Wie wird aus Es ein Ich?

18. Januar 2024. In Bern startete die Karriere von Kim de L'Horizon. Jetzt bringt das Schweizer Hauptstadttheater L'Horizons Erfolgsroman "Blutbuch" auf die Bühne. In der Regie von Sebastian Schug. Als glanzvolles Solo.

Von Tobias Gerosa

Kim de L'Horizons "Blutbuch" in der Regie von Sebastian Schug in Bern © Yoshiko Kusano

18. Januar 2023. Sie sind schon ziemlich stolz auf Kim de l'Horizon an den Bühnen Bern. Hier hat man L'Horizon als unbekannten Namen 2020/21 aus einem Vorort als "Hausautor" angestellt und das erste Stück zur Uraufführung gebracht. Hier schrieb L'Horizon am Roman "Blutbuch", der 2022 sowohl den Schweizer wie den Deutschen Buchpreis erhielt. Folgerichtig, dass hier nun auch eine Bühnenversion des "Blutbuch" gespielt wird.

Solo für Lucia Kotikova

Und zwar auf der kleinsten der drei Bühnen: Vidmar 2, die kahle, kleine Industriehallenbühne. Nico Zielke hat sie nur mit einem nackten Podest ausgestattet, hinter dem eine weiße Leinwand hängt und drüber eine Neonkrone. An der Wand hängt noch der bunt durchmarkierte Text, und wenn die grandiose Lucia Kotikova zuerst wie ganz privat plaudernd und bei vollem Licht hereinschlendert, bittet sie uns, das Publikum, ganz spontan dort nachzuschauen und ihr weiterzuhelfen, falls sie einen Texthänger haben sollte.

Sie findet nachher selber viel charmantere, locker improvisierende Wege dafür. Die eindrückliche Textmenge, die der Abend ihr abverlangt, macht ihr die Hänger auch sonst niemand zum Vorwurf. Denn Kotikova spricht, plaudert, labert anderthalb Stunden (und, wenn die Blätter an der Wand echt sind, 20 Druckseiten) durch, von scheinbar improvisierten Plaudereien mit dem Publikum, über die Familiengeschichte, über Geschlechter und Sex (auch härter) und das Schreiben und irgendwie immer über eine riesige Sehnsucht nach Anerkennung.

Suche nach Identität

Kim de l'Horizon nennt das "Blutbuch" einen Anti-Roman, passenderweise im Blutbuch selber. Er hat fünf Teile, aber weder durchgehende Handlung noch eine gleichbleibende Erzählerstimme – mal ich, mal es, mal er. Er erzählt autofiktional von der Suche des Protagonisten nach seiner Identität, aber auch davon, wie der Text entstand und warum; er ist Roman und Bericht und Essay gleichzeitig, das macht seine Faszination aus.

Kotikova und Regisseur Sebastian Schug locken das Publikum mit dem scheinbar ungespielten Beginn geradezu in die Fragen des Textes hinein. Kotikova schlendert durchs Publikum, bittet um Applaus dann später, wenn sie richtig hereinkomme (wegen der Ermutigung) und schleicht dann fast unmerklich in Horizons Text. Dessen Grundstruktur scheint beibehalten – und wie da auch, vermischen sich in den Teilen die verschiedenen Stränge.

In Tuchfühlung mit dem Publikum

Da ist die symbolische Blutbuche, die für die demente Großmutter und die düstere Familiengeschichte steht; da ist das Verhältnis des non-binären Erzählers zu seiner Meere, wie nach der französischen mère in der Mundart um Bern die Mama genannt wird. Und da ist immer wieder die Suche nach der passenden Geschlechterrolle: "Wie wird aus Es ein Ich?" fragt die Figur etwa in der Mitte des Stückes und stellt fest: "Es war eine Frau, die wollte nicht Frau werden, sondern jemand" – nur was ist jemand?

Regisseur Sebastian Schug sucht keinen überraschenden oder perspektivenändernden Zugriff. Zusammen mit Julia Fahle (Dramaturgie) und Lucia Kotikova hat er die Textfassung zusammengestellt und vor allem dann sehr genau durchgearbeitet. Vieles wirkt locker-flockig, der Text ist aber immer rhythmisiert ist und in seiner Bildhaftigkeit und stellenweisen Drastik zur Geltung gebracht.

