Die andere Seite der Grenze

14. Januar 2024. Der Text "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten" der israelischen Dramatikerin Maya Arad Yasur wird gerade an vielen Theatern präsentiert. Auch Hans-Ulrich Becker greift ihn in Heilbronn auf – eingebaut in ein älteres Stück der Autorin, das bereits vieles vorwegnimmt.

Von Verena Großkreutz

"Gott wartet an der Haltestelle" am Theater Heilbronn © Candy Welz

14. Januar 2024. Dramatisch sich steigernde düstere Musik untermalt die Kamerafahrt durch Wüstenlandschaften. Plötzlich Stille! Qualm wabert von der Bühne in den Zuschauerraum, und allerlei Kleidungsstücke fallen vom Bühnenhimmel. Amal, eine junge Palästinenserin, hat sich gerade in einem gut besuchten Café in Haifa in die Luft gesprengt und 30 Menschen mit in den Tod gerissen. Es ist überraschend und wirkungsvoll abstrakt, wie dieses Attentat auf der Bühne des Heilbronner Theaters dargestellt wird, wo jetzt "Gott wartet an der Haltestelle" von Maya Arad Yasur Premiere hatte. 

Die israelische Autorin schrieb ihr Stück 2014 für das "TERRORisms"-Projekt der Union des Théâtres de l'Europe. Sie verarbeitet darin die Zeit der zweiten Intifada (2000 bis 2005), als in Israel mehrmals in der Woche Bomben in Bussen, Restaurants, Cafés explodierten. In "Gott wartet an der Haltestelle" geht es um den israelischen Alltag zwischen Terror-Angst und Überwachungsterror: wo das soziale Leben erstarrt, Mitmenschlichkeit auf der Strecke bleibt, sich das Verhalten von Staatsmacht und Besatzungsopfern immer stärker neurotisiert. Gewalt provoziert Gegengewalt, Opfer werden zu Tätern und umgekehrt. Ein endloser Teufelskreis.

Leben zwischen den Checkpoints

Dem Intro des Selbstmord-Attentats folgt dessen Rekonstruktion. Acht Schauspieler:innen tragen rückblickend die Ereignisse zusammen, die zur Tat führten, und schlüpfen in die unterschiedlichen Rollen. Sie durchleuchten das Leben der Selbstmordattentäterin und ihre Tragödie. Es geht um die Fragen, wer die Schuld trägt am Mordanschlag und wie die Tat hätte verhindert werden können. Viele der 29 kurzen Szenen spielen an einem Checkpoint, einem jener Kontrollpunkte, die als dichtes Netz Palästina durchziehen und den Verkehr zwischen palästinensischen Dörfern und Städten und die Verbindung zwischen Palästina und Israel regulieren sollen. Zum Schutz der israelischen Siedlungen, sagt der Staat.

Hier versucht Amal (Sarah Finkel) mehrmals verzweifelt, ohne den dringend benötigten Passierschein, der ihr verwehrt bleibt, ihren krebskranken, sterbenden Vater (Stefan Eichberg) über die Grenze in ein Krankenhaus in Haifa zu transportieren. Erst nach mehreren Anläufen lässt eine mitfühlende Grenz-Soldatin (Regina Speiseder) den Vater im Rollstuhl passieren. Aber der bestellte israelische Taxifahrer (Sven-Marcel Voss) will ihn nicht mitnehmen. Zu groß ist die Terror-Angst. Der Vater stirbt entkräftet und einsam vor Ort. Das Ereignis bringt in Amal das Fass zum Überlaufen, nachdem schon ihr Bruder (Arlen Konietz), Mitglied einer palästinensischen Terrorgruppe, auf seiner Verlobungsfeier vom israelischen Geheimdienst erschossen wurde. Indoktriniert durch Terroristen beschließt Amal, Rache zu üben.

10.01.24, Heilbronn: Probe für das Schauspiel »Gott wartet an der Haltestelle« von Maya Arad Yasur am Theater Heilbronn. Foto: Candy WelzWie von A nach B kommen? Betonwürfel auf der Bühne von Hans-Ulrich Becker © Candy Welz

Neun große Betonwürfel verteilen sich auf der Heilbronner Bühne, Grenzanlagen-Atmo verströmend. Auf der Leinwand im Hintergrund zeigt sich des Öfteren eine Betonwand mit Überwachungskamera. Gelegentlich wird Erzähltes bebildert: durch Krieg und Terror spielende Kinder oder Amals Anlegen der Sprengstoffweste. Das Geschehene arbeitet Maya Arad Yasur in Dialogen ab. Regisseur Hans-Ulrich Becker setzt dagegen auf viel Frontalspiel. Gelegentlich gibt's verfremdungseffektives Chorsprechen und -singen. So richtig nahe kommt man den Figuren dabei nicht.

