Flucht aus dem Theater

16. Dezember 2023. Eine Prinzessin, die gegen die Norm verstößt. Ein Hofstaat, der sie loswerden will. Nein, keine Dramatisierung der Geschichte von Meghan und Harry. Miloš Lolić hat "Yvonne, Prinzessin von Burgund" von Witold Gombrowicz inszeniert. 

Von Thomas Rothschild

"Yvonne, Prinzessin von Burgund" von Witold Gombrowicz am Münchner Residenztheater © Birgit Hupfeld

16. Dezember 2023. Das Münchner Residenztheater hat das im Ausland wohl bekannteste polnische Theaterstück ursprünglich dem polnischen Regisseur Wiktor Bagiński anvertraut. Der allerdings erkrankte, und so hat der in Österreich lebende Serbe Miloš Lolić seine Aufgabe und die der polnischen Bühnenbildnerin Nicole Marianna Wytyczak übernommen.

"Yvonne, Prinzessin von Burgund" (auch "Yvonne, die Burgunderprinzessin") von Witold Gombrowicz, 1935 in einer Zeitschrift veröffentlicht, aber erst 1957 uraufgeführt und 1970 zuerst in Deutschland inszeniert, ist ohne Zweifel Weltliteratur. Die Dramen von Gombrowicz gelten, zusammen mit jenen seines Landsmanns Stanisław Ignacy Witkiewicz, genannt Witkacy, nicht ohne Grund als Vorläufer des absurden Theaters. In den vergangenen Spielzeiten gab es in Deutschland mit schöner Regelmäßigkeit eine bis maximal drei Inszenierungen der konkurrierenden Übersetzungen der "Yvonne" von Heinrich Kunstmann (1964, 1982 überarbeitet) und von Olaf Kühl (2008).

Im Gewand des Märchens

"Yvonne, Prinzessin von Burgund" kommt, wie Büchners "Leonce und Lena" oder wie der ein Jahr vor Gombrowiczs Klassiker entstandene "Nackte König" von Jevgenij Schwarz, im Gewand und mit dem Personal eines Märchens daher. Aber die Titelfigur, mit der sich der Prinz verlobt, ist nicht, wie es die Tradition verlangt, schön, sondern tatsächlich hässlich. Und sie ist nicht, wie man es im Drama erhofft, am Dialog beteiligt, sondern fast stumm. Sie redet nicht. Es wird, wie später über Godot, wenngleich in ihrer Anwesenheit, über sie geredet. 

Das Stück hat seit seiner Entstehung einiges Provokationspotential verloren. Beckett, Ionesco, Pinter oder, um in der Heimat von Gombrowicz zu verweilen, Mrożek und Różewicz haben uns an eine literarische Logik gewöhnt, die sich von der Erfahrungslogik unterscheidet. Und dass es hinter der Fassade von Königshäusern ganz und gar unaristokratisch zugeht, gehört zum täglichen Repertoire der Boulevardpresse und der einschlägigen Fernsehsendungen. Was juckt uns eine Yvonne, wo es eine Meghan gibt. Kein Grund also zur Aufregung, nicht einmal zu Verwunderung. 

Die stumme Prinzessin bei Hofe: Patrick Bimazubute, Naffie Janha, Valentino Dalle Mura © Birgit Hupfeld

Der Regisseur Miloš Lolić hat das Stück mit einem sichtbar diversen Ensemble besetzt. Auf verschieden hohen Podien, die ungeordnet wie in einem Kulissendepot die Spielfläche des schmucklosen Marstalls füllen und periodisch von Bühnennebel eingehüllt werden, spielen die Darsteller*innen, außer Yvonne, grotesk, mit Zitaten affektierter aristokratischer Körpersprache: Valentino Dalle Mura als ein ins Komische gewendeter Prinz Hamlet, Simon Zagermann als sein ein wenig trotteliger Vater, Hanna Scheibe als dessen zur Hysterie neigende Gattin, Felicia Chin-Malenski als die Hofdame Isa und Patrick Bimazubute als Zyrill, der Freund des Prinzen. Ein Höhepunkt ist jene Szene, in der die königliche Familie und der Hofstaat Yvonne vormachen, wie man sich zu verbeugen hat. Yvonne ist in München nicht unbeteiligt. Sie hört, im graugestreiften Ganzkörpertrikot, zu, reagiert, fast wie ein bedrängtes Tier, nimmt Blickkontakt mit dem Publikum auf.