Blutbuch Kotikova 322 C Yoshiko KusanoLucia Kotikova auf der Bühne von Nico (Nicole) Zielke © Yoshiko Kusano

Dazu braucht es dann nur wenige, aber effektive Lichtwechsel und Musikeinspielungen. Vor allem aber braucht es die bestechend präsente, die durchaus disparaten Textenden zusammenhaltende Lucia Kotikova. In Badelatschen und übergroßem Schlabberpulli agiert sie etwa die Hälfte der Zeit in Tuchfühlung mit dem Publikum und erst dann auf dem Podest, wechselt vom Kumpelhaften ins Dozierende, von somnambuler Gleichgültigkeit in aufgedrehte Hyperaktivität und vom Lustigen ins Tieftraurige – und man nimmt ihr alles sofort ab. Sogar wenn sie betont, sie sei jetzt ganz echt und am Schluss noch mit dem Handy einer Zuschauerin Essen bestellt.

Wenn in einem Monat auch das Schauspielhaus Zürich eine szenische Fassung des Blutbuch herausbringt, ist Kim de l'Horizon unter den Darsteller*innen aufgeführt. In Bern wäre L'Horizon sicher auch in den großen Applaus einbezogen worden.

 

Blutbuch
nach dem Roman von Kim de l'Horizon
Regie: Sebastian Schug, Ausstattung: Nico (Nicole) Zielke, Dramaturgie: Julia Fahle.
Mit Lucia Kotikova.
Premiere am 17. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.buehnenbern.ch

 

Kritikenrundschau

Die Inszenierung lasse deutlich werden, "was für ein erstklassiger Theatertext dieses 'Blutbuch' ist. Stellen, die einem beim Lesen gar prätentiös vorkamen, entfalten auf der Bühne erst ihre Musikalität und Selbstironie", schreibt Lena Rittmeyer für den Bund (18.1.2024). "Wahrscheinlich liegt es aber an Kotikova, dass dieses 'Blutbuch' zum Fliegen kommt: Die Schauspielerin, die sich selber als queer bezeichnet, macht daraus auf einer kleinen Bühne im weissen Neonlicht ein persönliches Ringen, ein unablässiges Herbeireden von Identität und Geschlecht." Und: "Vor allem trifft sie mit ihren nervösen Kapriolen, nahe an der Übersteuerung, ziemlich gut den Sound der Romanvorlage."

"Der Text ist dicht und kunstvoll verwoben – als Theater muss man sich entscheiden, wenn man das auf anderthalb Stunden Bühnengeschehen herunterbrechen will, das Ganze wird man nicht bringen können", sagt Andreas Klaeui im SRF (19.1.2024). In Bern habe man einen "bündigen Strand, der klug in sich verwoben ist" aus dem Roman für die Bühnenfassung ausgewählt, und "es ist wirklich erstaunlich, wie sich Lucia Kotikova das aneignet und überformt", so Klaeui und gerät ins Schwärmen: "Sie spielt einerseits ganz durchlässig, anderseits unglaublich wandlungsfähig. Sie behält die suchende Grundhaltung bei, die ihre Ausgangsfigur hat, und entwickelt darüber mit grosser Phantasie weitere Haltungen (...) Verletzlichkeit, Zärtlichkeit, Arroganz, Melancholie, das ist grandios und einfach auch ein Riesenspass zum Zuschauen."

Der Abend lasse die "nicht straighte" Erzählform der Vorlage und Kim de l'Horizons Sound, Intellekt und satirische Ader leuchten, so Céline Graf in der mehreren Schweizer Printmedien beiliegenden Schweiz am Wochenende (20.1.2024). "Doch zu stark klebt das Theater am Buch. Die Textmenge erschlägt selbst die Schauspielerin, die nicht nur absichtlich stolpert." Zu dezent begehre die Bühne auf. Kotikova hätte zudem ihr Improvisationstalent stärker auskosten können.