Das Schweigen im Niederwalde

17. Dezember 2023. Wolfram Höll, zweifacher Gewinner des Mülheimer Dramatikpreises, hat eine neue Sprachpartitur verfasst. Der Unfalltod einer jungen Frau führt die Hinterbliebenen in ein verschwiegenes Bergdorf, das in Elsa-Sophie Jachs Uraufführungsregie bemerkenswert zum Klingen kommt. 

Von Karolin Berg 

Wolfram Hölls "Niederwald" in der Regie von Elsa-Sophie Jach am Schauspiel Leipzig © Rolf Arnold

17. Dezember 2023. Die Tochter berichtet von dem sich überschlagenden Auto ihrer Mutter. Ihre Urgroßoma erzählt von der Hochzeit, die zu einer Beerdigung wird. Der Vater – die Schultern schlaff, der Blick starr. Traumatisiert, als sehe er einen furchtbaren Film vor seinen Augen ablaufen. Seine jetzt nicht mehr zukünftige Frau Katharina ist tot – Autounfall. Zurück bleiben er, die gemeinsame kleine Tochter und deren Urgroßmutter.

Mit dieser Konstellation beginnt Wolfram Hölls "Niederwald", das Elsa-Sophie Jach nun in der Diskothek des Schauspiel Leipzig uraufgeführt hat. Vor zwei Jahren inszenierte die Regisseurin bereits die Uraufführung von Hölls "Nebraska" am Theater Oberhausen. Nun realisiert Jach, die seit letztem Jahr Hausregisseurin am Residenztheater München ist, mit viel Musikalität und Gespür für Rhythmus Hölls neuestes Stück.

Im abgeschiedenen Nest der Eigentümlichkeiten

Das real existierende Niederwald ist ein Bergdorf in den Schweizer Alpen, im Kanton Wallis. Laut Wikipedia (Stand 31. Dezember 2016) 45 Einwohner:innen. In Hölls Stück flüchten der Vater und seine Tochter samt Urgroßoma in dieses abgeschiedene Nest. Hauen von der Beerdigung ab, raus aus der vertrauten Umgebung, Abstand gewinnen, dort, wo die Verstorbene ihre Heimat hatte. Hier treffen sie nicht nur auf die beiden Urgroßtanten, sondern auch auf allerlei Eigentümlichkeiten.

Niederwald 1 Rolf Arnold uSchaukeln vor Alpenkulisse: Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Markus Lerch, Paulina Bittner und Teresa Schergaut in "Niederwald" © Rolf Arnold 

Aleksandra Pavlovićs Bühnenbild verfremdet das Bergdorf durch ein Metallgestänge, an dem Schaukeln hängen, die das Zentrum der Bühne bilden. Drumherum: ein angeschrägter, kreisrunder Steg vor einer Alpenkulisse. In diesem unendlichen Kreislauf zeigt sich mit jedem Abreißen eines Gaze-Rund ein tieferer Blick ins Innere. Doch außer einer hell leuchtenden Lampe ist der Kern leer.

Sprachverlust droht, qua des Traumas um den Tod der Mutter und Frau und der nicht nur sprachlichen, sondern ebenso kulturellen Diskrepanzen zwischen den Neuankömmlingen und den Alteingesessenen. Da wirkt Teresa Schergauts Tochter als eine kindlich-geduldige Vermittlerin inmitten Kommunikationsunfähiger. Der Autor webt die Worte ineinander. Würde man eine einzelne Figur daraus lösen, fiele sie in sich zusammen. Sie kann nur erzählen, indem die anderen die Worte weitertragen.

Jede Figur eine Textspalte

Die Besonderheit setzt bei Hölls Notation des Stücks an. Der Autor, der bereits zwei Mal den Mülheimer Dramatikpreis gewann, schreibt die fünf Figuren nicht linksbündig untereinander, sondern ordnet sie alle auf jeder Seite an der Kopfzeile an. So ergibt sich ein Raster, in dem jede Figur jeweils eine Spalte hat. Das Lesen ist ein Ineinander-Überfließen der Satzfetzen. Die Regisseurin vertraut dem Text und bringt diese Partitur zum Schwingen, virtuos vom fünfköpfigen Ensemble gespielt, atmosphärisch untermalt vom Live-Musiker Dave Hirst.

