Ein Monster geht um

14. April 2024. Auf mehr als 600 Seiten hat der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew mit Wladimir Putin abgerechnet, ohne ihn beim Namen zu nennen. Für Freiburg dampfte er seine Parabel über Dikatorengewalt und die Verzweiflung eines Schriftstellers nun auf Stückgröße ein. Eike Weinreich inszeniert einen komplizierten Umtopfungsversuch.

Von Valeria Heintges

"Der große Gopnik" am Theater Freiburg © Laura Nickel

14. April 2024. Viktor Jerofejew ist einer d*er vielen russischen Autoren, denen ihr Heimatland das Leben schwer macht. "Zensur, Schreibverbot, Verbannung, Gefängnis, Arbeitslager, Ausweisung, Ermordung, Verzweiflung bis hin zum Suizid (...) – Russlands Umgang mit seinen Schriftstellern ist (...) einzigartig", schreibt die Slawistin Elisabeth Cheauré im Programmheft zur Uraufführung von "Der große Gopnik" am Theater Freiburg. Einzig der Satz "Manuskripte brennen nicht" verbreitet in dem Essay ein wenig Mut. 

Mit Schaum vor dem Mund

Auch Viktor Jerofejew, 1947 geboren, schrieb seine bekanntesten Werke "Leben mit einem Idioten" oder "Die Moskauer Schönheit" für die Schublade, denn zwischen 1979 und 1988 war er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und durfte nicht veröffentlichen. Kaum hatte Russland die Ukraine angegriffen, floh er 2022 nach Berlin.

In "Der große Gopnik" schreibt er eine sehr persönliche Abrechnung mit Russlands Herrschern. Putin fungiert nur als der "Grosse Gopnik", was so viel heißt wie Hinterhofrabauke oder Rowdy. Sein Widerpart ist der "Autor", der mit seinem Erfinder einige biografische Details teilt. Jerofejew selbst hat sein über 600 Seiten starkes Werk im Auftrag des Theaters Freiburg zu einem Drama verdichtet.

Das Buch ist überbordend, redundant, faktenreich, wirkt aber zuweilen fast wie ein Sachbuch, freilich eines, das mit ordentlich Schaum vor dem Mund geschrieben wurde. Es trägt zudem sehr groteske und satirische Züge. Doch illustriert und beschreibt der Stoff mehr als dass er zu dramatischen Konflikten verdichtet – kein guter Ausgangspunkt für ein Drama. Eike Weinreich, der bereits mehrfach in Freiburg als Regisseur arbeitete, versucht mit starken Bildern gegenzusteuern, baut Szene um Szene, unternimmt dabei aber kaum den Versuch, die zuweilen doch sehr papiernen Sätze aufzubrechen, satirisch zu überhöhen oder in eine andere Art von spannender Handlung zu stellen. Vielmehr lässt er die Figuren mehrfach zu Fotos erstarren und aus der Erstarrung heraus ihre Texte sprechen – das nimmt noch mehr Tempo aus dem Geschehen.

Pornoland gegen Putin

Bettina Meyer hat ins Große Haus dafür eine an sich funktionale Bühne gebaut, die aber mit der Zeit zu einem zusätzlichen Korsett gerät, weil ihre Räume starr vorgegeben sind und sich die Drehbühne immer nur stur in eine Richtung dreht. In der Mitte überragt ein riesiger steinerner Statuen-Unterkörper das Geschehen, der mit derben Stiefeln und weiten Arbeiterhosen an Stalin-Denkmäler denken lässt. Davor erstreckt sich eine breite Treppe, von der Rückseite her offenbart die Seitenwand ihre Holzkonstruktion.

Ungewisse Aussichten: Janna Horstmann, Angela Falkenhan © Laura Nickel

Dazwischen liegen die Privatwohnung des Schriftstellers und das Gopnik-Büro. Große, bunte Videos wandern zuweilen über die Wände, sie sind aber im dunklen Bühnenhimmel nicht zu sehen und oft so schnell geschnitten, dass ausser einer apokalyptischen Szene, Big-brother-is-watching-you-Augen und Flammen in infernalischen Szenen nicht viel erkennbar ist.

In diesem Setting entfaltet sich nun, fast chronologisch, der Aufstieg des Gopnik zum Diktator und Kriegsheld und das Leben des Schriftstellers, der zunehmend enttäuscht ist von diesem Präsidenten, der sich als brutaler, nationalistischer Diktator entpuppt. Als einzigen Befreiungssprung hat sich Jerofejew die Figur der "O." ausgedacht, die Schwester des Schriftstellers. Sie ist wütender und mutiger als ihr Bruder und will dem Monstrum Gopnik mit der Performance "Pornoland" zu Leibe rücken. Denn auch Porno sei, so ihre These, in Russland gewaltvoller als sonstwo auf der Welt.

Großväterchen Stalin

Janna Horstmann nutzt die Freiheiten und die pralle Lebensfülle ihrer Figur und ragt aus dem Bühnengeschehen wohltuend heraus. Sie wird auch von Bianca Deigner in immer wildere Kostüme gesteckt; darf gegen Ende als Performerin, mit einem Kussmund als Kopfschmuck und riesiger Vulva auf dem Rock, von der Stalin-Statue aus den Gopnik beschimpfen.

