Auch die Mehrheit irrt

14. April 2023. Gut Glück, wenn es nur eine Minderheit ist, die Fakten leugnet. Ibsens Dr. Stockmann muss jedoch gegen eine Mehrheit argumentierten, erfolglos, auch wenn alle Fakten für eine Umweltverschmutzung sprechen. Mit Blick auf Minder- und Mehrheiten hat Christoph Roos passend zur Zeit Henrik Ibsens Drama als "Eine Volksfeindin" adaptiert.

Von Martin Krumbholz

Henrik Ibsens "Eine Volksfeindin" von Christoph Roos inszeniert am Theater Krefeld-Mönchengladach © Theater Krefeld-Mönchengladbach

14. April 2023. Im vierten Akt, der entscheidenden Bürgerversammlung, erfährt der Badearzt beziehungsweise die Badeärztin Stockmann einen erstaunlichen Triebdurchbruch. Es geht ja um die Zukunft der Stadt und des bakteriell verseuchten Thermalbads, Stockmann hat die Versammlung einberufen, weil die opportunistische Presse seine/ihre Aufklärungsarbeit unterdrückt. Ohne jede Selbstkontrolle geht Stockmann nun zum Gegenangriff über, attackiert maßlos die "kompakte Majorität" und ihren Anführer (Stockmanns Bruder Peter), die am besten "auszurotten" seien wie "Ungeziefer". "Faschismus", ruft jemand im Saal, und das nicht zu Unrecht.

Der schlaue Fuchs Ibsen weiß natürlich genau, was er in dem Stück tut. In einem im Programmheft abgdruckten Original-Interview belehrt er den Befragenden, der sicher zu sein meint, wem die Sympathien des Autors dieses Tendenzstücks gehören: "Ja? Glauben Sie das zu wissen? Vielleicht irren Sie!" Die Tücke liegt in der Ambivalenz und in dem, was viel später "Dialektik der Aufklärung" genannt wurde. Stockmann hat sachlich und fachlich recht und menschlich und strategisch unrecht; einem Michael Kohlhaas nicht unähnlich, verirrt er (oder sie) sich komplett und manövriert sich in die Isolation.

Menschlich richtig

Im Theater Mönchengladbach, wo Schauspieldirektor Christoph Roos sich der Schaubühnenfassung von Florian Borchmeyer bedient, spielt diese Szene interaktiv im ganzen Saal. Helena Gossmann als Dr. Katharina Stockmann steht allein auf der leeren Bühne, alle anderen sind im Zuschauerraum. Aha, denkt man vielleicht, eine sympathische junge Frau spielt hier den Badearzt, was will uns das sagen? Alles wird noch ein bisschen komplizierter. Zunächst einmal bringt der feministische Move ein Mansplaining-Motiv hinzu. Übergriffig betritt Bürgermeister Peter Stockmann (Paul Steinbach) die Bühne, schnappt sich das Mikrofon und will die Veranstaltung unter seine Kontrolle bringen.

Volksfeindin2 TheaterMGEine, die auf den Tisch steigt und der es vor der Mehrheit graut: Helena Grossmann als Badeärztin Dr. Stockmann in Christoph Roos' Inszenierung © Theater Krefeld-Mönchengladbach

So steht es auch im Stück. Nur dass es dort der Kampf zweier Alphatiere ist. Roos zieht alle Register, nachdem die Inszenierung bis zur Pause eher ein wenig hausbacken dahinplätscherte. In einem furchterregend orangefarbenen Kachelbühnenbild von Carola Reuther breitet sich eine gediegene breitflächige Wohnküchen-Atmosphäre aus, Stockmanns Gatte Thomas (David Kösters) mimt den Hausmann und schaukelt das Baby, die stets großzügig bewirtete Journaille lässt es sich gut gehen, und Bruder bzw. Schwager Peter, ein kräftiger Typ, schaut ebenfalls gerne vorbei und versucht, siehe oben, die Dinge in seinem Sinn zu regeln.

Wutreden-Adaption

Und dann, nach der Pause, spielt also das Publikum mit. Ein Mikrofon wird herumgereicht, ein paar Leute dürfen etwas sagen (die Premiere dauert 20 Minuten länger als vorher angegeben). So etwas ist immer prekär, man weiß ja nie so genau, was alles verlautbart wird. Die "kompakte Majorität", auch liberale Mehrheit genannt, vor der es Stockmann so graut, sitzt auch hier im Theatersaal. Wie ist das überhaupt mit der Mehrheit, hat sie immer recht? Macht das im Grunde die Demokratie aus, dass die Mehrheit recht hat?

Einen Zuschauer erinnert das Sujet des Stücks an die Pandemie. Auch dort lief es ja so, dass einige nicht "glauben" wollten, was wissenschaftlich längst erhärtet war. (Der Glaube gehört in die Kirche, meint der besagte Zuschauer.) Alternative Fakten machten die Runde. Allerdings war es bei Corona (zum Glück) eine Minderheit, die die Tatsachen leugnete. Bei Ibsen und auch hier in Mönchengladbach ist der Querdenker bzw. die Querdenkerin, wenn auch in einem ganz anderen Sinn, die Badeärztin.

Mehrheitstaugliche Sympathie

Und dieser andere Querdenker hat denn doch Ibsens Sympathie. Im eingangs zitierten Interview bemerkt der Autor kokett, er sei wohl seiner Zeit ein wenig voraus; heute sei die "Mehrheit" ungefähr auf dem Stand, auf dem er, ungefähr, vor zehn Jahren war.

Wie sein Protagonist glaubt Ibsen offensichtlich nicht an die Vernunft der "kompakten Majorität". Der "Volksfeind" ist nicht nur ein Stück über Corona, sondern auch zum Beispiel über den Trumpismus. Und auch bei Ibsen ist das Ende offen. (Die avisierte Auswanderung nach Amerika hatte 1882 eine andere Dimension.) Die Volksfeindin Helena Gossmann jedenfalls spielt ihre Rolle tadellos, mit Emphase und sympathisch, und das Sympathische ist hier eben doch auch eine Ansage.

Eine Volksfeindin
nach Henrik Ibsen. In einer Bearbeitung von Christoph Roos unter Verwendung der Fassung für die Berliner Schaubühne von Florian Borchmeyer
Regie: Christoph Roos, Bühne und Kostüme: Carola Reuther, Musik: Markus Maria Jansen, Video: Peter Issig, Dramaturgie: Thomas Blockhaus.
Mit: Helena Gossmann, David Kösters, Paul Steinbach, Nicolas Schwarzbürger, Eva Spott, Christoph Hohmann, Michael Grosse.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.theater-kr-mg.de

Kritikenrundschau

"Das Theaterensemble entfaltet authentisch und aufwühlend das Spiel um Macht und Wahrheit, um Meinung und Recht, wie es sich Angela Wilms-Adrians in der Rheinischen Post (15.4.2024). Genial sei die Umkehrung der Zuschauerreien nach der Pause. Das ganze sei "eine beeindruckende Gesamtleistung".

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