"Wir haben drauflos gespielt"

3. August 2023. Vor einem halben Jahrhundert putschte das Militär in Chile. Unter jenen, die daraufhin in die DDR flohen, war auch Alejandro Quintana, der am Volkstheater Rostock das Teatro Lautaro gründete und so ein Stück deutsche Theatergeschichte schrieb. Ein Interview über Unterschiede im Theatermachen, Flucht, die Stasi und den Sozialismus.

Von Frank Schlößer

Alejandro Quintana © Frank Schlößer

3. August 2023. Was bleibt von den großen Bewegungen und Umbrüchen des 20. Jahrhunderts? Am 11. September 2023 jährt sich der Putsch des chilenischen Militärs unter dem späteren Diktator Augusto Pinochet gegen die gewählte sozialistische Regierung Salvador Allendes zum 50. Mal. Zahlreiche Chilenen mussten damals das Land verlassen, viele gingen nach Deutschland (Ost und West). Einer, den es in die damalige DDR verschlug, war Alejandro Quintana, der am Volkstheater Rostock das Teatro Lautaro aufbaute und später als Regisseur und Spartenleiter mehrere Häuser prägte.

nachtkritik.de: Alejandro Quintana, wann haben Sie die Bühne für sich entdeckt?

Ziemlich spät, erst mit 16 Jahren. Eigentlich sollte ich Profifußballer werden, habe mit zwölf Jahren bei "Universidad de Chile" gespielt, dem Hauptkonkurrenten von "Colo-Colo", dem derzeitigen Meister. Aber ich bin auch gern ins Kino gegangen – mit dem Geld, das ich nach dem Einkauf in meiner Hosentasche "vergessen" hatte. Eines Tages kam dort kein Film, sondern ein Theaterstück, ein Gastspiel der Schauspielstudenten von der Universität. Ich war sehr enttäuscht, als sich der Vorhang öffnete und da keine Leinwand zu sehen war, sondern ein Bühnenbild – dann überrascht und später fasziniert. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Da blieb was hängen in mir. Später hat mir ein Freund erzählt, dass es in San Miguel, in meinem Viertel in Santiago, ein Laientheater gibt, in dem sehr viele schöne Mädchen mitmachen. Dort habe ich angefangen, bis ich mich später, nach Abitur und Berufsabschluss, an der Schauspielhochschule beworben habe. Das war eine Fakultät der Universität Chile, sehr renommiert.

War das noch vor der Zeit von Salvador Allende?

Scheuspielschule RostockAlejandro Quintana als Dozent an der Schauspielschule Rostock © Patricia CardenalMittendrin. Allendes Aufbruch begann ja vor 1970, in einer sehr hitzigen, sehr demokratischen Stimmung. Wir demonstrierten, wir diskutierten – das kann man ja alles nur alles im Zusammenhang sehen: Kuba, Angola, Vietnam, die 68er in Europa von Paris bis Prag... Wir in Chile verwirklichten den Sozialismus auf demokratischem Weg – als das erste Land in der Welt! Das war ein Frühling in der Seele. Wir haben täglich hart gearbeitet an unserem Traum. 1970 dann der Sieg der Unidad Popular – es war ja ein knappes Wahlergebnis für Allende. Aber die Stimmung im Land war größer und umfassender als dieses Ergebnis. In dieser Zeit Student zu sein, Schauspielstudent, das war verrückt: Es gab keinen Unterschied zwischen Arbeit, Freizeit, Studium und politischem Engagement – das war alles zusammen ein Gedicht. Viele gute Lehrer aus aller Welt wollten bei diesem Aufbruch in Chile dabei sein. Deshalb hatten wir die besten Lehrer.

Verklären Sie diese Zeit nicht – nach so vielen Jahren?

Bestimmt. Aber nicht sehr. Es war eine perfekte Symbiose, ein rundes Zusammenspiel: Spielen, Studieren, viel Arbeiten – und alles war irgendwie durch Liebe verbunden. Zum Transportarbeiterstreik im Herbst 1972 haben wir nach dem Studium die stehen gelassenen LKWs entladen und die Sachen auf unserem Buckel zu den Leuten getragen. Und danach gab es immer ein Fest! Nach der Regel: Je größer der Stress, desto schöner das Fest! Allende hat dafür gesorgt, dass auch Künstler von ihrer Arbeit leben konnten – nicht alle, aber viele. Ich war im Theater der Gewerkschaft, der CUT, der "Central Unitaria de Trabajadores". Wir waren Studenten, aber wir haben abends überall gespielt, dann diskutiert und gefeiert und am Morgen sind wir wieder zum Studium gegangen. Oder zur freiwilligen Arbeit.

