"Ein Reality-Theater der Grausamkeit."

26. Oktober 2023. Seit Terroristen der Hamas im Süden Israels unbewaffnete Kibbuzim und ein Musikfestival überfielen und auf bestialische Weise rund 1400 Menschen ermordeten, ist Krieg. Der israelische Dramaturg und Professor für Theater Gad Kaynar Kissinger über (s)ein Land im Ausnahmezustand.

Interview von Esther Slevogt

Kerzen für die 1400 Ermordeten auf dem Dizengoff-Platz in Tel-Aviv © Zohar Tal

Zuallererst die Frage: Ist Ihre Familie, sind ihre Freunde unversehrt?

In unserer Familie ist niemand direkt betroffen. Allerdings ist meine Enkeltochter nur um ein Haar entkommen. Im Rahmen ihres Militärdienstes, den sie erst kürzlich beendet hat, war sie als Wachposten an der Grenze zu Gaza stationiert. Beim Angriff der Hamas am 7. Oktober wurde jetzt ihre ganze Einheit, nur junge Frauen, getötet oder entführt. Inszwischen sitzt sie als Reservistin wieder am selben Ort. 

Indirekt sind wir als Bewohner dieses kleinen Landes sehr stark betroffen. Aktuell gibt es nur Gräuelerzählungen – ob durch Freunde und Bekannte, die Leute auf der Straße, im Fernsehen, im Radio oder in den sozialen Medien. Sie und ich, wir sind doch Theaterleute, nicht wahr? Stellen Sie sich dieses Bild vor: Mitten in einer Vorstellung zerschlagen die Schauspieler das Licht auf der Bühne, um in der Finsternis auf das Publikum loszugehen: mit Gewehren, Granaten, Äxten, Sprengstoff ... um Glieder abzuhacken, Babies zu köpfen, Menschen lebendig zu verbrennen, Frauen zu vergewaltigen, Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu erschießen, alte Frauen zu entführen – und das Geschehen wird jubelnd aufgenommen. In den gerade veröffentlichten Verhören gefasster Terroristen wird jetzt noch deutlich, dass ihnen sogar befohlen wurde, keine Form der Brutalität auszulassen und sich bei ihren Taten auch noch feiernd zu filmen. Tagtäglich werden uns die Gräueltaten der Hamas an den 1400 Abgeschlachteten vor den Augen geführt. Das ganze Land ist ein Reality-Theater der Grausamkeit.

Wie würden Sie Ihre gegenwärtige Verfassung beschreiben?

Dementsprechend. Man zieht hier die Analogie zum Holocaust, wenn man darüber spricht, was den Menschen in den Kibbuzim im Süden angetan wurde. Diese Analogie wird in Israel in der Regel zu häufig benutzt. In diesem Fall jedoch ist sie angemessen. Ich würde sagen, dass die Hamas gute Schüler der Nazis waren: Die alten Methoden haben sie auf den neuesten Stand gebracht, nur ohne Gaskammer – vorläufig zumindest.

Auch auf anderen Ebenen haben sie die Strategien ihrer braunen Vorgänger verbessert: Gerade wurden zwei von 220 Geiseln freigelassen. Davor schon mal zwei. Das erinnert mich an die Strategie von Adolf Eichmann während der Verhandlungen mit Kasztner und Brand über das berüchtigte "Blut gegen Ware"-Geschäft 1944 in Budapest: Die Verhandlungen heraus zu zögern, um Zeit für die Vernichtung zu gewinnen. Diese Affäre wurde beispielsweise von Heinar Kipphardt und von meinem Freund Motti Lerner aus verschiedenen Perspektiven dramatisiert.

Außerdem muss man wissen, dass seit dem 7. Oktober etwa 120.000 israelische Bürger aus grenznahen Orten evakuiert und so über Nacht im eigenen Land zu Flüchtlingen geworden sind. Es ist als ob im Verhältnis, sagen wir, sowohl die westlichen Regionen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, als auch ein Viertel von Sachsen und Brandenburg entleert worden wären. Die Überlebenden der Massaker in den zerstörten Kibbuzim wurden in Hotels am Toten Meer und Eilat untergebracht. Das alles beschreibt in etwa meine gegenwärtige "Verfassung"...

Haben Sie Informationen über Reaktionen und Haltungen aus der israelischen Theaterszene nach den Massakern vom 7. Oktober?

