliche Theater an seinen Enden und in der "Peripherie" massiv zu bröckeln beginnt. Die Legitimation der Theater ist gesunken, die Zahl der Zuschauer hat in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen, während die Theater mit immer weniger Ressourcen immer mehr produzieren. Die Theaterstrukturen sind ebenso unflexibel wie ihre Produktionsbedingungen. Hinzu kommt eine chronische finanzielle Unterausstattung, die zu einem Substanzabbau führt. Verstärkt wird dies durch eine – in weiten Teilen des Landes – kulturpolitische Ideenlosigkeit, diesen Problemen zukunftsfähige Konzepte entgegen zu setzen.
These 2
Die Hauptaufgabe des Theater ist und bleibt es, sich und seine künstlerischen Formate weiter zu entwickeln. Die Legitimationskrise, die temporäre Veränderung der Besucherstrukturen und der Wahrnehmung des Theaters, dürfen dieses nicht daran hindern, immer wieder und weiter neue Wege zu suchen, das Theater künstlerisch neu zu erfinden. Gleichzeitig muss das Theater auch in einer heterogenen und sich immer weiter diversifizierenden Gesellschaft dorthin zurückfinden, wo es einmal seinen Ursprung genommen hat: in der Mitte.
These 3
Die Aufgabe des Theaters ist es, das Publikum für sich zu gewinnen. Der Besucher muss wiederentdeckt und begleitet, in seiner Differenziertheit, in seiner Entwicklung, seinem Wissen und seinen Ansprüchen wahrgenommen werden. Niemals zuvor war das Publikum einer Stadt heterogener als heute. Die Theater müssen über die Entwicklung und Kommunikation neuer künstlerischer Formate einen Weg zu den verschiedenen Besuchergruppen und damit zurück in die Gesellschaft finden. Nicht der Weg zurück zum "Theatermuseum" und zu althergebrachten Aufführungspraxen, sondern interdisziplinäre, performative Spielweisen, Neuentwicklungen von Texten, zeitgenössische, experimentelle Inszenierungen, neue Musik, Tanz und Performance haben die Kraft zur Erneuerung.
These 4
Vor allem das Stadttheater und sein Betrieb müssen sich grundlegend reformieren, hinsichtlich interner Produktionsprozesse (Vereinfachung), der Tarifstruktur (Theatereinheitstarifvertrag), der Tendenz zur Überproduktion (Entschleunigung), der Komplexität der Spielplanung (Veränderung des Repertoirebetriebes), der Zusammenarbeit mit freien Gruppen (echte Kooperationen, Öffnung, finanzielle Restrukturierung der Etats) und ihrer Ausrichtung (Zukunftsfähigkeit).
These 5
Das Verhältnis zwischen Theatern und Politik muss neu definiert werden, dazu gehört, dass Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft bzw. neu definiert, u.a. für neue, öffentliche und gerechtere Finanzierungsformen (Grundfinanzierung für öffentliche und freie Theater/Gruppen, Zugriff auf zusätzliche Förder- und Exzellenzmittel für alle), aber auch für eine regelmäßige künstlerische Evaluierung durch externe Fachleute. Kultur muss zudem aus dem Status der "freiwilligen", also jederzeit zur Disposition stehenden Aufgaben befreit werden. Die Aufgabe der Kulturpolitik eines Landes und seiner Kommunen ist es, eine ausgewogene, heterogene und entwicklungsfähige Theaterstruktur zu erhalten, die sowohl öffentliche wie freie Theater und Ensembles fördert.
These 6
Die Kluft zwischen öffentlichen und freien Theatern muss grundlegend aufgehoben werden, durch gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, durch gleichberechtige politische Legitimation und durch eine enge Kommunikation und Zusammenarbeit – dies ist die Grundvoraussetzung für die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft. Der damit verbundene Austausch zwischen öffentlichen und freien Theatern, öffentlichen und freien Orchesterensembles muss vorangetrieben werden.