Aber der Putsch kam doch nicht unerwartet?

Es war absehbar, dass es kracht. Aber so früh und mit solcher Gewalt – das hatten wir nicht erwartet. Dazu muss man verstehen: Chile hat eine jahrhundertelange demokratische Tradition, das Land wurde 1810 als Republik begründet. Natürlich gab es in der Geschichte Chiles immer wieder Gewalt, Bürgerkrieg und Diktaturen. Aber das ist nicht vergleichbar mit der Demokratie in Deutschland, die erst ab 1945 auf den Trümmern eines Regimes errichtet wurde, das einen kranken Zivilisationsbruch vollzogen hatte und in einem weltverheerenden Krieg zugrunde gegangen war. Deshalb war der Putsch in Chile ein Stich in die Volksseele. So etwas kannten wir nicht, so eine landesweite, sehr gut organisierte Verfolgung, Verschleppung und massenhafte Ermordung der Aktionisten linker Parteien. Unser nationaler Feierplatz, das Nationalstadion, wurde über Nacht zum KZ. Das kam tatsächlich unerwartet. Ein nationales Trauma. Bis heute.

Viele verschwanden und wurden ermordet. Aber viele weitere – auch Sie – konnten entkommen.

Wir waren gut organisiert. Selbst im Chaos konnten wir uns gegenseitig warnen, Fluchten organisieren, Verstecke wechseln. Ich habe im November erfahren, dass ich gesucht werde und untertauchen muss. Ich wurde durch Familien gereicht, die ich nicht kannte. Darunter auch Familien von Rechten, von Familien, die von dem Putsch profitierten. Dort war ich natürlich besonders sicher – für ein paar Tage. Dann brachte mir ein Freund vom CUT-Theater die Information, dass ich am 10. Dezember zu einer bestimmten Uhrzeit an einer Tür der DDR-Botschaft sein sollte. Die DDR hatte zwar sofort die Beziehungen zum Pinochet-Regime abgebrochen, aber Finnland hatte seine Flagge auf das Gebäude gesetzt und die Botschaft unter seinen Schutz gestellt. In der Villa warteten rund 80 Leute darauf rauszukommen, darunter auch einige Freunde aus dem Gewerkschaftstheater.

Was haben Sie in dieser Zeit in der Botschaft gemacht?

Theater. Unsere erste Inszenierung war eine Adaption von Brechts "Kaukasischem Kreidekreis" – und das Kind war natürlich eine Metapher für unser Land. Sogar ein Orchester hatten wir – alle und jeder konnte mitmachen. Wir mussten einfach etwas tun, denn es war natürlich purer Stress, mit ehemaligen Polizisten, Politikern, Arbeitern, Künstlern, mit Männern, Frauen und Kindern auf so engem Raum zu leben. Ohne wirklich zu wissen, wie es weitergeht. Aber es war auch hochinteressant. Im Hintergrund liefen irgendwelche Verhandlungen, dann gab es immer wieder Busse zum Flughafen – unter schwerer Bewachung. Wir galten ja als Terroristen, die rausgeschmissen wurden. Am 15. Mai 1974 bin ich dann in "meinen" Bus gestiegen.

MitEkkehardSchallMit Ekkehard Schall in der BE-Kantine © Patricia Cardenal

Und direkt in die DDR geflogen?

