Die Inkommensurablen - Volkstheater Wien
Wie man Weltkriegskino bastelt
8. Dezember 2023. Am Volkstheater Wien wird endlich mal wieder Technik aufgefahren. Nils Voges und seine Medienkunst-Gruppe sputnic haben sich den k. und k.-Endzeitroman "Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer vorgenommen. Und versprechen Live Animation Cinema.
Von Martin Thomas Pesl
8. Dezember 2023. Erstmals seit der Eröffnungsproduktion "Der Raum" 2021 steht bei einer Inszenierung im Wiener Volkstheater wieder die Technik im Vordergrund. Als sich Kay Voges aus Dortmund kommend hier als neuer Chef vorstellte, galt er als König der Theater-Digitalität. Man wusste nicht so genau, was das heißt, und war dann regelrecht überrascht, dass eh Menschen auf der Bühne vorzufinden sind. Aber jetzt: Angekündigt wird eine Graphic Novel auf der Bühne – "Live Animation Cinema" von Voges, was, wie?
Zur Verkomplizierung trägt bei, dass der in die neue Form gegossene Stoff einem Roman entstammt, den wahrscheinlich die wenigsten im Publikum gelesen haben. "Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer erschien Anfang des Jahres und erhielt im Gegensatz zu ihren beiden Hits davor, "Dave" und "Das flüssige Land", eher gemischte Kritiken.
Stunden vor dem Ersten Weltkrieg
Zudem geht der Titel "Die Inkommensurablen" nicht gerade leicht über die Lippen: Er bedeutet "ohne gemeinsames Maß, nicht zusammen messbar" und bezieht sich auf das Doktoratsthema der Mathematikstudentin Klara Nemec (Anna Rieser), die just an dem Tag, als der Erste Weltkrieg ausbricht, ihr Rigorosum an der Universität Wien absolvieren möchte.
Klara lebt in einer Beziehung mit der Psychoanalytikerin Helene Cheresch (Gerti Drassl). Sie wiederum sucht der Tiroler Bauernknecht Hans Ranftler (Hardy Emilian Jürgens) auf, der meint, die Gedanken anderer Leute lesen zu können. Vor Helenes Praxis begegnet er Klara und ihrem Kameraden Adam Jesensky (Fabian Reichenbach), Adelsspross, Feldwebel und Therapiepatient, zudem einer von vielen, die regelmäßig denselben Traum träumen, in dem sie daran scheitern, sich einem "ungeheuerlichen Luster" zu nähern. Die drei jungen Leute stolpern durch die letzten Stunden vor Kriegsbeginn, in akademische Orchestersäle, Nachtlokale, sogar in die Kanalisation.
Dabei zieht sich für Hans die Frage durch: Einrücken oder nicht? Denn auch der Krieg, diese Botschaft drängt sich auf, ist nichts anderes als das Übertragen von Suggestionen zwischen Menschen – eine Massenpsychose. Und wie Helene an einer Stelle sagt: "Das Kollektiv denkt immer in Bildern." Also soll das alles jetzt auf der Bühne ein Film werden, noch dazu ein animierter? Tatsächlich ist die Textfassung wie ein Drehbuch formatiert.
An Tricktischen
Doch weitere Überraschungen stehen bevor: Zunächst führt hier gar nicht der Direktor Regie, sondern sein Bruder, der Grafikdesigner Nils Voges, der dem Künstlerkollektiv sputnic angehört. Des Weiteren kann von Digitalität gar keine Rede sein. Im Gegenteil: Die vier Spieler:innen stehen die meiste Zeit geschäftig an so genannten Tricktischen mit Animationsplatten, legen also transparente Folien mit von Karl Uhlenbrock liebevoll gezeichneten Comic-Bildern auf Overheadprojektoren. Die weißen Lamellenvorhänge, auf die projiziert wird, müssen sie händisch auf- und zuziehen.
Um die Münder der Figuren in Bewegung zu bringen, zupfen die vier eifrig an kleinen Griffen. So sprechen die Bilder, die verschiedenen Stimmen liefert das fleißige Ensemble dazu meist live. Das ist geradezu altmodisch analog, bisweilen comichaft witzig – wenn etwa in Adams Orchesterprobe ein rasanter Schlagabtausch ausbricht –, dann wieder sehr ernst, was sich auch visuell niederschlägt: Als beim Diner im väterlichen Haushalt die politischen Ansichten von Alt und Jung aufeinanderprallen, erinnern die Beteiligten nicht mehr an "Tim und Struppi", sondern an ein Ölgemälde.
