Der Schimmelreiter - Johan Simons inszeniert Theodor Storms Novelle am Thalia Theater ebenso klug wie verkopft
Wann kommt die Flut?
von Stefan Schmidt
Hamburg, 25. November 2016. Es gibt Schlimmeres, als Barbara Nüsse beim unheilvollen Sterben zuzusehen. Zumindest wenn klar ist, dass das alles nur gespielt ist. Muss die arme Frau aber deshalb in diesem "Schimmelreiter" am Hamburger Thalia Theater gleich sieben (!) Mal das Zeitliche segnen? Wohl kaum.
Das hat mutmaßlich mit biblisch apokalyptischer Zahlenmystik zu tun, die zum Theodor Stormschen Sturmflutszenario mit Pferd natürlich ganz hervorragend passt. Und es ist zugegebenermaßen auch nuancenreiche Schauspielkunst am Werk, wenn die gleiche Szene von Tod und Unglücksvorausschau über den Abend hinweg immer wieder neu, immer wieder ein wenig anders dargeboten wird. Ein Verweis vielleicht auch auf den legendenhaften Charakter der Vorlage, die ja offensiv damit spielt, dass Überlieferungen aus alter Zeit nicht zwingend verlässlich sein müssen, dass abweichende Perspektiven denkbar sind.
So weit, so einleuchtend. Theoretisch. Nur genügt sich die Inszenierung des Ruhrtriennalechefs und künftigen Bochumer Intendanten Johan Simons in ihrer statischen, abstrakt düsteren Form- und Gedankenstrenge über weite Strecken hinweg selbst. Und das wird in der Praxis leider irgendwann ebenso vorhersehbar wie langweilig.
Ein teurer Sieg
Die meiste Zeit über rauscht ein Wind. Die meiste Zeit über werden Wolkenschatten auf die schräge, marmorierte Fläche projiziert, die hier ein Deich sein soll, mit Treppenstufen links und rechts, mit einem lebensgroßen, offenkundig toten Pappmachéschimmel oben an der Scheitelfläche. Die meiste Zeit über hängt eine Kirchenglocke unbewegt über dem Deich, vor schwarzem Hintergrund. Läuten darf sie nur selten. Die meiste Zeit über steht eine schwarz gekleidete Gruppe von Darstellern auf dem Bühnendeich und erzählt von Ereignissen der nordfriesischen Vergangenheit: wie der wissensdurstige Autodidakt Hauke Haien alle im Dorf übertrumpft – mit der Wurfkugel beim nordischen Boßelspiel, beim Rechnen und Verwalten sowieso, und letztlich auch wenn es darum geht, um die Gunst der vergleichsweise wohlhabenden Elke zu werben, und der Nachfolger des alten Deichgrafen zu werden. Wie Hauke meist dem Tratsch und Neid der Leute trotzt (obwohl beides dann doch manchmal zu sehr an ihm nagt). Wie er sein behindertes Kind liebt und dem Aberglauben entgegentritt. Wie er die Natur besiegt – und letztlich doch mit seiner Familie in ihren Fluten untergeht.
Jens Harzer spielt diesen allzu frühen Aufklärer als einen Mann, der von Leidenschaft allenfalls redet, sie aber nicht zeigen kann. So gelingen überzeugende Szenen, etwa wenn sich sein Hauke Haien hin und wieder der Elke (Birte Schnöink) verhuscht zu nähern versucht, aber er es nur einmal über sich bringt, ihre Hand zu berühren. Wie bitter, wenn – mit Storm – davon die Rede ist, wie sich die beiden nach einem Fest trotz eines kalten Ostwindes fühlen sollen, "als sei es plötzlich Frühling geworden", aber Harzer und Schnöink auf betonter körperlicher Distanz bleiben.
Warten auf den Untergang
Für Harzers Hauke Haien ist das Leben ein Kampf, weshalb er sich nach außen hin hart gibt, aber seine unmenschliche Überlegenheit überfordert die Leute in seiner Umgebung. Ein Aufklärer, der auch scheitert, weil er die Menschen um sich herum nicht von seinen Kenntnissen zu überzeugen weiß, weil ihm deren Sorgen und Nöte und Unzulänglichkeiten höchstens (als "Faulheit") nerven, aber nicht einsichtig sind. Ein kluger Kopf ohne Empathie. Und einer, der sich über drei Stunden dieser Inszenierung hinweg kaum entwickelt. Unglück und Verderben stehen auf der Bühne von vornherein fest (auch wenn zwischenzeitlich mal unambitioniert vom Gegenteil die Rede ist). Denen im Zuschauerraum bleibt es überlassen, auf Vollendung der Verheerung zu warten. Und das dauert.