Nein, erst mit einem Linienflug in die Schweiz. Das Flugzeug war natürlich trotzdem voller Flüchtlinge. Uns Theaterleute interessierte die DDR am meisten: Wenn schon Flucht, dann zu Brecht. Was Brecht aufgeschrieben hatte, das waren unsere Gedanken – so präzise formuliert, wie wir es selbst nicht hinbekommen haben. Es war, als sitzt er nebenan und schreibt ein Stück für uns. Am 11. September probten wir "Die Gewehre der Frau Carrar" – das war unsere Abschlussarbeit im Schauspielstudium. Was Brecht da beschrieb, das kannte jeder von uns aus der eigenen Familie. Außerdem hatte uns das Kulturinstitut der DDR noch zu Allendes Zeiten Material gegeben, aus dem wir uns über ein Land informieren konnten, in dem der Sozialismus gesiegt hatte. Natürlich haben wir später gesehen, dass diese Informationen eher Propaganda waren und dass nicht alles so hübsch war wie in den Prospekten. Aber es hat funktioniert – wir entwickelten eine Nähe zu diesem Land. Die Literaten und Theaterleute kamen nach Rostock. Ende Juni haben wir dort schon unsere erste Aufführung vorbereitet: "Margarita Naranjo", ein Gedicht von Pablo Neruda, Kapitel 8 seines "Großen Gesanges". Das haben wir als stummes Spiel in ein Spektakel des realistischen Theaters umgesetzt, von der Idee her ein Tanztheater. Wir spielten im "Kleinen Haus" des Volkstheaters in der Innenstadt. Dazu gab es ein Konzert von "Aparcoa", eine Gruppe chilenischer Musiker. Premiere war am 12. Juli 1974, dem Geburtstag von Pablo Neruda, ein halbes Jahr nach seinem Tod. Das war der Beginn des Teatro Lautaro.

Was bedeutet Lautaro?

Lautaro war ein junger Mapuche, ein Kriegsheld aus dem 16. Jahrhundert, der große Erfolge im Kampf gegen den spanischen Konquistador Pedro de Valdivia hatte. Er hatte als Jugendlicher bei den Spaniern gelebt und nach seiner Flucht sein Wissen genutzt, um eine Taktik für die indigenen Krieger zu entwickeln, mit denen sie die stark bewaffneten und geharnischten spanischen Reiter besiegen konnten. Eigentlich befehligte er als "Toqui", als militärischer Führer, die erste Guerilla-Armee. Sehr populär. Ein Name, der Hoffnung verbreiten sollte.

Damals war Hanns Anselm Perten der Intendant des Volkstheaters. Wie kamen Sie mit ihm zurecht?

Perten hatte sich ja mit Karl Kayser in Leipzig um uns gestritten: Er wollte die "Theaterchilenen" bei sich in Rostock haben. Aber es war ein bisschen schwierig. Ihm lag viel an Bodenständigkeit und da waren unsere Inszenierungen gelegentlich etwas abgedreht. So etwas wie absurdes Theater gab es zum Beispiel gar nicht. Aber das waren normale künstlerische Auseinandersetzungen. Bis auf eine Sache: In Chile waren wir es gewohnt, nach der Vorstellung mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Das ist dort so eine Übereinkunft, das gehört normal dazu. Wir sind dafür auch in den Mittagspausen im Fischkombinat in Marienehe aufgetreten, wo wir manchmal am Sonnabend freiwillig ausgeholfen haben. Und da haben wir natürlich diskutiert. Diese Diskussionen waren nicht so gewollt. Da wurden wir auch mal zu Perten zitiert: "Genossen – ich verstehe, was ihr wollt. Aber im Sozialismus geht das Theater nicht zu den Arbeitern. Da kommen die Arbeiter ins Theater."

Und?

DeutschlehrerinKollektiver chilenischer Dank der Deutschlehrerin © Patricia CardenalNa, wir waren eben in Zukunft vorsichtiger bei solchen unangekündigten Aktionen. Das war schon interessant zu erleben, dass in der DDR alle nur das taten, was offiziell erlaubt war. Sobald man nicht sicher war, ob man etwas darf, hat man sich entweder nach oben abgesichert oder die Finger davon gelassen. Wir haben drauflos gespielt. Ich hatte nach 1980 auch mal eine Einladung, in Schwerin zu inszenieren. Ich hatte in Rostock alles ordentlich beantragt. Aber in die Konzeptprobe platzte Intendant Christoph Schroth rein und sagte, dass es leider nicht weitergeht. Da hatte wohl Perten bei ihm angerufen und Ansprüche auf das gleiche Stück angemeldet. Das war sicher vorgeschoben – aber für mich war das der Anfang vom Ende meiner Rostocker Zeit. Grundsätzlich hatten wir aber kein Problem miteinander. Wir Chilenen hatten einen besonderen Status, wir durften mehr als andere, das hat Perten auch akzeptiert. Wenn etwas knirschte, dann war das nicht politisch. Sondern das starre System, die Bürokratie.

Auch die Stasi kam vorbei?