Ich würde lieber über die Situation vor dem 7. Oktober sprechen, denn die neue Lage ist zu frisch, um hier etwas Definitives sagen zu können. Die Theater sind geschlossen, größere Versammlungsstätten dürfen im Augenblick nicht betrieben werden, weil sie Ziel von Raketenangriffen sind. Es gibt viele Theaterleute, die sich gegenwärtig um die Geflüchteten aus den Grenzgebieten und die Überlebenden aus den zerstörten Dörfern kümmern.

Vor der Katastrophe war das Theater in Israel sehr eskapistisch. Die politische Realität wurde verdrängt. Sie wurde mit Theatermacherinnen wie Yael Ronen sozusagen nach Berlin verlagert. Wenn Sie hierzulande das Repertoire der Theater anschauen, finden sie Komödien, Musicals, Familiendramen, aber sehr selten etwas, das sich mit den existenziellen Problemen Israels befasst. Man befasst sich höchstens mit den Konflikten zwischen Religiösen und Säkularen oder der Stellung der Frau in der orthodoxen Gemeinschaft. Man spielt "Engel in Amerika", "Broadway Nächte", "Leopoldstadt", "Anna Karenina", als ob wir uns in London und New York befänden. Ich gehöre zur Jury des Akko-Festivals für Freies Theater, das immer ein Seismograph der Stimmung in Israel war. Dieses Jahr, wie schon in den Jahren davor – nada: Wir konnten auf keine Aufführung zurückgreifen, die sich mit den Minoritäten im Land, geschweige denn mit dem politischen Problem befasst. Keine Stücke arabischer oder palästinensischer Autoren.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass der existenzielle Konflikt Israel / Palästina im Theater der vergangenen Jahre kaum noch eine Rolle spielte?

Als allererstes ist es Müdigkeit – Müdigkeit und Resignation darüber, dass das ganze kritische Theater, das es ja einmal gab, nicht geholfen hat, die Situation zu verändern. Hinzu kommt die schwierige Finanzsituation der Theater überall. Dieser Konflikt ist kein Thema, das noch viel Publikum anzieht. Die Resignation spiegelt sich ja in der ganzen Gesellschaft wieder.

Aber dafür ist das Theater, insbesondere das öffentlich finanzierte Theater, mitverantwortlich. Meinen Dramaturgiestudenten sage ich immer: Kein Publikum existiert von sich aus. Es wird erst durch das Theater und seine Themen erzeugt. Und das israelische Theater hat jahrelang sein Publikum mit "Süßigkeiten" verdorben. Natürlich gibt es Ausnahmen wie Motti Lerner – einer der letzten Dramatiker des politischen Theaters der 1980er-Generation wie Edna Mazya oder Joshua Sobol – der etwa mit seinem beeindruckenden Stück The Admission an die offene Frage mutmaßlicher Kriegsverbrechen während der "Nakba" rührt.

 Howtomakearevolution LouisGreenSzene aus dem Dokumentarstück How To Make A Revolution, das die israelische Theatermacherin Einat Weizman gemeinsam mit dem palästinensischen Aktivisten Issa Amru 2023 im Jaffo Theater in Tel Aviv herausbrachte © Louis Green

Oder die mutige, unbesiegbare Einat Weizman, die in sehr provokanten Stücken und Aufführungen immer wieder die Problematik verletzter Menschenrechte in den besetzten Gebieten und Gefängnissen aufbringt, und dafür einen hohen persönlichen Preis bezahlt.

Aber das sind Ausnahmen. Die großen Häuser wagen sich nicht mehr, solche Stoffe aufzuführen. Die Selbstzensur wirkt dabei viel stärker als die staatliche Kritik, die man ja einfach ignorieren könnte. Schließlich ist Israel eine Demokratie. Noch.

Haben Sie Informationen über Reaktionen palästinensischer Theatermacher?

Kaum. Ein Doktorant von mir, ein sehr bedeutender palästinensischer Wissenschaftler, Schauspieler und Regisseur, sagt: "Es ist sehr schwierig, was in diesen Tagen vorgeht. Ich verurteile – wie viele in der palästinensischen Gesellschaft – die barbarischen Taten der Hamas. Andererseits fühle ich mich durch den Hass, der sich jetzt in Israel auch gegen arabische Zivilisten entlädt, in eine Zwickmühle gebracht." Es gibt auch einige palästinensische Theaterleute, die sich solidarisch zeigen mit ihren jüdischen Kolleginnen und Kollegen, weil sie zusammenarbeiten. Die meisten schweigen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich mich als Linker zu diesem Schweigen verhalten soll.