Self-made Kinoerlebnis
Dass über weite Strecken die klobigen Tricktische und diejenigen, die sie bedienen, die Projektionsflächen verdecken, trübt (fürs Parkett zumindest) deutlich den intendierten Wow-Effekt. Das Kinoerlebnis ist kein glattes, stets liegt offen, wie umständlich und aufwändig es ist, es herzustellen. Von der ziemlich anspruchsvollen Geschichte lenkt das auch mal ab. Die Form hat aber auch einen unschätzbaren Vorzug: Was nicht über Dialoge vermittelt werden kann, zeigen die Bilder. Endlich eine Romanadaption, die ohne Frontalerzählpassagen auskommt!
Einen Meta-Kniff hat sich Voges gegenüber dem Buch erlaubt. Hans' Therapiesitzung, die eigentlich erst gegen Ende stattfindet, dient hier als Rahmenhandlung. Er "träumt" sozusagen für Helene das seit seiner Ankunft in Wien Geschehene nochmal nach. Dabei wird angedeutet, dass er das alles vielleicht gar nicht 1914, sondern von der Gegenwart aus imaginiert – oder erinnert, je nachdem. Sonst folgt die Live-Animation-Cinema-Graphic-Novel brav der Handlung des Romans – und erweist sich zu diesem also durchaus passend, pardon: kommensurabel.
Die Inkommensurablen
nach dem Roman von Raphaela Edelbauer
Bühnenfassung: sputnic/Nils Voges und Anne-Kathrin Schulz (Mitarbeit)
Regie: sputnic/Nils Voges, Bühne: Michael Wolke, Kostüm: Friederike Wörner, Illustration: Karl Uhlenbrock, Head of Animation: Michael Dölle, Komposition: Fiete Wachholtz, Video Art: Lisa Rodlauer, Lichtdesign: Ines Wessely, Dramaturgie: Alexander Kerlin.
Mit: Gerti Drassl, Hardy Emilian Jürgens, Fabian Reichenbach, Anna Rieser/Lisa Schützenberger und den Stimmen von Andreas Beck, Christoph Schüchner, Stefan Suske, Günther Wiederschwinger, Hasti Molavian und anderen.
Premiere am 7. Dezember 2023 im Volkstheater Wien
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.volkstheater.at
www.sputnic.tv
Kritikenrundschau
"Die Technik des weitgehend nach der Vorlage erzählten Theaterabends ist beeindruckend und hatte offensichtlich Priorität in der Herangehensweise. Dass Edelbauers Stoff künstlerisch noch viel mutigere und tiefer schürfendere Zugänge erlauben würde, statt die von Voges gewählte Bravheit, ist insofern bedauerlich, weil es dem Ensemble zu gönnen wäre, sich stärker darstellerisch in seine Rollen versetzen zu dürfen", schreibt Daniel Hadler von der Kleinen Zeitung (8.12.2023). "Weniger Overhead-Projektor und dafür mehr Energie auf einer Bühne, die sich sinnbildlich weitgehend als Projektionsfläche der Technik unterordnete, hätten womöglich auch mehr Wien-Atmosphäre erzeugt als die allerschönsten Projektionen."
"Die Schauspieler sind über weite Teile zu Synchronsprechern degradiert, was das Geschehen bis ins Zähe bremst", schreibt Almuth Spiegler in der Presse (9.12.2023). "Das mögliche Potenzial all dessen flackert allerdings auf, vor allem in Szenen des Deliriums, ob aufgrund von Schönberg-Musik oder von Heroin. Da funktioniert diese Effekt-Überfrachtung. Wie auch nicht."
"Edelbauers zeitlose, die Gegenwart mit dem Jahr 1914 in eins setzende Sprache und die den Episoden eignenden irrealen Anklänge in eine Comic-Realität zu übersetzen sind zwar ein vortrefflicher Ansatz. Allerdings hinkt die Umsetzung hinterher. Insbesondere griffen die synchronen Tätigkeiten der Schauspielenden als einerseits leibhaftige Figuren mit Comicfrisuren (Kostüm: Friederike Wörner), zugleich aber auch als Manager der Overheadprojektoren nicht in eins", schreibt Margarete Affenzeller vom Standard (8.12.2023). "In Einzelteilen kann die Inszenierung aber ihre Wirkung entfalten." Das animierte Erzählen eröffne eine ganz eigene grafische Ästhetik, "so als würde man in einem Comicbuch blättern“.
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