The Top Five Letters of Liaisons Dangereuses - HAU Berlin
Achtung, Atmosphäre!
12. Januar 2024. Showcase Beat Le Mot sind die Meister des entspannt Rätselhaften – was ihre neue Produktion zum Beispiel mit dem titelgebenden Briefroman von Laclos zu tun hat, erschließt sich erst ungefähr gegen Ende. Trotzdem gibt es einiges zu erleben, und eine schöne Einladung zum Verstecken spielen.
Von Christian Rakow
12. Januar 2024. Wer für den im Titel angesprochenen Briefroman von Laclos gekommen ist ("Liaisons Dangereuses", dt. Gefährliche Liebschaften) und wer vielleicht nicht weiß, dass ein Haus wie das HAU nicht unbedingt für lupenreines Literaturtheater steht, der dürfte sich an diesem Abend ein wenig die Augen reiben. Von den amourösen Intrigen aus dem Adelsstand kurz vor der Französischen Revolution fehlt jede Spur. Da muss man denn doch zur Bibliothek oder wahlweise eine der vielen Verfilmungen schauen oder natürlich Heiner Müllers Adaption "Quartett". Bei Showcase Beat Le Mot geht es um etwas anderes. Aber worum, das lässt sich gar nicht so leicht sagen.
Spezialisten für Ambient Theater
Unter den glorreichen Gießenern, die in den 1990ern aus dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft auszogen, um die Bühnenwelt mit Pop und Performance und Schabernack zu erobern, wirkten die Mannen von Showcase Beat Le Mot immer am rätselhaftesten, eigenbrödlerischsten, auf bezaubernde Weise versponnensten. Showcase-Abende kommen nicht vom begrifflichen Inhalt her. Sie erzählen sich in Atmosphären, in Raumbildern, in der ruhigen, sperrigen Körperlichkeit der Akteure, in Musik, auch in der liebevollen Kulinarik, also in den Verköstigungen, zu denen man hier regelmäßig eingeladen wird. Am besten folgt man den Darbietungen liegend auf einem Sitzkissen (wenn zur Hand). "Ambient Theater" wurde diese Kunst mal treffend genannt. Man muss sich ihrem Flow hingeben, sich von den Stimmungen umfangen lassen. Andernfalls sieht man bloß die Fragezeichen tanzen.
Ein Spiel der Enthüllungen und Verhüllungen haben Showcase Beat Le Mot dem Laclos-Roman in ihrer Etüde "The Top Five Letters of Liaisons Dangereuses" abgewonnen. Zentrales Mittel ist ein riesiges etwa 150 qm großes mehrfarbiges Tuch, das die ansonsten leere Bühne in Gänze bedeckt. Vier Akteure bringen das Tuch in Wallung, schicken Wellen hindurch, tauchen bald selbst hinein, prägen sich in den Stoff, entwerfen kleine Landschaftsbilder. Ein stummes Spiel der Formen. Peu à peu werden heimlich Utensilien und Instrumente unter das Tuch geschoben; Sounds wabern heran.
Imaginäre Schlossführung
Wohl eine halbe Stunde vergeht, bis Nikola Duric in Feinrippunterwäsche auftritt und uns mit knappen Worten eine imaginäre Schlossführung anbietet: Dort ist das Schloss mit Raucherzimmer, Ankleide, Ballsaal und so fort. Und dann werden wir Zuschauer eingeladen, unter das Tuch zu schlüpfen. Und natürlich ist jetzt die Frage: Soll die Rezension das Folgende verraten, soll sie spoilern und ausquatschen, was einem Teil des Publikums in der Kürze der gegebenen Zeit notwendig vorenthalten bleiben muss? Ich denke, ich nutze mal die Möglichkeiten des Internets und packe die Beschreibung hinter den Slider im nächsten Absatz. Und Sie, geneigte Leserin, können selbst entscheiden, ob Sie sich den Spaß rauben wollen und lesen, oder lieber heute Abend, wenn das Stück wieder am HAU läuft, zu den Bühnenentdeckern treten wollen (Aber bitte schnell vorn sein! Es kommen nur etwa zwei Dutzend Leute rein).
Achtung, Spoiler! Unterm Tuch. Der Höhepunkt des Abends.
Wer also eintritt unters Riesentuch, folgt kleinen blauen Leuchtpunkten, tastet sich vor und erreicht eine offene Disco-Fläche, drüben ein Mischpult mit Elektro-Musikern dahinter, hier Veit Sprenger an einer Trommel. Er instruiert kurz die Leute: "Sie können tanzen. Oder Sie können zur Bar gehen. Wie immer eigentlich. Und wenn Sie fertig sind, können noch andere rein."