Wie werden sich die Ereignisse aus Ihrer Sicht auf die innenpolitische Situation in Israel auswirken, bis vor kurzem noch ein tief gespaltenes Land?

Erst allmählich fängt man an zu begreifen, dass das, was zunächst als eine Spaltung zwischen Demokratie und Diktatur im Zusammenhang mit der sogenannten "Justizreform" erschien, eigentlich ein gefährlicher Spalt ist, der sich zwischen der freiheitlichen Demokratie (und damit auch all dem, was die Kibbuzim symbolisieren, die jetzt einen so furchtbaren Preis bezahlen) und einer radikalen, anti-zionistischen Theokratie aufgetan hat.

Israel wurde von der säkulären sozialistischen Bewegung gegründet und die Kibbuzim waren ein wichtiger Teil dieser Bewegung. Es hat in den letzten Jahren Tendenzen bei den rechten Regierungen gegeben, diese linke Ursprungsgeschichte Israels zu verdrängen oder umzuschreiben. Die Kibbuzim, das sind Sozialisten, keine Siedler. Sie wurden nicht geschützt. Der jetzigen Regierung sind die orthodoxen, die extremistischen Juden wichtiger, als die Linken in den Kibbuzim.

GadKaynar YaelRosenGad Kaynar Kissinger © Yael Rosen

Hier müssen wir jetzt auch über Benjamin Netanjahu sprechen: Das Schlimmste ist, dass er die Grausamkeit der Hamas nicht erkannt hat, dass er versucht hat, die Hamas zufriedenzustellen und uns Zivilisten in Israel mit Parolen einzuschläfern. Und dies, während er von allen Seiten gewarnt wurde, dass er das Leben der Menschen in den Grenzgebieten aufs Spiel setzt. Das relativiert die unmenschlichen Taten des Hamas keineswegs, aber ich bin nicht bereit, die Rolle Netanjahus bei dieser Katastrophe zu beschönigen. Er, der im Gegensatz zu Sicherheitsminister, Stabschef und Vorstand der Knesset sowie sämtlichen anderen Ministern, seine eigene Verantwortung für das Geschehen noch immer nicht anerkennt. Stattdessen führt er Krieg und beschmutzt damit sein eigenes Nest.

Als erklärter Gegner der Besatzung – und das seit 50 Jahren – sage ich außerdem: Die Hamas darf man nicht mit den Palästinensern gleichsetzen. Die Hamas hält auch die Palästinenser als Geisel, bereichert sich an Geldern, die eigentlich für die Bevölkerung gedacht sind, hat von diesen Geldern ein ungeheures Waffenarsenal angelegt und ist zu keinem Kompromiss bereit. Ihr Ziel ist die Vernichtung Israels und der Israelis "von der Wüste bis zum Meer“.

Auf welcher Basis kann man mit diesen Unmenschen verhandeln? Über die erwünschte Form unserer Ausrottung?

 

Gad Kaynar Kissinger, 1947 in Tel Aviv als Sohn deutscher Emigranten geboren, ist Prof. emer. der Universität Tel Aviv, Gastprofessor an der LMU München und VIU (Venice International University). Er arbeitete als Dramaturg unter anderem am National Theater Habima, am Cameri Stadttheater Tel Aviv und am Chan Theater in Jerusalem. Immer wieder war er auch als Schauspieler und Regisseur für Theater, Fernsehen und Film tätig. Er ist Übersetzer von 50 deutschen und skandinavischen Dramen ins Hebräische. Für seine Ibsen- und Fosse-Übersetzungen wurde ihm 2009 vom norwegischen König der Titel "Ritter ersten Ranges" verliehen. Darüber hinaus ist er in Israel als Lyriker bekannt und Präsident des israelischen Zentrums des ITI. Er lebt in Tel Aviv.

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Kommentare  
Interview Kaynar Kissinger: Danke
Danke dass ihr berichtet. Auch wenn es niemanden hier zu interessieren scheint.
Interview Kaynar Kissinger: Differenzierte Informationen
Danke für dieses Interview. So viele differenzierte Informationen über die Situation vor Ort - von einem faszinierenden Menschen, der auch jetzt noch den Blick auf Kooperation und Versöhnung gerichtet hat.
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