Selbstvergewisserung in einer verzweifelten Situation

Mal wieder wurde die Programmplanung eines Theaters von der Realität eingeholt. Nach dem Hamas-Massaker des 7. Oktobers hatte Maya Arad Yasur Bedenken, das Stück in der ursprünglichen Gestalt spielen zu lassen. Selbst traumatisiert, hat sie in den Tagen nach dem Hamas-Angriff und noch vor Beginn der israelischen Bodenoffensive in Gaza eine Art Verhaltensanweisung verfasst. Zunächst wohl zwecks Selbstvergewisserung in einer verzweifelten Situation, stellte sie sich die Frage: "Wie bleibst du menschlich nach einem solchen Massaker?"

Die in kurzer Zeit niedergeschriebenen Reflexionen ließ sie dann als aktuellen Kommentar in die Heilbronner Inszenierung einfügen: "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten" – fünf Seiten Regelwerk (beginnend mit: "Schalte den Fernseher aus. Schließ alle Medien und alle sozialen Netzwerke, die darauf angelegt sind, deine Gefühle aus kapitalistischen Motiven anzustacheln"). Eine tricky Aufgabe für die Regie, solche Texte in den Spielfluss geschmeidig einzubauen. Kein Wunder, dass diese den Abend dann etwas in die Länge dehnen.

Litanei der Empathie

Das Stück verlangt in seiner schlaglichtartigen Szenenfolge ja sowieso schon nach Tempo, Klarheit, Präzision, scharfen Schnitten. Und Becker lässt alles schön breit ausspielen. Und dann noch die "17 Schritte": Eingeleitet durch einen immer gleichen Musiktrack springen die Schauspieler:innen dann 17mal jeweils auf einen der Betonwürfel. Bleiben dort liegend, hockend, kniend eingefroren, während eine:r von ihnen die jeweilige Regel rezitiert. Die immer wieder etwas pathetisch und litaneiartig aufs Gleiche hinausläuft: "Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter."

Das Stück hat Aktualisierungen aber eigentlich gar nicht nötig. Es funktioniert auch so. Weil es eine ganz klare Botschaft hat. Im Programmheft bringt's ein Daniel-Barenboim-Zitat auf den Punkt: "Das Leiden unschuldiger Menschen egal auf welcher Seite ist absolut unerträglich." Damals wie heute.

Gott wartet an der Haltestelle
(unter Verwendung von "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten")
von Maya Arad Yasur
Aus dem Hebräischen von Matthias Naumann
Regie & Bühne: Hans-Ulrich Becker, Kostüme: Kirsten Dephoff, Musik & Choreinstudierung: Viola Kramer, Licht: Harald Emrich, Video: Nikolai Stiefvater, Dramaturgie: Mirjam Meuser.
Mit: Sarah Finkel, Sabine Unger, Stefan Eichberg, Arlen Konietz, Regina Speiseder, Oliver Firit, Sven-Marcel Voss, Leonie Berner.
Premiere am 13. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause

www.theater-heilbronn.de

 

Kritikenrundschau

Die bruchstückhafte Szenencollage rolle in Rückblenden die Ereignisse rund um den Anschlag auf, wobei die politischen Umstände und Hintergründe nicht ausgeblendet würden, der Fokus aber auf den Einzelschicksalen liege, schreibt Ranjo Doering in der Heilbronner Stimme (15.1.2024). Neben der Bühne, die einer Grenzanlage nachempfunden ist, sorgten auch die Video-Einspieler und der Soundtrack mit dem wiederkehrenden Nachlade-Klicken einer Waffe für eine beklemmende Atmosphäre und machten "das Leben in Angst, die ständige Gefahr" greifbar. "Dieser Theaterabend ist ernüchternd", so Doering, "einen Ausweg aus der Gewaltspirale scheint es nicht zu geben".

"Hans-Ulrich Becker und sein achtköpfiges Ensemble loten die Vor- und Rückblenden des episch angelegten Stücks mit Feingefühl aus", schreibt Volker Oesterreich in der Deutschen Bühne (14.1.24). "Sie sind nicht auf Schockeffekte aus, sondern begeben sich auf die psychologische und familiäre Spurensuche.  

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