Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui - Schauspiel Leipzig
Chicago first
14. Oktober 2023. Im Gangsterstück "Arturo Ui" beschreibt Bertolt Brecht die Machtergreifung Adolf Hitlers. Nuran David Calis verlegt das Treiben der Ganoven in die Welt Donald Trumps und zeigt eine quietschbunte Groteske.
Von Tobias Prüwer
14. Oktober 2023. Zähne fletschend und mit zu Hörnern gezwirbeltem Schopf glotzt ein riesiger Horroclown ins Publikum. Dieses werde nun das Gangsterstück sehen, "das jeder kennt", erklärt die an Stephen Kings Pennywise ("Es") erinnernde Figur. Auf einem halbtransparenten Vorhang wird die Fratze mit Raubtierfängen projiziert. Im Hintergrund ist der abgefilmte Schauspieler zu erkennen. Dann hebt sich die Stofffläche und "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" nimmt seinen Lauf.
Regisseur Nuran David Calis verlässt sich für seine Bertolt-Brecht-Adaption am Schauspiel Leipzig ganz auf die Wirkung als Farce. Statt Adolf Hitler dient ihm Donald Trump als Vorbild, den er in eine knallbunte Comicwelt hievt.
Arturo Ui in Gotham City
Pompös das gut durchdachte Bühnenbild von Irina Schicketanz, das sich an klassizistischer US-Herrschaftsarchitektur orientiert: Im Zentrum eines Sitzungssaals thront ein Schreibtisch unter ionischen Säulen, die ein Gesims mit dem Spruch "In God We Trust" tragen. Links und rechts lassen Displays durch wechselnde Motive jeweils einen der verschiedenen Handlungsorte erkennen. Das dient einem rasanten Rausch durch die Szenen, welchem das Spiel – soviel vorweg – nicht folgen kann.
Oben im Hintergrund klafft ein Loch mit Rutsche, das dank Lichteffekte wie die Irisblende im „James Bond“-Vorspann wirkt. Die Bühne wird permanent von grellen Clownsfiguren bestürmt, bei denen in Optik und Bewegungen Charaktere aus dem Batman-Universum anklingen. Arturo Ui sucht Gotham City heim, Joker und Pinguin watscheln im Gefolge.
Brechts Handlung orientiert sich an Adolf Hitlers Aufstieg von der Weltwirtschaftskrise 1929 bis zur Machtübernahme in Österreich 1938. Verlegt wird das Geschehen nach Chicago, wo der Kleinganove Arturo Ui alle Geschäfte in einem Kraut-und-Rüben-Monopol an sich reißen möchte. Er spinnt Intrigen und droht, brandschatzt und mordet, bis er Chef der Gangsterwelt wird. Leichen – auch die seiner einst Getreuen wie Ernesto Roma alias SA-Chef Ernst Röhm – pflastern seinen Weg. Bis das Stück mit Brechts bekannten Lehrworten endet: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." In Leipzig wird das Publikum Konfetti behangen im Saal zurückgelassen.
Clowns weltweit
Calis' Grundidee ist sofort erkannt. Sein Ui ist eine Trump-Figur in Pink mit blonder Tolle. "Chicago First" ist seine Botschaft, natürlich geht es ihm in Wahrheit nur um sich selbst. Soweit so klar: Wir leben in einer Welt, in der eigentlich lächerliche Figuren US-Präsidenten werden können. Mit Fake News, absoluter Dreistigkeit und Ruchlosigkeit pushen sich Clowns weltweit an die Macht. Und fast alle machen mit. Dieser Zugriff läuft allerdings rasch leer, weil sich nicht mehr entschleiert, nichts weiter zu entschlüsseln ist. Der Gegenwartsspiegel beschlägt, je länger man in ihn schaut. Und das dauert immerhin 160 Minuten.
