Barrieren abbauen

28. September 2023. Die Volksbühnen-Bewegung existiert seit über 130 Jahren. Sie überstand Kriege und Krisen, zuletzt Corona. Noch immer ist sie dem Ziel verschrieben, das schon ihre Gründer verfolgten: Kultur für alle. Katrin Schindler, Geschäftsführerin der Berliner Besucherorganisation Kulturvolk/Freie Volksbühne e.V. im Gespräch über Geschichte und Gegenwart ihrer Organisation.

Interview von Sophie Diesselhorst

Anlaufstelle für viele Kulturinteressierte: Der Kulturvolk/Freie Volksbühne e.V. in Berlin

28. September 2023. Frau Schindler, wofür interessieren sich Ihre Mitglieder – welche Kontingente sind am schnellsten ausverkauft?

Die Top Vier sind die Deutsche Oper, das Deutsche Theater, die Komische Oper und die Schaubühne. Die Stadttheater sind der zentrale Sektor. Aber das Angebot ist breit und unsere 5000 Mitglieder sind sehr neugierig und gehen auch ins Privattheater oder die Freie Szene. Im Sommer waren Open-Air-Veranstaltungen populär. 

In ihrer über 130 jährigen Geschichte hatte die Berliner Freie Volksbühne zwei eigene Häuser ...

Der Ursprung des Vereins vor 130 Jahren kam aus einer Gruppe von zehn Intellektuellen, die mehr kulturelle Teilhabe fürs Proletariat organisieren wollten. Anfangs kaufte man als Mitglied ein Los und konnte damit eine Theaterkarte gewinnen. Mittlerweile zahlt man einen Mitgliedsbeitrag und bekommt dafür starke Ermäßigungen und Zugriff auf Kartenkontingente.

Der Verein baute die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ohne staatliche Hilfe...

Von den Nazis wurde sie verboten, und nach dem Krieg lösten sich die Volksbühnen in der DDR auf. In der BRD boomten sie hingegen und wickelten zeitweise bis zu 30 Prozent aller pro Jahr verkauften Theaterkarten ab. Die Freie Volksbühne (heute Haus der Berliner Festspiele), das zweite Theatergebäude, das unser Verein in (West-)Berlin baute, wurde dann um die Wende herum zu teuer im Unterhalt für uns, zumal der Senat dem Verein seine Unterstützung entzog.

Mittlerweile bewegt sich der Prozentsatz der über Ihre Organisation verkauften Karten im einstelligen Bereich.

Ja, die Lebenskonzepte haben sich verändert. Die Menschen sitzen mehr vor dem Fernseher. Das kriegen ja auch die Theater direkt zu spüren. Die Art und Weise, wie Kultur konsumiert wird, hat sich auch verändert. Karten werden gerne spontan gekauft. Abos müssen immer flexibler werden, man sieht es auch beim Medienkonsum. Aber nach der schwierigen Zeit der Pandemie wachsen wir nichtsdestotrotz aktuell wieder.

Wie haben Sie die Corona-Zeit durchlebt?

Einige Volksbühnen hatten es sehr schwer und sind nicht über die Zeit gekommen wie zum Beispiel die in Bremen, der es allerdings vorher schon schlecht ging. Corona war der letzte Kick. Wir in Berlin haben Corona-Hilfen bekommen und haben die Zeit gut genutzt, um uns zu modernisieren: neue Webseite, energieeffiziente Sanierung unserer Räumlichkeiten. Außerdem haben wir eine eigene App programmiert, mit der wir auf einmal ganz andere Publikumsschichten erreichen. Über die App kann man tagesaktuell das Berliner und Brandenburger Kulturprogramm einsehen und als Mitglied direkt auch Karten buchen.

Wie viele Mitglieder haben Sie in der Pandemiezeit verloren?

An die 700, von denen die meisten zu den alten Mitgliedern zählten. Aber nach Corona haben wir bereits fast 1200 neue Mitglieder dazugewonnen.

Wie ist die Altersstruktur ihrer Mitglieder aktuell?

Der Kern bewegt sich zwischen 45 und 65. Wir entwickeln uns analog zur Entwicklung der Gesellschaft, die ja auch altert. Aber ich finde das gar nicht so schlimm, wie es immer dargestellt wird. Es gibt ja, ganz realistisch, auch einfach ein gewisses Alter, in dem viele Menschen kleine Kinder haben und sowieso gar nicht ins Theater gehen. Und dann gibt es ein Alter nach Kindern, wo man wieder mehr Zeit für Kultur hat. In diesem Alter sind die meisten unserer Mitglieder. Natürlich kann Überalterung auch problematisch sein: Einige Volksbühnen haben Probleme, dass sie keine Nachfolger finden. Gerade in den kleineren Vereinen läuft viel übers Ehrenamt. Insofern suchen wir natürlich schon auch gezielt nach jüngeren Mitgliedern.

Wie ist die Lage bei den anderen Volksbühnen in Deutschland?

Es gibt insgesamt 47 Volksbühnen, die im Bund der Volksbühnen organisiert sind. Auch diese Dachorganisation hat sich in den letzten Jahren stark erneuert, gemeinsame Projekte initiiert, um nach der Corona-Zeit wieder ins Bewusstsein zu kommen. Zusammen haben wir zum Beispiel eine Produktion zur Geschichte der Volksbühnen gemacht, die in zehn Städten lief. Und es wird vermehrt auf Vernetzungsarbeit zwischen den einzelnen Volksbühnen gesetzt: Wenn die Volksbühne aus Kiel eine Berlin-Reise plant, organisieren wir hier das Kulturprogramm. Man kann die Mitgliedschaft einer Volksbühne also mittlerweile auch bundesweit nutzen.

Welche weiteren Pläne haben Sie?

Wir wollen wieder verstärkt mit Gewerkschaften zusammenarbeiten und sind dafür mit dem DGB im Gespräch. Auch die Gewerkschaften suchen ja neue Wege. Wir sind optimistisch, dass sich Kooperationsmöglichkeiten ergeben werden. Außerdem überlegen wir, hier in Berlin mit anderen Vereinen zu kooperieren, zum Beispiel auch mit Sportvereinen. Und wir erweitern das Programm ständig. Wir sind sehr offen neuen Orten und Formaten gegenüber. Barrieren abbauen, darum geht es uns von Anfang an. Aber auch darum, den Interessen unserer Mitglieder zu folgen. Die Vision der kulturellen Teilhabe ist nach wie vor aktuell und dringlich.

Schindler Katrin Elysium Piscator Preis Saal 0007 50Katrin Schindler ist Geschäftsführerin der Berliner Besucherorganisation Kulturvolk/Freie Volksbühne e.V. und Beisitzerin im Vorstand des Bundes Deutscher Volksbühnen. 

www.kulturvolk.de

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