100 Gramm pro Tag

25. Juni 2023. Für ihr Stück über eine junge Frau, die wegen einer Essstörung in einer Klinik behandelt wird, hat Elisabeth Pape den Kleist-Förderpreis bekommen. In Augsburg hat nun Blanka Rádóczy eine musikalische Uraufführung der faktengesättigten Textfläche inszeniert.

Von Christian Muggenthaler

Thomas Prazak, Mirjana Milosavljević, Julius Kuhn, Ute Fiedler, Sarah Maria Grünig © Jan-Pieter Fuhr

25. Juni 2023. Ob Aquariumsfische wohl merken, dass sie eingeschlossen sind? Die Jugendlichen in "Extra Zero" jedenfalls wissen es, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Die Projektion eines Aquariums steht exakt in der Mitte des Bühnenbilds zur Uraufführung des Stücks von Elisabeth Pape am Staatstheater Augsburg, ist optischer Fluchtpunkt in einer Szenerie, aus der es für sie wie für die Fische kein Entkommen gibt. Denn die Jugendlichen, von denen die junge Autorin in ihrem Erstlingswerk erzählt, haben eine Ess-Störung, müssen unbedingt zunehmen, geregeltes Essen und geregeltes Leben lernen. Das Stück erzählt davon, wie es ihnen damit geht.

Klinikumsalltag und Krankheitsverläufe

Zur Pflicht-Kur sind sie eingeknastet in eine katholische Spezialklinik, leiden unter dem Zwang der Waage, müssen unbedingt ihre "Kurve" halten, wie es in dem Stück heißt, also immer hundertgrammweise zunehmen, sonst wird's ungemütlich. Ungemütlich in dieser ohnehin trostlosen Krankenhauswelt, die Regisseurin Blanka Rádóczy und Ausstatterin Andrea Simeon da auf die riesige Brechtbühne im Gaswerk gestellt haben. Diese Wände, Tische, Türen, Stühle in ihrer völlig unästhetischen, aseptischen, grauenhaft blanken und bloßen und geputzten Unpersönlichkeit: Hier kann man sich nicht wohlfühlen, soll es wohl auch nicht. Hier soll man zunehmen. Und sonst nichts. 

Extra Zero 1 Jan Pieter Fuhr uSarah Maria Grünig, Thomas Prazak, Mirjana Milosavljević, Julius Kuhn, Ute Fiedler © Jan-Pieter Fuhr

Auftritt "Die mit der Pringles-Dose", ein Mädchen, das an Ess-Brech-Sucht leidet. Sie berichtet über sich, übers Essen und übers Kotzen, über das gesellschaftliche Warum und das psychologische Wieso solcher Störungen. Ute Fiedler macht das mit starkem Ernst, berichtet und erzählt und berichtet, ergänzt vom Chor, der viele zusätzliche Informationen bereithält über Klinikumsalltag und Krankheitsverläufe; Sarah Maria Grünig, Mirjana Milosavljevic und Thomas Prazak zeigen dabei die zähe Verdrossenheit von Teenagern, ihre Not, ihr Alleinsein. Julius Kuhn ist als "Institution" zugleich Pfleger und Sprecher der Klinik, erstaunlich gut gelaunter empathieloser Knechter der Kinder, der manchmal in seinem gläsernen Kabuff sitzt wie Oberschwester Ratched in "Einer flog über das Kuckucksnest".

Riesige Verzweiflung

Und noch eine Ebene kommt hinzu: die des immensen Drucks aus den sozialen Netzwerken, die Jugendlichen ein kaputtes Bild davon geben, wie man sein soll und in Kombination mit innerfamiliären Derangiertheiten massive Schäden des Selbstbilds erzeugen.

Auf der Augsburger Bühne erhält diese Ebene ein zweites, oberes Stockwerk, wo "Strong & Beautiful" vom Bodyworking erzählt, vom richtigen Essen und körperlicher Perfektion. Florian Gerteis haut sich da richtig rein und bekommt eine bemerkenswert intensive Szene hin, in der er komplett zusammenbricht in seiner Welt der Perfektion: Da spürt und sieht man dann, wie es hätte gehen können, diese gnadenlose Selbstzerstörung im und am Menschen zu zeigen, diese riesige Verzweiflung, die hinter all dem Haltenwollen einer selbstgebastelten Körperoberfläche steckt.