Mitunter gelingt der schnelle Schnitt zwischen den Szenen. Besonders beim Gerichtsprozess, in dem ein Unschuldiger wegen Brandstiftung verurteilt wird, machen Lichteffekte, Situationssprünge und flottes Spiel als groteske Farce erlebbar. Nach kurzen Wortgefechten setzt stets ein Zeitraffer ein, indem die Spielenden Gesten nur andeuten, Positionen wechseln und dann wieder in normalem Tempo agieren.
Ansehnlich ist auch, wie Ui bei einem Schauspiellehrer in die Schule geht und Selbstinszenierung lernt. Das ist eine schöne Ironie auf zu große Gesten und veraltetes exaltiertes Spiel. Nur fällt diese Kritik auf die Inszenierung selbst zurück. Denn Calis' Farce gerät unter zu viel Text und zu viel Ausagieren unter die Räder, verliert den angepeilten Charme der überwältigenden Groteske.
Putzige Wortspiele
Die Spielenden tun viel, um die Regieidee zu retten. Der anständige Dogsborough hechelt heftig, weil er "Hund" (dog) im Namen hat. Und ruft "Mein Kampf her!", meint eigentlich: "Mein Kampfer!" Putzig, ein Wortspiel. Aber weil er fast nur sitzen darf, überzeugt in dieser Rolle selbst ein sonst so präsenter Andreas Keller wenig.
Zur "Azzurro"-Melodie singt Ui tanzend "Arturo". Der Qualitätsgarantin Bettina Schmidt gelingen einige herrlich überzogene Momente. Aber komplett drüber, damit es wirklich weh tut, ist auch ihre Hauptfigur nicht. Niemand spielt schlecht, aber irgendwann guckt man Clownsklamotte und Clownsschminke weg. Es bleiben Spielende in Kostümen, die noch Text übrig haben. Der clownesk-trumpsche Verfremdungseffekt der Brecht'schen Parabel verfliegt allzu früh.
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui
von Bertolt Brecht
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Johanna Stenzel, Musik: Vivan Bhatti, Dramaturgie: Benjamin Große, Licht: Ralf Riechert, Video: Kai Schadeberg.
Mit: Bettina Schmidt, Roman Kanonik, Michael Pempelforth, Annett Sawallisch, Markus Lerch, Denis Grafe, Teresa Schergaut, Anne Cathrin Buhtz, Yves Hinrichs, Andreas Keller, Luca-Noél Bock, Aicha-Maria Bracht.
Premiere am 13. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Kritikenrundschau
Von einer "klugen, temporeichen Inszenierung" schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (17.10.2023). Nuran David Calis gelinge "nicht weniger als eine Rettung des Stücks vor seinen politischen Verkürzungen". Die Figuren dieser Parabel treten "erfreulicherweise im Geisterbahn-Zirkus auf, nicht in einem drögen Historienschinken von Guido Knopp", so der Kritiker. "Bettina Schmidt tänzelt als Arturo Ui mit kalter Eleganz und bestens gelaunter Spielfreude durch den Abend, Roman Kanonik beweist als Röhm-Double Ernesto Roma, dass Highheels hervorragend zu Anzügen im gewaltbereiten Camouflage-Look passen."
"Das überkandidelte, böse Clowneske, auf das die Inszenierung insistiert, tritt schnell auf der Stelle. Oder hampelt, ganz wie Bettina Schmidt als Arturo Ui, hektisch um Wirkung bemüht." So schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (18.10.2023). Dass dieser Abend in Leipzig "inszenatorisch eher eine zähe Wanderschaft durchs Flachland der Plattitüden ist, liegt am Stück selbst – und daran, dass Regisseur Calis eine Sünde begeht, die man bei Brecht schon im Namen des Autors selbst niemals begehen darf: Nämlich Brecht zu inszenieren, ohne ihn zu kritisieren."
