Spielt die Rolle mich?

22. März 2024. Aus Wolfram von Eschenbachs Versepos "Parzival" vom reinen Toren, der nach etlichen Verwicklungen zum Gralsritter wird, macht Kieran Joel in Nürnberg einen wilden Bühnenritt, bei dem alle Erzähl- und Wirklichkeitsebenen gegeneinander um Bedeutung, Einfluss und Darstellung kämpfen. Bis aufs Blut!

Von Christian Muggenthaler

"Parzival" am Staatstheater Nürnberg © Konrad Fersterer

22. März 2024. So geht die klassische Aventiure des Mittelalters: Wolfram von Eschenbachs Superritter Parzival wird nach allerlei Abenteuern, Spekulationen über Gott und die Welt und gut bewaffneten Heldenreisen zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit König vom Heiligen Gral, von dem man bis heute nicht weiß, was in Dreiteufelsnamen das eigentlich ist. Dieser vielschichtige Versroman aus dem 13. Jahrhundert mäandert abenteuerlich, sprunghaft und sich selbst nie so ganz ernst nehmend durchs Mittelalter. Keine schlechte Vorlage, um mit ihr, wie jetzt am Staatstheater Nürnberg, dem Publikum seine eigene Aventiure zu verpassen und ihm einfach mal mitsamt flugs kollabierenden Grundregeln des Erzählens den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Alle Erzähl- und Wirklichkeitsebenen kämpfen gegeneinander

Denn Regisseur Kieran Joel und Dramaturg Fabian Schmidtlein haben auf der Basis von Dieter Kühns neuhochdeutscher Prosaübertragung der 25.000 mittelalterlichen Verse einen Text gebaut, der systemsprengende Fragen stellt. Was passiert eigentlich, wenn die Grundregel "Ein Held ist Mittelpunkt einer Erzählung, die mit Bestandteilen der Realität arbeitet" auf offener Bühne zusammenbricht und stattdessen alle Erzähl- und Wirklichkeitsebenen gegeneinander bis aufs Blut um Bedeutung, Einfluss und Darstellung kämpfen? Wenn Behauptungen mehr Glaubwürdigkeit beanspruchen als die sich ihnen entgegenstellende Realität, das subjektiv Erfundene und Empfundene mehr Macht bekommt als das objektiv vorgefundene und niemand mehr weiß, ob er eine Rolle oder die Rolle ihn spielt, ist der Teufel los.

Parzival Konrad Fersterer 0071Endlose Schwertkämpfe: Thomas Nunner, Luca Rosendahl © Konrad Fersterer

In diesem schönstens angerührten Schwurbel purzelt der "Parzival" durch alle möglichen Ebenen von Sein und Nicht-Sein. Verlass ist da ganz schnell auf nichts mehr. Erst gibt es öde und blöde Schwertkämpfe, bis Ritterheros Gahmuret nicht mehr mag und die Kampfgegner und -gegnerinnen darauf aufmerksam macht, dass sie im Gegensatz zu ihm nur Nebenrollen sind, worauf sie sehr bestürzt reagieren und fortan eine existenzielle Angst davor haben, ganz aus Handlung und Leben gestrichen zu werden. Gahmuret will seinen tumben Sohn Parzival davor schützen, seinerseits Ritter zu werden, was der aber natürlich trotzdem macht. Er wird in die Realität der Erzählung gezogen – oder eben in die Erzählung der Realität; man weiß es nicht genau. Dann tobt ein zweieinhalbstündiges Crescendo von aberwitzigen Szenen, ebenso herrlich wie anstrengend, weil sie sich permanent selbst hinterfragen, hopsnehmen und dementieren.

Werbe-Bildchen der heutigen Glückssuche

Aus all dem wird eine düstere bis kindische Vagheit angerührt, die von der Ausstattung (Bühne und Kostüme: Barbara Lenartz) bildstark unterstützt wird: durch rot angestrichene Baumleichen, ein knallrotes Plastik-Krokodil auf Rädern, ein Dixi-Klo als Garderobe; alles wunderbarer Kram bis hin zum Plastik-Kettenhemd, zur Ritter-Unterwäsche und zum Umstand, dass in der König-Artus-Welt allesamt eher doofe rote Haartracht haben.