Das ist das Arkanum dieses Theaters, das Zentrum der Teilhabe, der Ballsaal des Schlosses. Man swingt mit, mixt sich einen Cocktail oder füllt sich Sekt ein, und kommt gut drauf (Nur nicht der Kritiker! Der bleibt nüchtern. Nicht dass Sie auf falsche Gedanken kommen!). Dieses Theater ist eine Einladung, eine schöne Zeit zu verbringen. Ganz ohne Arg und handfeste Intrige, aber doch mit spielerischer Heimlichkeit.
Wieder draußen lüftet sich bald das Tuch und der Abend biegt ins Elektrokonzert ab. Veit Sprenger lässt die Säge singen oder entlockt dem Theremin an der Antenne hochfrequentes Fiepen. Und seine Kompagnons und Gastperformer*innen ergehen sich in eigentümlichen Choreographien, bevor sie sich zu einer abstrusen Polonaise formen: gebückt, mit dem Kopf am Po des Vordermanns. Eine waschechte Po-lonaise also.
Gemeinsam unterm Deckmantel der Illusion
An der Wand im Hintergrund läuft sogar noch etwas Romantext durch (vorwärts und rückwärts abgespult): "Besonders ärgert mich das beleidigende Vertrauen, das er mir schenkt." Ein wenig ist das mit Augenzwinkern projiziert, so scheint es. Ist nicht auch der Glaubensvorschuss ans Als-ob des Theaters, der Glaube an die Geltung der Fiktionen so ein "beleidigendes Vertrauen"? Sind wir im Bühnenspiel nicht alle gemeinsam in einer frechen und himmlischen Naivität vereint, unter dem Tuch, ach was, dem Deckmantel der falschen Behauptung? Ein Tuch ist ein Schloss ist ein Tuch. Wir alle, vereint im Willen zur Lüge: als Verführte der Kunst?
Diese Fragen, die vielleicht nichts mit dem Abend zu tun haben, oder vielleicht alles, flackern durchs Halbbewusste und verfliegen. Während die Ambient-Sounds durch den Raum strömen. So holten Showcase Beat Le Mot das intrigante Spiel der Täuschungen doch aufs Theater. Auf ihre ureigene Weise.
The Top Five Letters of Liaisons Dangereuses
von Showcase Beat Le Mot
Idee, Umsetzung: Showcase Beat Le Mot, mit: Melisa Su Taşkıran / Musik: Barbara Morgenstern, Mike Majkowski / Künstlerische Mitarbeit: Christopher Felix Hahn / Kostüm, Ausstattung: Knut Klaßen, Marc Aschenbrenner, Showcase Beat Le Mot / Bühne: Şenol Şentürk / Dia-Projektion: Tom Wölke / Choreografische Beratung: Jeremy Wade / Workshop: Antje Pfundtner / Lichtdesign, Technische Leitung: Bart Huybrechts / Grafik: Anne Kube / Produktionsleitung: Olaf Nachtwey.
Premiere am 11. Januar 2024 am HAU Berlin
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
Kritikenrundschau
"Erwartbarer Weise interessieren sich Showcase Beat Le Mot weniger für werktreu verhandelte Intrigen und Details aus dem Ränkespiel der Marquise de Merteuil und des Vicomte de Valmont," schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (13.1.2024). Sehr interessiert sich das Kollektiv seinem Eindruck zufolge jedoch "für den Background der aufziehenden französischen Revolution und die Frage, wie die menschlichen Beziehungen beschaffen sein müssen." Der "Teppich an Deutungsofferten" der in diesem Kontext ausgerollt werde, sei "sehr bildmächtig" und – wie fast immer bei diesem Kollektiv – "auch sehr vergnüglich." Auch diesmal breche die Gruppe "mit vollen Segeln ins Ungewisse auf, also dorthin, wo es spannend wird".
Von einer Orgie mit Ballonseide spricht Sophie Klieeisen in der Berliner Morgenpost (13.1.2024). Alles sei "offensichtlich und subtil zugleich an diesem Abend", dem sie zwar einiges an visuellem Spektakelpotenzial zugesteht, der in der Summe für sie jedoch etwas indifferent bleibt. "Es ist wie zu Anfang der Nullerjahre in Berlin, als alles noch offen, aber schon verlässlich war. Die Zähne, die damals reißen konnten, sind heute stumpfer. Doch noch singt das Theremin."
"Klar, wer Showcase Beat Le Mot kennt, wird keine werktreue Geschichte um Intrigen, Lust und Rache erwartet haben, doch von Revolution, von der in der Ankündigung des Abends die Rede war, ist ebenfalls nichts zu spüren", sagt Barbara Behrendt in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (12.1.2024). Die "lässigen postdramatischen Zauberkünstler von Showcase Beat Le Mot" seien "für die Lust am sinnlichen Kinderspiel bekannt." – "Einlassen und Entspannen sind hier die Zauberformeln"; "weiterführende philosophische Fragen zu Lüge und Wahrheit, drinnen und draußen, alter und neuer Welt bleiben an diesem kurzen Abend allerdings aus".
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