"Eine Schau, ein Theaterereignis. Kein Verfremdungs-, ein Befremdungseffekt, mit dem meint, sich anfreunden zu können: Brechts 'Ui' als Groteske. Grauen eher nur angedeutet." So stellt Andreas Platthaus den Abend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.10.2023) vor. Nuran David Calis begebe sich "auf dünnes Eis mit seiner Inszenierung, die als große Ansammlung von Clowns daherkommt. Aber weil er sie meist als Horrorclowns agieren lässt, die in den Übergängen zwischen den einzelnen Szenen im Gegenlicht zu stampfender Musik wie zappelnde Go-go-Girls auf- und abtreten (besonders gerne durch einen Trichter, der wie aus Hieronymus Boschs 'Aufstieg ins himmlische Paradies' entnommen ist), wird Calis der Vorlage zumindest nicht ungerecht." Gleichwohl hätte der Kritiker in dem bunten Treiben "auf etwas Blässe des Gedankens durchaus freudeschlotternd reagiert".
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In Leipzig scheint sich - nach einigen tollen Jahren - grade ein neuer Regiestil durchzusetzen: Das Reissbrett-Theater. Inszenierungen entstehen zuhause am Schreibtisch. Auf den Proben wird nur noch umgesetzt, arrangiert, ausgeführt. Wir stellen die Spieler:innen in ein tolles Bühnenbild, leuchten es effektvoll aus und schmieren schmissigen Sound darüber, das reicht dann schon. Die Spielerinnen helfen sich selber, das ist ja ihr Job. Hauptsache, sie bleiben im vorgegebenen Arrangement (und nötigenfalls sitzen). Sollte es dann doch etwas flach, trocken und gekünstelt wirken, sind sie selber schuld. Was geht das die Regie an?
Das ist besonders frustrierend, weil die Programmierung (zusammen mit Cabaret zur Spielzeiteröffnung) ja explizit Bezug nimmt auf die immer bedrohlicher ansteigenden Umfrageergebnisse der AfD in Sachsen. Bereits gibt es Kommentatoren, die vorrechnen, wie die Rechtsextremisten bei den nächsten Landtagswahlen im Freistaat die absolute Mehrheit erreichen könnten. Ihre Stärke resultiert auch aus der Schwäche der Anderen. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen es reicht, sich gegenseitig zu vergewissern, dass man auf der richtigen Seite steht.
Aber genau das tut das Schauspiel Leipzig mit diesen zu schrillen Shows aufgeplusterten Aufführungen - und stellt damit vor allem eines unter Beweis: Dass das Theater so gut wie gar nichts zu den drängendsten Debatten im Hier und Jetzt beizutragen hat. Sowohl Brecht als auch Isherwood werden der Komplexität dieser real existierenden Gegenwart nicht mehr gerecht. Und diese beiden Inszenierungen unternehmen noch nicht einmal den Versuch, dem etwas hinzuzufügen. Im Gegenteil, die Texte wirken sogar banaler, als sie in Wirklichkeit sind. Es ist zum heulen!
Ich wünsche mir grade jetzt und grade zu diesen Themen mutiges, wahrhaftiges Theater, das sich verletzlich zeigt und sich nicht unter dicken Schichten von Zuckerguss und Geschmacksverstärkern versteckt. Es ist höchste Zeit, die Pralinenschachteln wegzuräumen und sich (wieder) an Orte vorzuwagen, wo es wehtut.
Das schließt auch mit ein, die eigene Rolle in diesen komplexen und womöglich verhängnisvollen gesellschaftlichen Verschiebungen, die wir grade erleben, zu hinterfragen!
Hab ich unrecht? Helft mir auf die Sprünge, wenn ihr es anders seht!
Auch in dieser Premiere im Schauspiel Leipzig ist es wieder ein Manko, dass die akustische Verständlichkeit für das Publikum an vielen Stellen zu schwach wegkommt. Merkt die Regie das denn nicht? - Besonders schade ist es bei einem Autor wie Brecht, der immer noch etwas zu sagen hat.