Immerhin Sebastian Rudolph bricht stellenweise aus dem strengen Inszenierungskorsett aus. Er gibt Hauke Haiens Widersacher Ole Peters, der selbst gerne der erste Mann am Ort wäre – aber ob es wirklich nur Rivalität und Missgunst sind, die ihn treiben, bleibt offen. Und das ist gut so. Endlich rutscht an diesem Abend mal einer halbwegs unkontrolliert und unverkrampft und unbedeutungsschwanger die Bühnenschräge hinab. Endlich darf man sich mal Fragen stellen – zum Beispiel was diese Figur wohl antreibt. An einer Stelle sagt dieser Ole Peters zu Hauke Haien: "Von dem unheimlichen Glanz, der Dich umgibt, weißt Du nichts." Die Zuschauer bekommen davon allerdings auch nichts zu spüren.
So klug wie kalt
Johan Simons' Zugriff auf Theodor Storms "Schimmelreiter"-Novelle ist ebenso klug wie konsequent. In seiner Bühnenversion sind großartige Schauspieler besetzt. Letztlich bleibt die Inszenierung aber ebenso verkopft und oft kalt wie ihre Hauptfigur.
Pünktlich zur Premiere ist in Hamburg der Novembernebel in die Stadt gezogen. Es ist die richtige Zeit für gruselige Geschichten an langen, dunklen Abenden. Allerdings haben sowohl das Thalia Theater als auch der Regisseur weitaus bessere davon im Angebot. Vor allem: lebendigere, einfallsreichere und berührendere.
Der Schimmelreiter
von Theodor Storm
Regie: Johan Simons, Bühne: Bettina Pommer, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Warre Simons, Dramaturgie: Susanne Meister
Mit: Kristof Van Boven, Jens Harzer, Barbara Nüsse, Sebastian Rudolph, Birte Schnöink, Rafael Stachowiak.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.thalia-theater.de
"Wozu macht der Regisseur das?", fragt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.11.2016). Es gehe ihm offenbar nicht darum, wie man die Geschichte einer nordfriesischen Dorfgemeinschaft im Theater zeigen könnte. "Johan Simons verrät nicht, was ihn an dieser berühmten Novelle jemals interessiert hat." Er inszeniere fast nichts, "er lässt vortragen: andächtig, konzentriert, kraftvoll, unverbindlich." Aber nicht nicht gerade eindrucksvoll. Fazit: Hauke Haien sterbe am Ende nicht in den "schäumenden Wellen", sondern "erfriert vielmehr in der blutleeren Monotonie einer Inszenierung, die sich selbst nichts zu erzählen hat".
Mit gnadenloser Sturheit inszeniere Simons eine Welt ständiger Bedrückung, in der nicht einmal die Liebe die Menschen lächeln lässt, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (29.11.2016). "Gekleidet in pietistisches Schwarz (Kostüme: Teresa Vergho) befindet sich diese Marschgemeinde in einer komplett glücksfreien Zone." Wenn sich dann doch Erregungen Bahn breche, "sind es die des Neides, der Konkurrenz und der Daseinsängste". Fazit: Das von Simons' Team geschaffene Kraftdreieck aus Glaube, Depression und Erneuerungswillen, die schwermütig grübelnde und intellektuell fordernde Inszenierung, erzeuge eine starke Atmosphäre soziologischer Denkanreize.
Falk Schreiber honoriert im Hamburger Abendblatt (28.11.2016) die Konsequenz, mit der sich Simons auf diesen langen, anstrengenden, kräftezehrenden Abend eingelassen habe. "Das ist ja stimmig, es ist durchdacht, es ist nicht zuletzt ein Anknüpfungspunkt an die Novellenstruktur von Storms Vorlage. Es ist nur, leider, ein wenig langweilig." Die Figuren seien zart die Figuren gezeichnet, was aber nichts am Grundproblem des Abends ändere: "seine Ereignislosigkeit".
Katja Weise vom NDR (26.11.2016) schreibt, das Spröde sei in Theodor Storms Novelle zu finden, doch Simons überspanne den Bogen. "Es fehlt dieser formal einleuchtenden Inszenierung an Sinnlichkeit und Dynamik. Außerdem fokussiert sich der Regisseur zu sehr auf den Aspekt des Religiösen. Das können auch die tollen Schauspieler nur phasenweise auffangen."
Werner Theurich von Spiegel-Online (26.11.2016) schreibt, trotz der "perfekt agierenden" Darsteller und "allem Stilwillen" bekomme der Abend keine überzeugende Linie und "verhindert durch die allzu statische Personenregie, die sich anscheinend bewusst der Dramatik verweigert, den herbeigesehnten Wumm. Wenn der dann durch die sparsam eingesetzte Musik addiert werden muss, wurde schauspielerisches Potenzial falsch portioniert."
