Schauspielhaus Bochum - Zwei Jahre nach Übernahme der Intendanz ringt Johan Simons noch mit dem Publikum
Bochumer Verwandlungen
von Max Florian Kühlem
3. Juli 2020. Ein Moment Wahrhaftigkeit auf der Spielzeitvorstellung am Schauspielhaus Bochum: Johan Simons schaut leicht verknittert in sein Publikum aus verteilt sitzenden Journalisten auf der großen Bühne, hinter ihm der schöne Saal mit der "offenen Wunde" aus wegen Corona ausgebauten Sitzen. Der 73-Jährige sagt: "Wenn man startet, tut man so, als wisse man alles über eine Stadt. Und dann begegnet man ihr."
Johan Simons und sein Team sind vor knapp zwei Jahren mit mutigen Veränderungen gestartet: Mit einem diversen Ensemble, einer neuen Spielstätte für Experimente, einem Kunstraum, einem Jungen Schauspielhaus ohne festen Ort, einem neuen Umgang mit den Kammerspielen. Die Kritik hat dieses Konzept überwiegend gefeiert. Das Schauspielhaus wurde in der Kritikerumfrage der Welt am Sonntag 2019 zum besten Theater in NRW gewählt, Simons’ Hamlet-Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen – die erste Einladung für Bochum seit 20 Jahren. Oberbürgermeister Thomas Eiskirch zitierte bei unzähligen Veranstaltungen Simon Strauß, der in der FAZ geschrieben hatte: "Das Stadttheater unserer Zeit. Es steht in Bochum", und ließ dabei meist die attributive Ergänzung des Autors weg: "der alten Ruhrpott-Provinz". Mehr Besucher von auswärts kamen.
Nur das Publikum in der Stadt, das wollte nicht so recht mitziehen – es sei denn, es gab Sandra Hüller oder Jens Harzer auf der großen Bühne zu bestaunen. Ein Problemkind wurde schnell die neue Spielstätte in der Zeche 1, einige Kilometer entfernt vom Theater, in der vorher die Streetdance-Truppe Renegade aus Herne versucht hatte, ein Zentrum für urbane Kunst zu etablieren. Mit Landesförderung und/oder Support des Schauspielhauses wäre ihr das sicher gelungen. Aber das Schauspielhaus schickte Renegade zurück nach Wanne-Eickel, wollte lieber einen eigenen, flexiblen Raum zum Experimentieren. Schon der erste Aufschlag, Benny Claessens’ White People‘s Problems / The Evil Dead, schreckte die eher klassisch orientierten Bochumer Theatergänger ab. Zuletzt versuchte man es dort mit leichtem Dinner-Theater: Zu Eduardo de Filippos "Samstag, Sonntag, Montag" gab es Nudeln von einer Bochumer Pasta-Manufaktur.
In der kommenden Saison macht das Schauspielhaus Bochum die Zeche 1 mit einer üppigen Förderung aus dem Neue-Wege-Programm des Landes NRW (1,3 Millionen Euro für drei Jahre) nun zur festen Spielstätte für das Junge Schauspielhaus, zum "Theaterrevier". Das wollte das Team auf besagter Spielzeitvorstellung als sensationelle Neuheit verkaufen – dabei hatte das Junge Schauspielhaus in Bochum eigentlich immer einen festen Ort: zuletzt das Theater Unten, das jetzt Oval Office heißt und Raum für Kunstinstallationen bietet. Neu und spannend ist der Ansatz des Theaterreviers allerdings insofern, als dort ein divers aufgestellter Jugendaufsichtsrat, genannt Drama Control, das Programm bestimmen soll und man sich generell in besonderer Weise um junge Menschen bemühen möchte, die sonst eher nicht in die großen Stadttheater strömen.
Bekannte Gesichter
Zwei weitere Entscheidungen lassen vermuten, dass Simons’ Team in Zukunft vermehrt auch auf alte Rezepte setzt: Für die Inszenierung von Yasmina Rezas Bühnenschlager "Drei Mal Leben" kehrt Martina Eitner-Acheampong ans Haus zurück und auch ihr Ensemble besteht nur aus alten Bochum-Bekannten: Jele Brückner, Karin Moog, Sascha Nathan und Oliver Möller. Außerdem inszenieren Selen Kara, die sich rühmen kann, unter der Vorgänger-Intendanz die türkische Community für das Bochumer Theater aktiviert zu haben, und der ehemalige musikalische Leiter Torsten Kindermann "Mit anderen Augen", einen musikalischen Abend zum Thema Sehen.
Eine Kehrtwende bedeuten diese Entscheidungen noch nicht, denn auch in Zukunft soll es am Schauspielhaus einen Ort für Bühnenexperimente geben. Die neue stellvertretende Intendantin Susanne Winnacker bestätigt, was bisher nur als Gerücht im Umlauf war: dass Simons' Team darüber nachdenkt, die Kammerspiele zu einem flexiblen Bühnenraum umzubauen. Diese Überlegungen sind noch ganz am Anfang und werden sich sicher noch Jahre hinziehen; es braucht eine Machbarkeitsstudie, vielleicht schiebt der Denkmalschutz einen Riegel vor das Neudenken des klassischen Bühnenraums für 400 Zuschauer*innen. Und auch die Bochumer*innen werden sicher nicht leicht zu überzeugen sein. Schon in seinen ersten beiden Spielstätten ließ Simons dort performative Hybride wie das "dataistische Cyber-Acapella-Musical" "New Joy" von Eleanor Bauer und Chris Peck auf sie los, die man vorher eher im benachbarten Essen in PACT Zollverein vermutet hätte.