These 7
Die Ausbildung in den Theaterberufen muss sich stärker mit dieser neuen Wirklichkeit auseinandersetzen. Noch immer wird vor dem Hintergrund einer "blühenden" öffentlichen deutschen Theater- und Orchesterlandschaft ausgebildet. Die wenigsten Studenten werden auf die veränderten Anforderungen und daraus entstehenden neuen Berufsprofile oder für die anspruchsvollen Aufgaben in der freien Szene und den freien Ensembles vorbereitet. Neue Berufsfelder an der Schnittstelle zwischen Kunst und Management werden sich entwickeln und müssen in der Ausbildung gefördert werden.
These 8
Wir müssen die Arbeit in realen Netzwerken verstärken, so wie sich Teile der freien Musiktheaterensembles, der Konzerthäuser, der freien Szene und im Tanz zusammengeschlossen haben. Ein Netzwerk, das sich über alle Teilnetzwerke der öffentlichen Theater und der freien Szene spannt, als Diskussions- und Kommunikationsplattform, als Austauschbörse, Denkfabrik und Motor für ein Theater der Zukunft dient, und sich als gemeinsame, politisch unabhängige Interessensgruppe artikuliert.
Thomas Schmidt ist Professor für Theater- und Orchestermanagement und Direktor des gleichnamigen Masterstudiengangs an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Seine Lehrschwerpunkte sind Theatermanagement, Kulturwirtschaftslehre, Kulturpolitik sowie Organisationstheorie und Organisationsmanagement. Er ist außerdem Geschäftsführer des Deutschen Nationaltheaters Weimar und ist in der Spielzeit 2012/13 außerdem Interimsintendant.
Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de
Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden
Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de
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Sehr geehrter User/in,
"dieser" Thomas Schmidt ist Geschäftsführer des DNT Weimar und für die Spielzeit 12/13 hat er außerdem die interimistische Intendanz inne, wir ergänzen die Biographie.
Die Redaktion
Auch die Umstellung vom Repertoiretheater auf das Stagionesystem umzuarbeiten, wird, durch die Vielzahl von Theatern schwer umzusetzen. Außerdem wage ich zu bezweifeln, dass, wie Thomas Schmidt behauptete, die Zuschauermenge keine Verluste erfahren würde. Abonnements würden auf jeden Fall unter einem Stagionesystem leiden.
Obwohl auch ich diese Thesen als sinnvoll erachte, bin ich mir nicht sicher, ob der Verfasser sie selbst einzuhalten vermag (siehe Kommentar Nr. 2).
mir bekannte Vorteile für den (Semi)Stagione-Betrieb ergeben sich durch monetäre Einsparungen, da das Bühnenbild & Kostümbild nicht nach jeder Vorstellung von den Techniker_innen auf- und wiederabgebaut werden muss, sondern zwei Wochen lang bespielt werden kann. Die Arbeitszeit einer zehnköpfige Technikercrew würde dadurch modifiziert werden.
Was ich nicht verstehe sind die von dir angesprochenen Nachteile eines (Semi)Stagione-Betriebs für das Abonnementpublikum. Ich kenne mich nicht sehr gut mit Abonnementnutzerstatistiken aus, aber
gehen Abonnementen wirklich alle zwei Wochen ins Theater?
Vielleicht gibt es hierzu einen Experten in der Follower-Runde?
Abopublikum geht im Schnitt einmal im Monat ins Theater
großes Vorhaben. Es heißt nicht, dass ich dies als unmöglich abtue, lediglich wird es viel Kraft, Innovation und Mut in Anspruch nehmen. Trotz des durchaus demotivierenden mitschwingenden Gedanken, die gegen den Berufseinstieg in diese Branche stehen, finde ich, war dieser Vortrag dennoch überzeugend und in einer ganz seltenen Weise wirklich anregend, vielleicht gerade durch das eigene Beispiel Herrn Schmidts auch authentisch genug, den Kampf gegen die Krise aufnehmen zu wollen und vor allem auch als Darsteller zu versuchen, etwas zu bewegen.