Ja, da kamen Genossen aus dem "Ministerium des Inneren", die wollten wissen, wie es uns geht. Uns geht’s gut! Danke! Aber dann ging es natürlich auch um die Anomalien: Wieso steht das eine in der Zeitung – obwohl ich doch etwas ganz anderes erlebe? Ich habe viel mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben. Wir haben politisch diskutiert, das war auch interessant. Und sobald sich die Fragen konkret auf meine Kollegen bezogen, war ich raus. Wir hatten ja unsere internen Streitigkeiten, es gab Schlägereien, es gab Liebesdramen, es gab Selbstmordversuche. Und wir wussten auch nicht, wie lange unser Exil dauern würde. Damals gaben wir uns sechs Monate. Das machte natürlich Stress. Aber warum sollte ich inoffiziell jemandem etwas darüber erzählen? Ich wurde auch gebeten, über die Gespräche zu schweigen. Aber da hab ich gesagt: Warum sollte ich das tun? Wir sind alle Kommunisten. Da hat sich die Sache dann langsam erledigt. Als ich 2008 am Theater Heilbronn Schauspieldirektor werden sollte, ploppte die Geschichte nochmal auf. Aus den Akten erfuhr ich auch, dass ich den Decknamen "IM Lautaro" bekommen hatte. Die Stasi wollte mich ursprünglich werben als "Kundschafter des Friedens" für Einsätze im Ausland. Aber sie hat es nicht getan. Im letzten Eintrag aus dem Jahre 1980 steht, dass die inoffizielle Arbeit mit mir "nicht befriedigend" sei und dass "die Perspektive" fehle. Damit war die Geschichte durch. Und ich blieb auch bis 2016 am Theater in Heilbronn.

Wie hat sich das Teatro Lautaro weiter entwickelt?

1976 war unsere erste Inszenierung auf der Bühne des Großen Haus schließlich "Der geflochtene Kreis" – eine Adaption des Kaukasischen Kreidekreises – für Kinder. Das war tatsächlich spektakulär. Wir wurden natürlich durchgereicht durch die Theater der DDR – von Eisenach bis Stralsund. Aber mit diesem Stück sind wir auf den internationalen Theaterfestivals gewesen, überall auf der Welt: Nancy, Lyon, Porto, Edinburgh, Sofia, Den Haag... Wir sahen uns als Aktivisten des Kampfes des chilenischen Volkes. Diese Parteilichkeit haben damals alle verstanden und akzeptiert. Ich habe bis heute keine Probleme, mit einer Inszenierung zu sagen, wo ich stehe. Das mache ich in meinem Luzin-Theater in Feldberg auch heute. Ich glaube, das Publikum kommt auch deshalb zu uns.

Haben denn auch die deutschen Schauspieler bei Ihnen mitgemacht?

Natürlich, wir konnten ja nicht immer alle Rollen selbst besetzen. Undine Cornelius, Manfred Schlosser, Hermann Wagemann, Dieter Unruh, mein Freund Jürgen Reimer – und noch viele andere, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. Es war ja auch attraktiv, mit uns auf Tour ins Ausland zu gehen. Sie waren auch in "Szenen wider die Nacht" dabei – unser Autor Omar Saavedra Santis hatte das Stück "Furcht und Elend des Dritten Reiches" auf die Situation in Chile übersetzt, Ulrich Voß hat es mit uns inszeniert. Und es kam auch "Der Untergang des Zentauren" von unserem Autor Victor Carvajal, inszeniert von Hans-Uwe Haus. Die Choreografie kam von Patricio Bunster. Damit waren wir auch auf Festivals in Portugal und Griechenland. Claus Hammel war damals Hausautor des Volkstheaters, er schrieb "Humboldt und Bolivar" über die Begegnung von Alexander von Humboldt und Simon Bolivar. Ich wurde als Bolivar besetzt, Siegfried Kellermann war Humboldt. Das war ein ziemlicher Brocken für mich, denn ich habe mir den ganzen Text phonetisch aufgedrückt. Damit waren wir auch im Ruhrgebiet zum Festival.

BolvarHumboldt2Alejandro Quintana und Siegfried Kellermann in "Humboldt und Bolivar" von Claus Hammel © Patricia Cardenal

Wer hat denn diese internationalen Tourneen bezahlt?