Susanne Winnacker ist sich des Spagats bewusst, den man in Bochum versuchen muss: "Wir brauchen etwas Leichtes im Spielplan, wo die Leute einfach hingehen können", sagt sie. Und schiebt hinterher: "Man muss aber die anderen Sachen auch versuchen, weil man das will." Tatsächlich verwundert es, dass in Bochum nicht mehr Publikum für performative Ansätze zu finden ist. Immerhin pflegen die großen freien Bühnen Prinzregent- und Rottstr5-Theater seit einiger Zeit eher konservatives Sprechtheater – und gleichzeitig strömen ständig neue Absolventen aus dem innovativen Masterstudiengang "Szenische Forschung" der Ruhr-Universität und tummeln sich mit ihren Gruppen und Followern in Off-Off-Orten oder reisen nach Düsseldorf, Mülheim an der Ruhr und Münster.
Trotz grandioser Triumphe wie seiner Iwanow- oder der Hamlet-Inszenierung hat Johan Simons es also nicht leicht in Bochum – und einige Baustellen werden ihn sicher noch länger begleiten: Kurz vor dem Corona-Zwangspause verursachte ein Rohrbruch einen großen Wasserschaden im Keller. Auch die Kantine, unter legendären Vorgängern wie Leander Haußmann und Matthias Hartmann das Herzzentrum des Hauses, wurde nachhaltig zerstört. So nachhaltig, dass man jetzt überlegt, das Restaurant Tanas vor den Kammerspielen umzubauen und mit einer Trennwand zu Restaurant und Kantine in einen (Begegnungs-)Ort zu verwandeln. Auch diese Verwandlung würde in Bochum Stadtgespräch werden – und nicht alle erfreuen, die gern mit leuchtenden Augen von den guten alten Zeiten schwärmen.
Max Florian Kühlem, geboren 1979 in Bergneustadt, studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft in Bochum. Er ist schwerpunktmäßig in NRW als freier Kulturjournalist, Autor und Songwriter aktiv.
Er schreibt unter anderem für die taz, Rheinische Post, das Magazin Rolling Stone und nachtkritik.de.
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Ein paar Kritiker und konservatives Publikum feiern das ab.
(Sehr geehrter Cas, falls uns Google Translate nicht täuscht, schießen Teile dieses Kommentars in der Polemik übers Ziel hinaus. Die sind entsprechend gestrichen. Mit freundliche Grüßen, Christian Rakow)
Wenn Simons weiter bei dieser Art kopflastigem, abgehobenen Theater bleibt, werde ich wohl auch mein Abo kündigen und ich werde nicht die Einzige sein.
Man kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen mal genauer hinschauen oder er endlich in der Realität ankommt.
Das ist eitel und von vorgestern.
Na dann. Das ist natürlich nicht elitär. Himmel.
Elitär ist, das Publikum vor Ort nicht mitzudenken, in welcher (Kunst-)Sprache auch immer. Elitär ist ein Theaterverständnis, das einen Gegensatz zwischen künstlerischem Anspruch und Publikumszuspruch konstruiert. Elitär ist, wenn ein voraussetzungsloser Theaterbesuch nicht möglich ist.
Lustig ist Ihre Behauptung "Bochum war nie Volkstheater" im Zusammenhang mit der Berufung auf die große Tradition des Hauses (in Form zahlreicher Regisseure - darunter eine Dame).
Dabei vergessen Sie den Namen Peter Zadek: Er begründete die große Tradition mehr oder weniger, indem er am Schauspielhaus Bochum sein berühmtes "Volkstheater im Revier" machte.
Aber gut. Sagen wir, seit 1979 war Bochum nie Volkstheater (stimmt aber vermutlich auch nicht).
Dieser sehr inhaltliche Artikel kommt zu einem für mich merkwürdigen Augenblick, denn: Wo sind denn derzeit die vollen Häuser? Genau wie andere Bereiche hat die gesamte Theaterlandschaft in den letzten zwei Jahren massiv zu kämpfen gehabt, machen wir uns doch nichts vor. Eine -rein anekdotische - Umfrage im Bekanntenkreis ergab: Corona wurde ernstgenommen, Orte der Begegnung gemieden, so auch das Theater, das Freizeitverhalten hat sich innerhalb der letzten zwei Jahre gewandelt.
Bochum konnte monatelang nicht spielen, alle anderen auch nicht. Wenn Vorstellungen stattfinden konnten, dann unter Sicherheitsvorkehrungen, die einige als zu streng, andere als zu wenig streng empfanden. Und bei einem sind sich vermutlich viele von uns einig: Ein bis drei Stunden mit Maske sitzen - es gibt Angenehmeres. Auch jetzt müssen an allen Orten Vorstellungen bisweilen kurzfristig abgesagt werden, wenn positive Coronafälle im Ensemble nicht kompensiert werden können.
Gerade komme ich von Manuela Infantes "NOISE" - die Bochumer Kammerspiele höchstens halb voll, nach Stückschluss standing ovations für Gina Haller.
Warten wir mal ab, wie es für die Theaterwelt weitergeht. Bitte nicht zu früh in Pessimismus verfallen.