Während man innerhalb der Theaterszene, sowohl in der "freien" als auch in der "institutionellen" bereits seit Jahren kontrovers darüber diskutiert [1], wird es an der Zeit, das auch in kommunaler, Landes- und Bundespolitik ernsthaft über Strukturreformen verhandelt wird und zukunftsfähige Konzepte entwickelt werden. Denn selbst wenn Verantwortliche wie Thomas Schmidt Veränderungsbedarf sehen und vorantreiben wollen, so läuft nichts ohne den Einsatz der Politik. Schließlich sind die Intendant_innen den Städten und Kommunen als öffentliche Träger der Theater gegenüber verantwortlich.
Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, plädiert Herr Schmidt wie bereits schon zuvor in der Vortragsreihe Alexander Pinto und Annemarie Matzke an alle Theatermachenden: Macht Kulturpolitik in eigener Sache!
[1] zum Beispiel in der Düsseldorfer und Wuppertaler Debatte beim NRW Kultursekretariat:
http://nrw-kultur.de/projekte/projekte/theaterdebatte/duesseldorfer-debatte/tagungsprogramm/#0
Und ohne solche Schritte bliebe ob der aufgezeigten Probleme mit dem Repertoirebetrieb etc. doch die Frage, was auf Dauer noch an kreativer Energie in Theater zu spüren sein wird.
Und das liegt leider nicht mehr in den Händen der Theaterleute, die diese angesprochenen Krisen sicherlich am intensivsten zu spüren bekommen und bekommen haben. Immerhin sind die Diskussionen über Kommunikation zwischen freien und institutionierten Theatern genauso wenig neu, wie die fortwährende Debatte über künstlerische Freiheit im Zusammenspiel mit der Notwendigkeit, Zuschauer anzuziehen.
Wichtig ist, dass Kulturpolitik nicht mehr, wie Thomas Schmidt es nannte, “Liebhaberpolitik” sein darf. Die kontroversen Diskussionen müssen nicht mehr nur in und zwischen den Theaterhäusern stattfinden, sondern auf Ebene der Politik. Wenn das passiert, wenn entsprechende Förderprogramme aufgenommen werden, können diese von Thomas Schmidt aufgestellten Thesen sicherlich mehr werden als nur eine gerne herbei geträumte Utopie der “perfekten” Theaterwelt.
Ich finde die Thesen sehr nachvollziehbar und bestimmt sind hier viele gute Ansätze die verwirklicht werden können. Bsp. These 3, das Theater kann natürlich nicht schlagartig dies verwirklichen. Doch man sollte das Publikum langsam neuere Theaterformen und Tanzformen näher bringen. Bei These 7 muss ich Herr Schmidt vollkommen Recht geben. Die Schauspielschulen suchen noch immer bei ihren Aufnahmeprüfungen nach traditionellen Schauspieltypen und Spieltypen.
Mann muss auch mal wieder etwas wagen. Weg von null acht fünfzehn Typen.
Frauen Männerrollen spielen lassen, Collageartig arbeiten usw.
Man sollte vielleicht überlegen, um der Blauäugigkeit von Bewerbern wiederstandzugeben, ob man wie bei anderen Studiengängen ein Praktikum Pflicht von min.6 Wochen voraussetzt, um sich überhaupt Bewerben zu können.
So können junge Bewerberinnen sehen, ob sie in der heutigen Theaterlandschaft arbeiten möchten und sehen das Theater nicht mehr wie Herr Schmidt es nennt " eine blühende Theaterlandschaft" ist, sowie die Schwierigkeiten des heutigen Künstler Berufes.
Es wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung, wenn seitens der Intendanz mehr Entwicklungsbereitschaft gezeigt und sich nicht an die jeweiligen persönlichen „Vorlieben“ geklammert würde. In diesem Kontext erklärt sich auch die Bedeutung der Ausbildung einer neuen Generation von Theatermachern, die für Themen wie Publikumsorientierung frühzeitig sensibilisiert werden und die dazu bereit sind, bestehende Strukturen auch mal zu hinterfragen. Ich glaube, dass nur so umzusetzen ist, was Herr Schmidt fordert, nämlich das Theater wieder zurück in die Mitte der Gesellschaft zu bringen.