Die Festivals! Wir wurden ja eingeladen. Die internationalen Festival-Scouts hatten uns im Blick. Wir hatten eine ausreichende Gage als Mitarbeiter des Volkstheaters und das Leben in der DDR war ja leicht. Für uns war Geld nicht wichtig; wenn wir genügend Ostmark hatten, um in der DDR täglich über die Runden zu kommen, dann war das in Ordnung. Und uns wurden ja auch immer Weiterbildungen angeboten.

Gibt es dafür Beispiele?

Wir durften bei Rudolf Penka an der neuen Staatlichen Schauspielschule Berlin – heute die "Ernst Busch" – die Brecht-Stansilawski-Methode kennenlernen und hatten ein paar lange Seminare. Das war ein ganz neues Denken für uns, Stoffe methodisch zu analysieren und Stücke zu erarbeiten. Als Dozent hab ich den Studenten an der Schauspielschule Rostock einfach gezeigt, wie ich es machen würde. Dort an der Schule haben wir richtig losgelegt. Wir haben alles gemacht, auch mit Literatur, die in der DDR gar nicht zu bekommen war – eben auch absurde Stücke. Ich habe dann die Studenten zum Intendantenvorspiel begleitet und dort wurde ich vom Theater Eisenach angefragt, ob ich inszenieren würde. Das hab ich gemacht mit Dario Fo "Bezahlt wird nicht" – meine erste Arbeit außerhalb von Rostock.

Wie und wann endete das Teatro Lautaro?

Um 1981. Einerseits war es für uns natürlich belastend zu sehen, wie sich Pinochet in Chile etablierte. Wir haben von Anfang an eng aufeinander gehockt, irgendwann brauchten wir alle mehr frische Luft. Andererseits waren es normale und im Grunde positive Prozesse, die unsere Exiltruppe auseinanderbrachte: Jeder fand seinen Platz – Omar Saavedra Santis und Victor Carvajal am Literaturinstitut in Leipzig, andere studierten Regie in Berlin. Manche gingen ins Ausland, es wurde immer schwerer, alle für eine Inszenierung in Rostock zusammenzubringen. Vielleicht waren einige am Volkstheater auch froh, als sich unsere politisch unbequeme Chaotentruppe langsam auflöste. Auch für mich war es an der Zeit, mich Pertens Autorität zu entziehen. Und man hat ja gesehen, welche Impulse wir gegeben haben – unsere Leute tauchten überall auf, an vielen Theatern. Nicht nur in der DDR, auch nach dem Zusammenbruch.

Wie haben Sie den Mauerfall und die Wende in der DDR erlebt?

Naja, die DDR war mein Land, ich war voll integriert, meine Frau ist von hier, meine Kinder sind hier geboren und die Theater in der DDR waren Orte, an denen die Probleme thematisiert wurden. Wir wollten einen demokratischen Sozialismus, einen Frühling in der DDR. Kapitalismus war – und ist – keine Lösung. Dafür bin ich damals auch auf die Straße gegangen. Die Frage ist ja offen geblieben: Wie lebt man miteinander in Verantwortung – so dass die Zukunft der kommenden Generationen nicht aufs Spiel gesetzt wird?

Alejandro Quintana vor der Bühne seines Luzin-Theaters, in dem mit "Brennende Geduld" gerade ein Stück über Pablo Neruda läuft © Frank Schlößer

Sie inszenieren viel von Pablo Neruda. Sind Sie sein Botschafter?

Heiner Müller, Schiller und Büchner sind mir eigentlich näher, von den aktuellen Autoren und Regisseuren interessieren mich Sybille Berg, John von Düffel und Sören Hornung am Meisten. Brecht ist ein Werkzeug. Pablo Neruda macht mich satt. Aber besser als diese ganzen Interpretationen über die vielen Ismen ist Volker Braun: Es gibt keine Alternative zur Vernunft. Vernünftig heißt in erster Linie: nicht tödlich, nicht verletzend. 2019 gab es in Chile einen Riesen-Aufstand, und das Motto war ebenso weich wie bestimmt: "Bis die Würde zur Gewohnheit wird". Der stammt von den vier Frauen von "Las Tesis" und ihre Performance ging damals per Internet um die Welt. Das sind die Kinder von denjenigen, die 1973 aus Chile fliehen mussten. Die Idee ist im Land geblieben: Sie hat sich versteckt, sie hat neue Wurzeln bekommen, dann hat sie irgendwo ihre Stängel und Blätter rausgestreckt – und jetzt wuchert sie in den Städten an jeder Ecke, nicht nur in Chile.

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