Jung, lesbisch, im Ich-Schleudergang

27. April 2024. Auf eine Achterbahnfahrt jugendlicher, lesbischer Gefühle schickt Leonie Lorena Wyss das Publikum in ihrem Adoleszenzstück "Blaupause". Als Sieger des letztjährigen Autor*innenpreises eröffnet das Stück jetzt den 40. Heidelberger Stückemarkt. In einer flipperkugelflinken Inszenierung von Hanna Frauenrath.

Von Steffen Becker

"Blaupause" von Leonie Lorena Wyss eröffnet den 40. Heidelberger Stückemarkt © Susanne Reichardt

27. April 2024. Masturbation hilft. Wie anders kommt der*die Autor*in aus einer schon oft da gewesenen Szene heraus. In diesem Fall: Eine Frau kommt im Morgengrauen nach einem Date mit dem Gefühl nach Hause, etwas Falsches getan zu haben, und googelt nach "Öffnungszeiten Apotheke".

Die Autorin von "Blaupause" schreibt sich selbst in diese Hängephase ihres Werks hinein. Oder besser gesagt: ihre Hände. Auf der Suche nach einer überraschenden Wendung wandern ihre Finger zwischen die Beine als gäbe es dort eine zweite Tastatur (Spoiler: im Ergebnis funktioniert es).

Die Hände sind überall

Regisseurin Hanna Frauenrath nimmt den Ball auf. Sie drapiert in ihrer Inszenierung des Werks von Leonie Lorena Wyss zwischen Plastikstühle und weiße Vorhänge einige übergroße Hände auf die Bühne. Vier Schauspielerinnen und ein Schauspieler nutzen sie zum drauf reiten, zwischen die Beine klemmen und dran reiben. Was angesichts der Dimensionen der Requisiten reichlich ungelenk wirkt. Und gerade deshalb so gut passt. Erzählt das Stück doch von einer Jugend, in der generell schon Körper und Gedanken aus den Fugen geraten.

Queeres Begehren potenziert zusätzlich das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen. Dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch die "Blaupause", mit der Wyss als Siegerin des letztjährigen Autor*innenpreises jetzt den 41. Heidelberger Stückemarkt eröffnet.

Blaupause3 1200 Susanne Reichardt uVom Gefühl, nicht in die Welt zu passen, erzählen Esra Schreier, Katharina Uhland, Katharina Ley und Julia Staufer © Susanne Reichardt

Regisseurin Frauenrath lässt ihre auf fünf Schauspieler*innen verteilte Protagonistin den Partytanz Macarena performen – aber in einer völlig unpassenden Elektro-Variante. Gedankenspiele über lesbische Identität werden mit Mucke der Fake-Lesben t.A.T.u und Katy Perry unterlegt (die für heterosexuelle Zielgruppen geschaffen wurden). Beim Blow-Job auf dem Schulklo fantasiert die Protagonistin über sich als gerubbelten Parmesan-Käse.

Der Verlust der Farbe Blau

Seinen symbolischen und stärksten Ausdruck findet das Gefühl der Fremdheit aber darin, dass die junge Frau das Blau verliert: die Farbe, die sie mit ihrer Freundin verbindet, sowie einem "OMG – da küssen sich Mädchen"-Film, über den die Cousinen beim Familientreffen aufgeregt sprechen.

Die Inszenierung überträgt das Motiv der zersplitterten Wahrnehmung der Welt auch auf die Schauspieler*innen (gekleidet in lila-blass ohne blau). Mit Jeremy Heiß als einzigem Mann etabliert die Regie einen Störfaktor, der zunächst oberflächlich Sinn macht. Weil der Text am Rande auch über Männer spricht, ist das dann sein Part. Zugleich unterstreicht er aber auch das Identitäts-Schleudertrauma zwischen klassischen weiblichen Zuschreibungen und dem eigenen Begehren.

Erzählstücke schießen wie Flipperkugeln umher

Auch die vier Frauen verkörpern konsequent verschiedene Facetten der Protagonistin von nervös (Katharina Ley) über schnippisch (Julia Staufer) und rotzig (Katharina Uhland) bis zu empathisch-reflektiert (Esra Schreier). Sie sind dabei von der Regie so (gut) aufeinander abgestimmt, dass der Monolog der Textfassung nie als solcher erscheint. Vielmehr hüpft die Erzählung der Protagonistin wie eine Flipperkugel über die Bühne. Dem Abend verleiht das ein Tempo.

Unterm Strich legen die Autorin und die Regie an den richtigen Stellen Hand an, um aus ihrer "Blaupause" viel mehr als die schon oft dagewesenen Szenen herauszukitzeln, – und legen eine Achterbahn der (queeren) Gefühle durch den Theaterraum.

 

Blaupause
von Leonie Lorena Wyss
Regie: Hannah Frauenrath, Bühne: Laura Immler, Dramaturgie: Maria Schneider, Musik: Jeremy Heiß.
Mit: Katharina Ley, Esra Schreier, Julia Staufer, Katharina Uhland, Jeremy Heiß.
Premiere am 26. April 2024
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

Korrektur: In einer ersten Fassung des Textes war von einer ausschließlich für FLINTA geöffneten Premierenparty die Rede. Die Stelle wurde berichtigt. Die FLINTA-Party findet im Anschluss an die Aufführung am 8. Mai statt.

Kritikenrundschau

Wie ein "Frühlingserwachen der anderen Art" wirkte der Abend auf Volker Oesterreich von der Rhein-Neckar-Zeitung (27.4.2024). All die verhandelten Fragen zu sexueller Orientierung und emotionaler Irrungen und Wirrungen kämen nicht platt und plakativ, sondern poetisch und poiniert herüber, "so dass viele Freiräume für eigene Gedanken entstehen". Auch das Ensemble wird sehr gelobt!

Den Spielenden bleibe "viel Raum für raumgreifendes Spielen und kunstvolles Sprachgestalten", so Ralph-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (29.4.2024). "Und das ist es im Wesentlichen dann auch schon, was es über dieses heftig bejubelte, heiter-niedrigschwellige Theaterstückchen zu sagen gibt." Gender-Dramen sähen anders aus. "Individualistisch ist die Schau auf den eigenen Nabel (und darunter) fraglos so menschlich wie spannend. Ob die verbale wie händische Durchdringung dieser hitzig-schwülen Feuchtgebiete preiswürdiges Welttheater ist, darf man dennoch infrage stellen."

Die Autorin Leonie Lorena Wyss entwerfe fantasievolle, sinnliche Bilder, so Marie-Dominique Wetzel im SWR (29.4.2024). "Wyss schreibt sich selbst immer wieder in den Text hinein, stoppt den Verlauf der Geschichte und reflektiert ihr eigenes Schreiben." Ihr gelängen, neue Vorlagen, neue Bilder und Narrative zu kreieren. Die Inszenierung des Stücks am Theater Heidelberg bleibe dagegen brav und farblos. "Regisseurin Hannah Frauenrath findet keine entsprechend fantasievollen und lustvollen Bilder."

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