Mordversuch in Zeitlupe

Man kann fast jedes "absurde" Drama als Parabel interpretieren, und man kommt damit wohl dem Bedürfnis großer Teile des Publikums nach Eindeutigkeit entgegen. Aber mit der Vernichtung der Mehrdeutigkeit, der Unbestimmtheit entsorgt man auch den Reiz einer Spielart des modernen Theaters. Ein hoher Preis. Zum Glück hat Miloš Lolić dieser Versuchung nicht nachgegeben.

Bei Gombrowicz wird Yvonne durch eine kollektive Intrige in den Tod getrieben, indem sie an einer Gräte erstickt. Die Hofgesellschaft hält ihre Häßlichkeit nicht aus. Dabei ist sie ja nicht faktisch, sondern für ihre Mitmenschen "hässlich". Mit anderen Worten: sie verstößt gegen eine willkürliche Norm. In München steht sie, nach dem Mordversuch in Zeitlupe und nachdem alle niederknien, auf und flüchtet aus dem Theater. Optimismus statt Pessimismus. Wunschdenken statt Realismus. Das ist, als erhöbe sich Desdemona von ihrem Bett und liefe davon. Der Unterschied besteht darin, dass die meisten Menschen "Othello" kennen, aber nur wenige das Werk von Gombrowicz gesehen oder gelesen haben.

Affektierte, aristokratische Körpersprache: Hanna Scheibe, Simon Zagermann, Patrick Bimazubute, Felicia Chin Malenski © Birgit Hupfeld

Die Chance, es kennenzulernen, wurde mit der Verkehrung des Schusses in sein Gegenteil am Residenztheater buchstäblich verspielt. Yvonne entflieht also nach dem Willen der Regie und/oder der Dramaturgie dem Grätentod. So oder so: die Hässlichkeit ist beseitigt, die Normalität wieder hergestellt. Absurd? Nicht wirklich. Wenn man sich so umsieht...

Im Programmfaltblatt verwendet die Dramaturgin viermal das Wort "beschreiben" bzw. "Beschreibung". Vielleicht liegt hierin das, allerdings verbreitete, Missverständnis. Drama beschreibt, im Gegensatz zur erzählenden Dichtung, nicht, sondern zeigt. Yvonne ist nicht, was eine Figur des Stücks, erst recht nicht, was der Autor über sie sagt. Sie ist, was man sieht und hört, also eine Außenseiterin, die sich der verbalen Mitteilung weitgehend verweigert.

Yvonne, Prinzessin von Burgund
von Witold Gombrowicz
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Regie und Raum: Miloš Lolić, Kostüme: Isabelle Edi, Mariama Sow, Musik: Ifi Ude, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Katrin Michaels. Mit: Naffie Janha, Simon Zagermann, Hanna Scheibe, Valentino Dalle Mura, Felicia Chin-Malenski, Patrick Bimazubute.
Premiere am 15. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Miloš Lolić inszeniere die Frau als stumme Projektionsfläche für die Wünsche und Vorstellungen einer Gesellschaft, die in ihren eigenen patriarchalen, gewalttätigen Strukturen gefangen ist, so Anna Steinbauer in der Süddeutschen Zeitung (18.12.2023). "Man könnte der Inszenierung vorwerfen, dass sie die Passivität der Frauenrolle nur reproduziert, deren Opferposition verstärkt und keinen feministischen Ausweg vorführt. Aber den gibt es vielleicht eben nicht in einer patriarchalen Struktur wie dieser." Steinbauer lobt zudem die Kurzweiligkeit und die Kostüme.

Lolić lasse nicht nur offen, wer Yvonne ist, beschreibt Anne Fritsch in der Abendzeitung (18.12.2023). "Er geht noch einen Schritt weiter, endet mit der Frage, ob es sie überhaupt gegeben hat. Oder ob sie nur so etwas war wie ein Über-Ich, das die anderen an ihre Verfehlungen erinnert. Das verschüttete Gewissen einer verlotterten Gesellschaft."  Naffie Janha kommuniziere vor allem durch Blicke. 

Insgesamt sei das "ein gelungener, handwerklich perfekter Abend auf bestem Staatstheater-Niveau", so Alexander Altmann im Münchner Merkur (18.12.2023). Nur eine Kleinigkeit fehle: "ein dysfunktionaler Störfaktor, ein Yvonne-Moment quasi, das wehtut, weil es zeigen würde, was diese Geschichte mit uns zu tun hat." Die Hofschranzen seien nämlich wir. "Yvonne hingegen steht für all das, was 'sich nicht gehört' oder mit heutigen Worten: einen Shitstorm auslöst. Aber natürlich ist die Kunst insgesamt inzwischen keine Querulantin mehr, sondern wieder ein brav angepasster Teil der 'Hofgesellschaft' mit ihrer Etikette."

 

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