Weiter im Zentrum steht eine mit Gerüst umgebene LED-Wand, auf der chaosunterstützende Videos von Leon Landsberg laufen. Vorne wird vom Gral gesungen, hinten bebildert ein Stakkato aus bekannten Werbe-Bildchen die Glückssuche, dazwischen ein überforderter Parzival, darüber ein lamentierender Anfortas. Dann wieder sieht man auf der Bühne gar nichts und auf dem Bildschirm verzweifelnde Schauspieler in der Kantine.

Zwischen Luigi Pirandello und Frank Castorf

Irgendwo zwischen Luigi Pirandello und Frank Castorf ist das alles angesiedelt oder zwischen Don Quijote und der aktuell in Stuttgart lärmenden Schauspielsatire Das Portal von Nis-Momme Stockmann. Zwischendurch bringt eine Erzählerstimme die Truppe aus "Nebenrolle 1-4" und Parzival so halbwegs auf Linie.

Parzival Konrad Fersterer 0289Tor? Held? Diktator? Nicolas Frederick Djuren als Parzival © Konrad Fersterer

Nicolas Frederick Djuren ackert und rackert sich durch diese hier tatsächlich vielschichtige Hauptrolle, so wie das ganze Ensemble: gut in Schuss. Djuren demonstriert in einem brachialen, ätzenden, blutrünstigen Schluss – er will da ums Verrecken aller anderen Gralskönig sein – die Quintessenz, worauf das alles hinausläuft: Wenn ein Individuum die Realität durch eine zu seinen Gunsten erfundene Geschichte ersetzen will, mündet das schnell in Mord und Totschlag. Eine gemeinsame Erzählung hält eine Gemeinschaft zusammen. Bricht die weg, bricht alles weg.

Parzival
nach Wolfram von Eschenbach
unter Verwendung der Übertragung von Dieter Kühn
Regie: Kieran Joel; Textfassung: Kieran Joel, Fabian Schmidtlein, Bühne und Kostüme: Barbara Lenartz, Video: Leon Landsberg, Musik: Antonio De Luca, Caroline Kox, Licht: Paul Grilj, Dramaturgie: Fabian Schmidtlein.
Mit: Nicolas Frederick Djuren, Thomas Nunner, Sasha Weis, Stephanie Leue, Matthias Luckey, Luca Rosendahl.
Premiere: 21. März 2024
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

Kritikenrundschau

Kieran Joel ziehe so viele Metaebenen in den Abend ein, "dass es selbst den Schauspielern kurzzeitig zu bunt wird", berichtet Florian Welle in der Süddeutschen Zeitung (23.3.24, €). Zudem halte er sich an das Marx'sche Diktum, wonach sich Geschichte immer zweimal ereigne, das erste Mal als Tragödie und das zweite als Farce. Dazu würden "alle Theatermittel aufgefahren, die man sich ausmalen kann“. Alles in allem habe der Regisseur "Parzival" ernst genommen als "Stoff über die Notwendigkeit, Fragen zu stellen“ – was für einen Theaterabend "nicht wenig“ sei.

Die Komik poltere an diesem Abend dermaßen unsubtil drauflos, dass es "oft so wirkt, als hätte der Regisseur ein bisschen zu viel Monty Python gesehen“, urteilt Wolf Ebersberger in den Nürnberger Nachrichten (23.3.24, €). Zwar lege der Abend "ein Thema an, für das das Theater ein idealer Ort ist“, so der Kritiker. Erlebt habe er allerdings "ein Stück, das letztlich doch nur aussieht wie Kindertheater“.

"Joel und Schmidtlein gelingen neben der Vergegenwärtigung wesentlicher Dimensionen von Wolframs Geisteskosmos eine mehr als passable Aphorismen-Suite zum Liebes- und Glücksbewusstsein", so Roland H. Dippel in der Deutschen Bühne (22.3.2024). "Das Sinn- und Handlungsgestrüpp des Stoffs bricht kurzweilig herein – schroff, zackig und mit Mut zum Paradox." Der Parzival des Schauspiels wende diese Sinnsuche und Aventüren-Kette in gewitzte Brutalität und ausnüchternde Komödiantik. "Ein tiefernster Theater-Spaß."

 

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