Die anderen Darsteller sind in der strengen Form gefangen, nicht einmal Thieß Brammer als Autor gelingt es, seiner Figur Kontur und Lebensnähe zu geben. Martin Hohner als Gopnik bemüht sich sehr, nicht zu putinesk zu wirken – ein diffiziles Unterfangen, weiß doch jede Zuschauer:in, wen er darstellen soll. Aus dem Ensemble ragt Holger Kunkel heraus, der seinen Stalin eher großväterlich als brutal anlegt.

Immer wieder landet Jerofejew in einer beinahe tagesaktuellen Wirklichkeit; dafür hat er auch die komische, aber letztlich völlig harmlose Figur des "Gutmütigen Deutschen" (Antonis Antoniades) in sein Werk geschrieben. Mit ihm fällt allerdings erst recht auf, wie sehr Jerofejews Buch einer "Männer machen Geschichte"-Philosophie folgt. In das Mysterium, warum dieser menschenverachtende Diktator beim russischen Volk trotz allem immer noch Anerkennung geniesst, vermag dieser Abend nicht einmal eine taschenlampengrosse Erhellung zu bringen.

Der große Gopnik (UA)
von Viktor Jerofejew, aus dem Russischen von Beate Rausch
Regie: Eike Weinreich, Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Bianca Deigner, Licht: Stefan Maria Schmidt, Video-Design: Alexej Hermann, Komposition, Sound-Design: Nikolas Kuhl, Dramaturgie: Laura Ellersdorfer.
Mit: Martin Hohner, Thieß Brammer, Janna Horstmann, Holger Kunkel, Raban Bieling, Antonis Antoniadis, Angela Falkenhan, Martin Müller-Reisinger, Laura Palacios, Statisterie des Theater Freiburg.
Premiere am 13. April 2024
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

Theater.freiburg.de

Kritikenrundschau

Regisseur Eike Weinreich habe Jerofejews Stück "kongenial inszeniert" als "epische Horrorkomödie und Revue der Grenzüberschreitungen in den erogenen Zonen von Kultur und Macht", ist Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.4.2024) begeistert. Weinreich schildere "Politik auch als Markt käuflicher Erotik, auf dem erfolgsverwöhnte Liberale sich leicht überschätzen". Ein "Glücksfall" sei zudem Martin Hohner als Darsteller des großen Gopnik ebenso sowie die "fabelhafte Janna Horstmann". 

Es gehe an diesem Abend "um nicht mehr und nicht weniger als um eine Genealogie, des Schreckens und der Angst, vor allem aber der despotischen Machtstrukturen in Russland", zeigt sich Björn Hayer in der taz (15.4.2024) beeindruckt. Jerofejew weite in der Stückfassung des Romans "den Blick auf das System, in dem der Tyrann erst aufsteigen konnte, also auf die russische Gesellschaft". Die Inszenierung sei dennoch kein "Trauerspiel", sondern "Groteske": "Sie will verzerren, übertreiben und dadurch entlarven." Das sei im Ergebnis "fulminant", "bildstark" und "stringent", tatsächlich "ein Triumph".

Die Schauspieler stehen bedeutungsvoll herum und deklamieren in den leeren Raum hinein. Vom rabenschwarzen Galgenhumor der Vorlage sei nichts zu spüren. Die Regie flüchte lieber in opulente Arrangements, bemängelt Christian Gampert vom Deutschlandfunk (14.4.2024). Die Inszenierung gehe zwar politisch in die richtige Richtung, ästhetisch aber am Stück vorbei.

"Dynamik und Statik, auch Komik und Ironie bis hin zum Slapstick und Horror greifen in 'Der große Gopnik' ineinander. Das ist zumal zu Beginn überraschend bis irritierend, sorgt aber von Anfang an für einen packenden Theaterabend", schreibt Heidi Ossenberg von der Badischen Zeitung (15.4.2024). "Ein Fazit, eine abschließende Meinung zu dieser überaus farbigen, durchweg überzeugend gespielten, widersprüchliche Emotionen evozierenden Horrorkomödie zu formulieren, fällt schwer. Sicher scheint: Es lohnt eine Auseinandersetzung mit dem Gesehenen in jedem Fall."

Die Komik der Inszenierung kippe bisweilen auch in den Klamauk, bemerkt Georg Rudiger von den Badischen Neuesten Nachrichten (15.4.2024). "Die vielen, von der Regie verstärkten ironischen Brechungen verhindern, dass dieses russische Karussell, von dem Jerofejew spricht, richtig in Fahrt kommt. Und dass die Reibungsflächen Funken schlagen."

"Jerofejews Zugriff ist eine wilde Mischung aus Fantastik und Realismus", so Jakob Hayner in der Welt (15.4.2024). Doch rätselte man nach den fast drei Stunden mit Pause immer noch, was Putin und den Putinismus ausmache. Die Bildsprache der Regie von Eike Weinreich sei keine der subtilen Zwischentöne, auch die Video-Einspieler mit Putin-Dämonen zwischen brennenden Häusern sparten nicht an eindeutigen Deutungsangeboten für die Zuschauer.

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