Extra Zero 2 Jan Pieter Fuhr u Ute Fiedler, Julius Kuhn, Sarah Maria Grünig, Thomas Prazak, Mirjana Milosavljević © Jan-Pieter Fuhr

Doch in der Vielfalt des Texts – Gewinnerstück des Kleist-Förderpreises für junge Dramatikerinnen und Dramatiker –, der das Ergebnis einer gewaltigen Recherche über das Thema ist von Nahrungswissenschaft bis Psychologie, von Netzwelten bis Betrugstechniken, gehen die Figuren immer wieder abhanden. Sie verlieren in der Menge an Text ihre Individualität, sind Träger mehr von Inhalt als von Persönlichkeit. Es ist ein Epos voll gut durchkomponierter Information, eine Fläche an Text, die die Regisseurin immerhin so kontrolliert und kräftig auf die Bühne bekommt, dass es Inhalt und Protagonisten nur gut tun kann. Er wird zum Teil in Einspieler umgesetzt, gestrafft und mit Gesang und Klang strukturiert, bekommt klar akzentuierte Szenenwechsel und verschiedene Dynamiken.

Toxischer Cocktail

So nimmt man doch einiges mit von der Welt dieser Jugendlichen und der Leidenschaft, mit der sich die Autorin ins Thema hineingegraben hat. Man bekommt ein Gespür davon, wie der Dauerinformationsbeschuss durch das Internet diese Jugendlichen belastet. Der Druck der Eltern, ein gut funktionierendes Kind zu sein. Die Klinikumswelt mit ihren gnadenlosen Regeln. Aber vor allem dieses Grundgefühl, falsch zu sein, falsch im Körper. 

Extra Zero
von Elisabeth Pape
Uraufführung
Inszenierung und Bühne: Blanka Rádóczy, Bühne und Kostüme: Andrea Simeon, Musik: Patrick Schäfer, Dramaturgie: Sarah Mössner.
Mit: Sarah Maria Grünig, Mirjana Milosavljevic, Thomas Prazak, Ute Fiedler, Julius Kuhn, Florian Gerteis.
Premiere am 24. Juni 2023 am Staatstheater Augsburg
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

'Extra Zero' sei "ein starker Text über Essstörungen, Bulimie, Fitnesswahn, letztlich auch über Depression und sehr viele Nöte junger Menschen", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (25.6.23, €). Alles was die junge Autorin Elisabeth Pape "an Wissen, Geschichten und vielleicht auch selbst Erlebtem gesammelt hat, packt sie in diese Klink hinein, und das mit schwarzem Aberwitz, mit ziemlich viel Irrsinn, der viel Wahrheit in sich trägt", urteilt der Kritiker. Da sei es "ein großes Glück", dass Blanka Rádóczy hier Regie führe. Sie verfüge über "ein untrügliches Gefühl für Rhythmus, Timing und theatrale Vorgänge" und baue "getreu Papes Anleitung eine vielstimmige Fuge mit unterschiedlichen Mitteln".

Die Uraufführung zeige viel Ernst, aber auch dramaturgisch gut dosierten, schwarzen Humor, so Stefanie Schoene von der Augsburger Allgemeinen (26.6.2023). "Langsam legen sich die Gefühlslagen der Protagonisten auf die zuschauenden Beobachter, bis klar wird: Diese Krankheit endet nicht wie andere Süchte. Dazu ist das Essen zu sehr zum Statussymbol, zum fast schon religiösen Lifestyle geworden.“

Elisabeth Pape zeige die depressive Verlorenheit der Patientinnen in einer totalen Institution, so Christian Gampert vom Deutschlandfunk (25.6.2023). "Das Problem ist, dass sich zwischen den Figuren kein Drama abspielt, sondern dass hier nur Klinikalltag stattfindet. Der ist für die Insassen bedrückend, dramaturgisch aber nicht abendfüllend." Rein theatralisch finde hier nur Frontalunterricht statt. Der Kritiker hätte sich etwas mehr Fantasie und Witz gewünscht.

"Starker Tobak" sei der Abend, so Martin Thomas Pesl auf Deutschlandfunk Kultur (24.6.2023). Das Publikum nehme unweigerlich die Position der Patientinnen ein, die als Opfer einer Institution präsentiert würden. Blanka Rádóczys Regie gehe in Komplizenschaft mit dem Stück und statte die Masse an Text mit szenischem Fleisch aus. Mit Erfolg: Zwar sei der Text wenig dramatisch, doch der Kritiker konnte sich der Ausweglosigkeit der Figuren und dem Sog des unangenehmen Themas dennoch nicht entziehen.

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