Zarin sucht Lover

12. Januar 2024. Die historische Begegnung der russischen Zarin Katharina und des französischen Philosophen Denis Diderot überhöht das Theaterkollektiv 'bruch'- zu einer geschichtsphilosophischen Operette. Episches Theater meets Postkolonialismus meets Erotik, Satire, Tanz und Musik.

Von Leonard Haverkamp

"Diderot in Petersburg" © Philip Frowein

12. Januar 2024. Ost und West – so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und das schon vor 250 Jahren, als der französische Philosoph Denis Diderot zur russischen Zarin Katharina II reiste. Zumindest ist dem so, wenn man der Inszenierung von 'bruch'- glaubt. Die Gruppe, die sich selbst als "kollaborativer Rahmen für Recherche und Produktion zwischen Theater, bildender Kunst und Wissenschaft" versteht, zeigt im Neumarkt Theater in Zürich einen Abend, der es (wie schon die Textvorlage von Leopold von Sacher-Masoch) mit den historischen Begebenheiten nicht allzu genau nimmt, sich dafür aber umso geschichtsphilosophischer gibt und die Frage nach einer verlässlichen Geschichtsschreibung stellt.

Damit nicht zu viel gähnender Geschichtsunterricht aufkommt, tut sie dies im Gewand einer Operette. Und stellt sich dabei in die Tradition Jacques Offenbachs, der "alles, was gemeinhin als unantastbar galt, parodiert, entkleidet und entlarvt", wie es im Programmheft heißt. 

Die nackte Wahrheit

Ihr Auftritt ist imposant. In einem übermächtigen schwarzen Kleid (Kostüm hier: Annelie Schubert) betritt die Zarin (Challenge Gumbodete) die Bühne. Die Dreads hat sie zu zwei Dutts hochgebunden, irgendwo zwischen Aristokratin und Hipster. Hinter ihr folgt der Hofstaat: Kriegsminister Orlov (Frances Chiaverini), Hofgelehrter Lagetschnikoff (Sascha Ö. Soydan) und Katinka, Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften (Nadège Meta Kanku). Sie werden die Zarin umgarnen und sich ab und zu auf der tischtennisplattenblauen Catwalk-Bühne unter dem Dach aus Neonröhrenlampen räkeln. Drumherum sitzt das Publikum wie bei einer Modenshow, am Kopf ist ein Schaufenster zu sehen, in dem Kunstschnee rieselt.

Da die Zarin ihren Gatten umgebracht hat – die "nackte Wahrheit" wird gleich zu Beginn verkündet – sucht Katharina einen neuen Lover. Natürlich muss er Philosoph sein, und weil Voltaire zu alt und Kant zu unfranzösisch ist, bestellt die Zarin Diderot (Stanislav Iordanov) per Videoanruf ein. Als der über den Catwalk auf sie zusäuselt – "Vérité, Histoire, Sensibilité" – und dabei mit seinem Baguette rumfuchtelt, sind alle schwer beeindruckt. Was Katharina auch gleich zu einer Orgie inspiriert, bei der Lagetschnikoff und Diderot ihrer "Hurerei" als Gleichgestellte zusehen sollen. 

Kampf der Denkschulen

Der Hofgelehrte ist auf den Eindringling gar nicht gut zu sprechen und stellt dessen schon vor der französischen Revolution erdachte Formel: "Liberté, Égalité, Fraternité" ein "Autokratie, Orthodoxie, Nationalismus" gegenüber. Ohnehin sei Diderot oberflächlich und prätentiös – dieser entgegnet, Lagetschnikoffs Namen noch in keiner Zeitschrift begegnet zu sein. Anstatt Ordnung und Autorität brauche man: Kommunismus! (auch hier ist Diderot seiner Zeit voraus). Zwischen den beiden Gelehrten entflammt ein Kampf der Denkschulen und Ideologien.

Trotz einiger kluger Lacher über die Einfalt der Ideologen gerät man beim Zuschauen ins Schlingern. Die Auseinandersetzung mit den aufgebrachten Themen verliert sich in den Kuriositäten der Lust-Operette, aus der Operette haben 'bruch'- vor allem die Dramaturgie importiert. Musikalisch geht die Bandbreite von Barry White und Synthiepop über französische Klassik bis zu russischem Hardstyle (Komposition: Stanislav Iordanov), mal singen die Darstellenden (mit), mal strippen sie dazu. Zu schnell wechseln Deutlichkeit und Ironie, die jede*n belächelt, der oder die auch nur einen der vorgetragenen Gedanken ernst nimmt. Bevor man ins Denken kommt, lassen erotische Anspielungen und andere Albernheiten einen wieder am Aussagewillen des Dargestellten zweifeln. 

Niedrige Langweiligkeitstoleranz

Dem Allegorienspiel fehlt auch das Spiel. Die einnehmende Präsenz von Gumbodetes Katharina legt beispielsweise eher die fehlende Energie zwischen den anderen Charakteren offen. Diese scheinen gegenüber ihren Rollen mehr auf Distanz bleiben zu wollen. Unweigerlich fragt man sich so, ob es nicht doch nur um eine Zarin geht, die an selbstdiagnostizierter "niedriger Langweiligkeitstoleranz" leidet. 

Das epische Theater, das Brecht laut Programmheft von Diderot abgeleitet hat, ist in Kombination mit der doch eher akademisch anmutenden Kritik – an Autoritarismus und Gewaltherrschaft auf der einen und westlichen Fortschrittsversprechen, die in Kolonialismus münden, auf der anderen Seite – und durchmischt von Erotik, Satire, Tanz und Musik dann doch: zu viel des Guten. 

Diderot in Petersburg
nach Leopold von Sacher-Masoch
Regie: 'bruch'-, Komposition: Stanislav Iordanov, Choreographie: Frances Chiaverini, Kostüm: Orlov Joy Ahoulou, Annelie Schubert (Kostüm Katharina II.), Künstlerische Beiträge Bühnen- & Kostümbild: Frieder Haller & Phung-Tien Phan, Tattoos: Winona Sloane Odette, Outside Eye: Jana Baldovino, Hausdramaturgie: Eneas Nikolai Prawdzic, Regieassistenz: Sophia Senn, Ausstattungsassistenz: Noé Wetter, Kooperationspartner: Schauspielhaus Zürich.
Mit: Frances Chiaverini, Challenge Gumbodete, Stanislav Iordanov, Nadège Meta Kanku, Sascha Ö. Soydan.
Premiere: 11. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause



www.theaterneumarkt.ch

 Kritikenrundschau

Der Abend werde als Operette angepriesen. Und tatsächlich "wird der westöstliche Diskurs durch viel Musik verflüssigt – von der 'Internationale' über Prince bis zum russischen Pop-Duo t.A.T.u.," schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (12.1.2024) Der Sound trägt aus Sicht dieses Kritikers dazu bei, "dass einem die Themen und Leitideen leicht durchs Gemüt flutschen. Das Schauspiel der theatralen Comicfiguren verzichtet ganz auf psychologische Vertiefung – zugunsten von fluider Verfügbarkeit. Eine gewisse Leichtgewichtigkeit des Abends gibt Bernays allerdings auch zu Protokoll.

Die Inszenierung bringe"eine gewisse Ratlosigkeit zum Ausdruck", urteilt Fabienne Nägeli in der Sendung Kultur kompakt des SRF 2 (15.1.24) –"eine Leere bei all den Konflikten und Kriegen, die uns umgeben". Der Abend sei"eine Art Abgesang auf die Mächtigen" und bringe eine Stimmung unserer Zeit zum Ausdruck", lobt die Kritikerin.

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