Roadtrip der Wahlverwandten

19. Januar 2024. SCHWESTER und BRUDER fahren zusammen nach Kroatien, um einen verlorenen Vater ausfindig zu machen. Doch das ist nur eins von vielen Themen der Uraufführung von Sokola//Spreter. Pablo Lawall hat sie inszeniert und die Reisenden mit Superheldenkostümen und einer mysteriösen Begleiterin versehen.

Von Max Florian Kühlem

"Split" von von Sokola//Spreter am Theater Münster © Birgit Hupfeld

19. Januar 2024. "Dir würde ich den Kopf zum Kotzen halten. Mit dir würde ich die Zeche prellen. Den HIV-Test machen wir solidarisch zu zweit." Nach diesen Sätzen versteht das Publikum im Studio, der kleinsten Bühne des Theaters Münster, dass es nun mit zwei Menschen auf die Reise geht, die sich sehr mögen. Sie heißen BRUDER und SCHWESTER, sind das aber nicht verwandtschaftlich, sondern wahlverwandtschaftlich. Denn eins der Themen, zwischen denen sich die Uraufführung "Split" ein bisschen verliert, obwohl sie nur eine gute Stunde dauert, läutet die Frage ein: "Was ist, wenn man sich Familie aussuchen kann?"

Autos zu Schrott fahren!

Auch das Autorenduo aus Ivana Sokola und Jona Spreter, die in der vergangenen Saison Hausautor*innen am Theater Münster waren, mag sich sehr, wie es im Programmheft verrät: "Wir sind auch sehr enge Freund*innen. Unser Verhältnis hat sich über das Schreiben von vier Stücken entwickelt", erklärt Sokola. Wenn ihr neues Stück in den ersten Minuten das Thema der Wahlverwandtschaften entfaltet, hat das Tempo, Witz und Drive. Man freut sich auf den Roadtrip, den die beiden unternehmen wollen, und hat vielleicht ein bisschen "Tschick"-Erwartungen, denn BRUDER gerät in eine Vorfreude-Schleife: "Wir könnten das Auto eines Bekannten stehlen, dann zu Schrott fahren, dann ein neues stehlen, dann zu Schrott fahren, dann…"

Doch sobald die beiden im Auto sitzen, wird klar, dass sie nicht einfach aus Sommerferien-Langeweile auf die Fahrt gehen. Es gibt einen tief sitzenden Grund in SCHWESTERS Biographie, der sich in Sprache und Bühnenbild immer breiter macht (unter anderem als Stein mit Hut): Ihr Vater, der als Arbeitsmigrant nach Deutschland kam, ist zurück ins Titel gebende Split in Kroatien gegangen. Sie, die ihm schon viele Briefe geschrieben hat, will sie ihm nun persönlich vorbeibringen und eine Lücke schließen – im Kopf, im Herzen, in ihrer Biographie. 

Superhelden auf der Flucht

Paradoxerweise fehlt es der Inszenierung von Pablo Lawall, der ebenfalls ein guter Freund des schreibenden Duos ist, an Drive, wenn die Protagonist*innen ins Auto steigen. Dann entfernen sie sich nämlich vom Publikum und erscheinen über lange Strecken (sie fahren wohl Landstraße) nur noch auf einen weißen, halbdurchsichtigen Vorhang projiziert. Es wirkt wie Fingerübungen des Regisseurs, wenn die beiden mal in Gangster-Manier auf der Flucht zu sein scheinen wie Bonny und Clyde oder Thelma und Louise, mal von Musik untermalt Melodram-Dialoge durchspielen und dann wieder hinter der Leinwand hervor stürmen mit Superhelden-Umhängen. 

Split3 1200 Birgit Hupfeld uRose Lohmann und Alaaeldin Dyab als SCHWESTER und BRUDER © Birgit Hupfeld

Neben Alaaeldin Dyab und Rose Lohmann, die als BRUDER und SCHWESTER auf eine emotionale Achterbahn-Fahrt gehen und diese gleichzeitig immer wieder ironisch brechen, spielt noch eine dritte Person: Carola von Seckendorff gibt eine etwas rätselhafte Frau, die im Klischee-Hexenkostüm auftritt, aber auch als Radio-Moderatorin oder Stellvertreterin der Autor*innen die Fäden zieht – oder den Protagonist*innen mit Migrationshintergrund möglicherweise als Metapher für die Mehrheitsgesellschaft, die ihnen ihre Plätze zuweist, im Nacken sitzt. 

Wille zur Kunst(sprache)

Viele Themen also für einen Theaterabend, der bloß eine gute Stunde dauert. Trotzdem kommen aber Längen auf, weil Stück oder Inszenierung irgendwann den Fokus verlieren. Ging es nicht mal um den verlorenen Vater? Die Beziehung zu ihm wird zwischendurch eher assoziativ behandelt und dabei schwächelt diese Uraufführung auch noch, woran viele aktuelle Uraufführungen schwächeln: am Willen zur bedeutungs- und beziehungsreichen Kunstsprache. Da wird der Vater (oder ist etwas ganz anderes gemeint?) zum "Loch in der Zeit, das ausfranst", an dem "die Maus nagt mit schwarzen Zähnen".

Immerhin rückt die Vater-Suche im letzten Viertel von "Split" wieder klar in den Vordergrund, das Stück bekommt einen Fokus. Rose Lohmanns SCHWESTER präsentiert einen wütenden vierten Brief, den sie ihrem verschwundenen Vater geschrieben hat, und schreit sich Ärger, Wut und Trauer von der Seele, schafft es, sich vom Gedanken zu lösen, ihn für ihr Leben zu brauchen – um die Lücke in ihrer Vergangenheit zu schließen oder sich eine behütete Zukunft auszumalen. Die behütete Zukunft gibt es ja sowieso nicht für Menschen mit ihrer Biographie, zerrissen zwischen zwei Heimaten, so suggeriert der Text. Aber immerhin hat sie einen sehr guten Freund, einen Bruder, einen Bro. Der bleibt an ihrer Seite. 

 

Split
von Sokola//Spreter
Regie: Pablo Lawall, Bühne und Kostüme: Lex Hymer, Dramaturgie: Tobias Kluge.
Mit: Alaaeldin Dyab, Rose Lohmann, Carola von Seckendorff.
Premiere am 18. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com

 

Kritikenrundschau

Aussagekräftige Bilder finde Pablo Lawall für sein theatrales Roadmovie, schreibt Helmut Jasny in den Westfälischen Nachrichten (20.1.2024). Lawall nehme Anleihen bei Hollywood-Filmen, wenn er einen eindrucksvollen Auffahrunfall inszeniere oder das Geschehen von einer hexenhaft hergerichteten Radiosprecherin kommentieren lasse. Carola von Seckendorff verkörpere jeder ihrer Rollen "überzeugend rätselhaft"; Alaaeldin Dyab und Rose Lohmann meisterte die leisen Töne genauso wie die lauten, so Jasny. "Eine gelungene Aufführung, die den realistischen Ansatz mit Ausflügen ins Fantastische erweitert."

 

 

 

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