Simons habe "eher ein episches Gedicht geschaffen als eine rasante Erzählung", berichtet Katrin Ullmann in der taz (29.11.2016). In Zentrum der Besprechung rückt die Kritikerin das Schlussbild, das "den Beigeschmack spektakeltheatraler 'must haves'" besitze: "ein Nackter, ein modernes Musikstück und ein massives Bühnenbild". Dieses "eindrucksvolle Bild" stimme "versöhnlich", denn es biete endlich "Wucht. Endlich ausgestellte Verzweiflung. Endlich fluchtartige Empörung im Parkett." Bis dahin aber, sei die Inszenierung über lange drei Stunden hinweg "mehr Lesung als Theater"; zu "statisch, zu stilisiert ist der ganze Abend".
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Nach der Deutschstunde an gleichen Ort ist es wieder auf engem Raum angelegt, wieder anspruchsvoll, aber eindringlicher.
Man muss sich auf die Inszenierung einlassen, mitdenken. Überlegen, wozu die Wiederholungen dienen, warum Jens Harzer so monoton spricht, warum der einzige wirkliche Gefühlsausbruch erst ganz zum Schluss mit harter Musikuntermalung kommt... Aber wenn man das schafft, dann erkennt man die Mentalität der Nordfriesen wieder, die Ängste aufgrund der Religion und der kaum vorhandenen naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die ein Ausbrechen aus Traditionen unmöglich machen. Man kennt nur das Dorf und der Blick vom Deich auf das Meer ist schon das Äußerste, was man sich traut... Die Wiederholungen waren für mich ein Bild der Wellen. Alles wiederholt sich zunächst, aber entwickelt sich doch jedes mal anders weiter. Und Hauke Haien. Der einzig intelligente, der das Dorf voran bringen will, aber keinen überzeugen kann. Der verkopfte Intellektuelle, leise Stimme, aber nicht anders kann, als das zu tun, wovon er überzeugt ist... und sich eigentlich erst mit dem Scheitern, nach dem Tod seiner Familie befreien könnte, aber dann merkt, dass es nun zu spät ist. Für mich eines der besten, der eindringichsten Stücke der letzten Monate - aber auch eines der anspruchsvollsten.
Größte(n) Respekt und Begeisterung für Herrn Simons und seinen Mut gegen "moderne Theater-Trends" zu schwimmen!
Wohin sie führen, ist die Auflösung von Gemeinschaft, die es vielleicht nie gab. Vereinsamung. Simons malt Vereinzelungsbilder, kaum einmal kommen zwei Figuren zusammen und wenn, dann nur, um gleich wieder getrennt zu werden. Einen leichten Moment gibt es. Da treffen sich Hauke und Elke (mit souveräner Ruhe als Frau, die ganz bei sich ist, gespielt von Birte Schnöink) zum ersten Mal. Plötzlich wird der sonst so trauerschwere Ton spielerisch, rollt mal in augenzwinkernd rebellischer Kumpanei albern das „R“ und weht auf einmal ein Lächeln auf beider Gesichter. Sekundenlang nur, dann fallen sie wieder ein. Ein leicht zu übersehender Moment dieses störrisch lächerlichsten aller menschlichen Triebe: Hoffnung. Der sonst hier nichts zu finden ist in diesem düsteren Gesellschaftsporträt, dieser hoffnungslosen Parabel davon, was passiert, wenn sich eine Gesellschaft einmauert, wenn sie im Namen hehrer „Werte“ (hier der Religion) sich zwingt, nicht mehr zu denken, sich einredet, bewahren zu müssen und nicht merkt, dass es schon bald nichts mehr zu bewahren gibt. Die Flut muss nicht mehr kommen, sie ist immer schon da. Der Schimmel, er ist nie geritten.
Dass der Deich am Ende zur Mauer wird, vor der Harzer/Hauke längst geopfert nackt zu Jimi Hendrix‘ Voodoo Child zuckt, in einer letzten Auflehnung, die um ihre Chancenlosigkeit weiß und sich trotzdem nicht stoppen lassen will, ist da ebenso konsequent wie dieser Abend. So anstrengend er in seiner unerbittlichen Formstrenge und den zunehmend ernervierenderen Wiederholungen, in seiner statischen Unbeweglichkeit und atmosphärischen Eintönigkeit ist, so zwingend funktionieren gerade diese Gründe seiner Sperrigkeit als narrative Mittel. Das ermüdet, tut weh, verärgert zuweilen wohl auch – und will, soll, muss dies auch. Kein Spiegel, in den man gern schaut, aber einer mit gehöriger Tiefenschärfe.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/04/01/unter-totem-schimmel/