Die Tochter schreit, der Vater weiß nicht, was tun, wie das Kind beruhigen. Sie schreit. Sie schreit. Er reißt zitternd eine Gaze herunter, ballt sie zusammen, hält sie in seinen Armen wie ein in Decken gewickeltes Baby. Am Ende der Szene steht der Vater völlig verzweifelt am Fluss, das Kind emporhaltend, um es dann doch neben den Fluss ins Gras zu legen.

Niederwald 3 Rolf Arnold uIm Dorf der Eigenbrötler: Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz und Dave Hirst auf Aleksandra Pavlovićs Bühne © Rolf Arnold

Die Worte zischen zwischen den Schauspieler:innen hin und her, wie ein nicht aufhören wollendes Echo, das in den Bergkämmen hängt und keinen Ausgang findet. Die Produktion blieb von krankheitsbedingten Ausfällen nicht verschont, umso eindrucksvoller ist diese Ensembleleistung. Hervorzuheben ist Markus Lerch, der als Vater eine Woche hatte, um sich diese Höll(en)-Partitur anzueignen – Chapeau. Das Ensemble transferiert die Metapher des bühnenbildlich dargestellten Lebens- oder Todeskreises, der zeitlichen Unendlichkeitsschleife, in sein Zusammenspiel. Sie sind eine Einheit, in sich geschlossen, ohne Brüche. Konträr dazu ringen inhaltlich die Figuren um Differenz und Eigenheit.

Wie die Mielke-Schwestern bei Loriot

Dieses Sich-Abgrenzen manifestiert sich in den Urgroßtanten Anna (Anne Cathrin Buhtz) und Alice (Paulina Bittner), die herrlich verschroben ins Schwyzerdütsch wechseln, wenn sich die "alte Alte" Neue zu sehr zu integrieren versucht. Mit ihren Frisuren und ihrer Mimik erinnern sie an die Mielke-Schwestern aus Loriots "Pappa ante portas". Genauso kauzig und skeptisch. Eigenbrötlerische Tanten, die der Urgroßmutter keinen Platz auf ihrer Bank einräumen wollen. Wir sind hier halt aufm Dorf. Doch die von Thomas Braungardt gespielte Urgroßoma ist ein harter Knochen. Die lässt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen und erkämpft sich ihren Platz in der Dorfgemeinschaft, respektive auf der Bank.

Am Ende ist nicht nur die letzte Gaze gefallen, die Bühne, das Schaukelgerippe steht kalt und blank da, es ist auch "des Käthis" Haus abgerutscht. Die Urgroßmutter bleibt dort und wird doch nie ganz dazugehören. Die Tochter soll, muss raus, raus aus Niederwald.

Niederwald
von Wolfram Höll
Uraufführung
Regie: Elsa-Sophie Jach, Bühne und Kostüme: Aleksandra Pavlović, Musik: Max Kühn, Dramaturgie: Georg Mellert, Licht: Mattheo Fehse, Videotechnik: Robert Gotthardt, Ton: Alexander Nemitz, Soufflage: Christiane Wittig
Mit: Teresa Schergaut, Isabel Tetzner (alternierend), Markus Lerch, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Paulina Bittner, Live-Musik: Dave Hirst.
Premiere am 16. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"Mit überraschendem Perspektivwechsel verankert sich „Niederwald“ im Diskurs um Migration und Integration. Nah dran und doch distanziert durch artifizielle Sprache und Kostümierung“, schreibt Dimo Rieß von der Leipziger Volkszeitung (18.12.2023). "So geschickt die Sprache komponiert sein mag, Schwächen entfaltet der 90-Minuten-Abend, wenn die Schauspieler zu lange im Text-Aufsagen festgehalten werden. Wie statisch solche Phasen geraten, zeigt der Wechsel zurück ins Spiel, wenn Emotionen plastisch werden, und in eine Interaktion, die feine Komik birgt."

"Es geht in dem verrätselten Text um Verständigung und Verlust, Verwahren und Verkennen, was Regisseurin Elsa-Sophie Jach in ebenso enigmatische Bilder für einen fesselnden Abend packt", schreibt Tobias Prüwer in der Deutschen Bühne (17.12.2023). "Der Text wirkt artifiziell, aber nicht zu sehr. Dosiert sind Verästelungen, Witz und Mundart, so dass man dieser absonderlichen Welt, die Höll eröffnet, fasziniert zuschaut. Das ermöglichen insbesondere die fünf Darstellenden, denen es gelingt, Kunstsprache und dialektale Zungenbrecher völlig ungekünstelt zu sprechen und den Rhythmus zu halten."

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