Liebe Inga,
bitte führen Sie doch noch aus um welche weitere Produktion es sich neben "Breiviks Erklärung" handelt, damit keine unüberprüfbaren Behauptungen im Raum stehen.
Die Redaktion
Thomas Schmidt schreibt in seinen Thesen von der "Entwicklung und Kommunikation neuer künstlerischer Formate" von dem Beschreiten eines Weges "weg vom Theatermuseum". Sein Verhalten neuen Formen des Schreibens gegenüber, deren Umsetzung, nicht zuletzt der Spielplan seines Hauses, zeigt ein Entwicklungspotential zwischen Anspruch und Umsetzung auf
Ganz offensichtlich wird in Weimar - möglicherweise aus einer regionalen Tradition heraus - an der Schaffung eines neuen Universalgenies gearbeitet. Der Kaufmann ist jetzt nicht mehr nur Intendant und Hochschullehrer, er bezeichnet sich auch als Autor und Kritiker. Dass es einen Unterschied zwischen Kunst und Kultur gibt, muss in dabei genauso wenig interessieren, wie die Möglichkeit zur Bewertung einer künstlerischen Arbeit über betriebswirtschaftliche Kennzahlen hinaus
Liebe Inga,
vielleicht helfen Sie uns nochmal weiter: Wo bezeichnet sich "der Kaufmann" als Kritiker? Dass ein Geschäftsführer nach dem Weggang des bisherigen Intendanten für ein Jahr die Interimsintendanz übernimmt ist meines Wissens nach übrigens nicht allzu unüblich.
Matthias Weigel für die Redaktion
http://wordpress.p134055.webspaceconfig.de/?page_id=125
Mich wundert auch, weshalb sich der Großteil der Schauspieler nicht der Gewerkschaft anschließt, durch die eine Besserung der misslichen finanziellen Vergütung eventuell möglich wäre?
Denn Unmut über die schlechte Bezahlung gibt es sicherlich genug!
Auf einen Aspekt möchte ich hier eingehen, da mir ein Satz besonders im Gedächtnis geblieben ist: „Wir produzieren Theater knapp am Infarkt." Es ist Fakt, dass „die Theater mit immer weniger Ressourcen immer mehr produzieren" und, dass einfach immer mehr in kürzester Zeit auf die Bühnen gebracht werden soll. Es lastet ein enormer Druck auf allen Mitarbeitern jeglicher Bereiche. Eine Produktion jagt die Nächste und muss mit einem knappen Budget auf die Bühne gebracht werden. Das dann auch meist schon während die vorherige noch nicht mal Premiere hatte. Nicht nur die Schauspieler haben nicht ausreichend Ruhezeiten, auch die Mitarbeiter der zahlreichen anderen Bereiche haben oft Überstunden, viele Abteilungen sind einfach unterbesetzt und werden nicht des Arbeitsaufwandes entsprechend bezahlt. Die sind Aspekte, die bekannt sind, und die meiner Meinung nach dringend verbessert werden müssen. Ich frage mich auch, ob bei so einem Druck nicht eventuell auch die kreative Seite vernachlässigt wird.
Die Überlegung den Repertoire-Betrieb in einen Stagione-Betrieb umzuwandeln finde ich interessant, aber bezweifle, dass dies vom Publikum gut angenommen werden würde.
Deutlich ist sicherlich, dass die von Herrn Schmidt vorgeschlagenen Veränderungen jeglicher Art in der Umsetzung sehr schwierig erscheinen und wenn sie irgendwie umsetzbar sein sollten, sicherlich viel Zeit bräuchten. Es mangelt wie sooft an Zeit und Geld.
Ich halte die Umstellung von einem Repertoire-Betrieb auf einen Stagione-Betrieb für eine sehr sinnvolle Sache. Nur leider, wie Herr Schmidt schon sagte, fehlt es dabei an Intendanten die den Mut dazu haben bei der Umstellung dieses Systems auch mit Verlust klarzukommen und dies vor ihren Geldgebern zu rechtfertigen.