Es war einmal: das Cis-Brot

15. Dezember 2023. Kein Stein oder: Lebkuchen bleibt hier auf dem anderen. Juli Mahid Carly nimmt den Grimm’schen Gruselschocker "Hänsel und Gretel" auseinander und strickt ihn neu, als queere Revue zu harten Themen wie Kinderarmut oder Transphobie. Ein wilder Ritt durch die Märchenwelt.

Von Anne Fritsch

"Hänsel & Gretel: A Sweet Escape" von Juli Mahid Carly am Münchner Volkstheater © Gabriela Neeb

15. Dezember 2023. Süß ist in "Hänsel und Gretel" nur das Lebkuchenhaus. Das Leben der beiden Kinder ist bekanntlich ziemlich bitter: Die Eltern setzen die Geschwister im Wald aus, weil nicht genug Essen für alle da ist; die Mutter ist in Wahrheit nur eine Stiefmutter; und das vermeintlich zuckersüße Schlaraffenland der Hexe entpuppt sich als Vorhölle aus Brot und Kuchen. Dass gerade dieses Märchen der Gebrüder Grimm es auf die vorweihnachtliche Theater-Hitliste schaffte, ist wohl vor allem dem Komponisten Engelbert Humperdinck und seiner Oper zu verdanken. Dass der Stoff mehr sein kann als eine Warnung vor übertriebenem Lebkuchen- und Süßigkeiten-Konsum in der Adventszeit, zeigt Juli Mahid Carly am Münchner Volkstheater.

Schmerzhafter Spaß

Unter dem Titel "Hänsel & Gretel: A Sweet Escape" trifft Eskapismus auf allerlei handfeste Probleme: Kinderarmut, Essstörungen, Diabetes, Homo- und Transphobie. Carly packt alles in einen wilden Ritt durch die Grimm'sche Märchenwelt. Denn neben den üblichen Verdächtigen ist hier auch Platz für Rapunzel, den Wolf (der sich später allerdings als Jacob Grimm im Wolfspelz entpuppen wird) und Bernd das Brot.

Dass dieser Star des Kinderfernsehens gar nicht von Grimm ist? Völlig schnuppe. Hier wird wild assoziiert und miteinander in Verbindung gebracht, was eigentlich nicht zusammengehört. Carly ist weit davon entfernt, pädagogisches Betroffenheitstheater zu machen, hier geht es um einen durchaus schmerzhaften Spaß.

SM-Spielchen mit dem Wolf

Nathalie Schatz hat einen puderzuckerweißen Palast auf die Bühne gestäubt, vor dem sich die knallroten übergroßen Mon-Chérie-Kirschen, auf denen Lukas Darnstädt als Hexe Godel in den Raum schwebt, ebenso gut abheben wie die quietschbunten Kostüme von Hanna Rode. Von der Decke baumelt der Zopf von Rapunzel, die wohl zu einem früheren Zeitpunkt an diesem Ort skalpiert wurde. Aus der biestigen Märchenhexe ist ein queerer Vamp geworden: Über einem grellgrünen Overall trägt Lukas Darnstädt rosafarbene Brüste und auch mal einen rüschigen Umhang, auf dem Kopf eine Krone aus den Weisheitszähnen seiner Opfer oder einen plüschigen Hexenhut. Den Hänsel will er lieber verführen als verspeisen und die Gretel kommt ihm gerade recht als Hexen-Nachwuchs.

HaenselundGretel4 1200 AnneStein MaxPoerting LukasDarnstdt HenrietteNagel JulianGutmann c Gabriela NeebAnne Stein, Max Poerting, Lukas Darnstädt, Henriette Nagel und Julian Gutmann © Gabriela Neeb

Bernd das Brot hat in Zeiten von Glutenunverträglichkeiten seine ursprüngliche Bestimmung als Hauptnahrungsmittel der Deutschen verloren und dient der Hexe nun als selbstmitleidiger Gehilfe. Der Wolf treibt die Handlung auf vielerlei Art voran und spielt auch mal SM-Spielchen mit Hänsel, bevor er sich als Jacob Grimm auf den Thron schwingt und die Deutungsmacht über sein aus den Fugen geratenes Märchen übernimmt. Klingt ziemlich verrückt? Ist es auch.

Revue der leiblichen Genüsse und Qualen

Ausgehend von der wohl wahren Vermutung, dass dieses Märchen wirklich jeder kennt, lässt Juli Mahid Carly mit seinem experimentierfreudigen Ensemble keinen Stein beziehungsweise keinen Lebkuchen auf dem anderen. Mal tanzen alle zu Tschaikowskis "Tanz der Zuckerfee" das "Insulinstoffwechsel-Ballett", dann lädt die Hexe zur Familienaufstellung und der Wolf macht sich mit Schwarzwälder Kirschtorte an Hänsel ran. Die magersüchtige Gretel träumt vom Mord an der kochenden Stiefmutter, und Bernd hält einen ernüchternden Vortrag darüber, wie es ist, "wenn man Brot ist" im 21. Jahrhundert: "Wir befinden uns gerade in einem Prozess der Ausrottung, die Zeit des alten weißen Cis-Brotes ist vorbei."

In dieser Toast- und Floskelschlacht geht es um alles und um nichts. Vieles klingt an in dieser an Referenzen überreichen Revue der leiblichen Genüsse und Qualen. In den guten Momenten ist das unterhaltsam und manchmal sogar erhellend, dann aber auch wieder ziemlich beliebig. Selbst das wirklich gut gelaunte Ensemble kann über die Dauer des Abends nicht darüber hinwegtäuschen, dass dessen Sahnehäubchen doch auch viel leere Luft enthalten.

 

Hänsel & Gretel: A Sweet Escape
Frei nach dem Märchen der Gebrüder Grimm
Von Juli Mahid Carly
Regie: Juli Mahid Carly, Bühne: Nathalie Schatz, Kostüme: Hanna Rode, Musik: Andreas Niegl, Dramaturgie: Leon Frisch, Bastian Boß.
Mit: Max Poerting, Henriette Nagel, Julian Gutmann, Anne Stein, Lukas Darnstädt.
Uraufführung am 14. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

Kritikenrundschau

"Nicht nur das Ambiente ist lecker schrill, auch die Kostüme von Hanna Rode bieten wunderbares 'Eye Candy'", so Michael Stadler in der Abendzeitung (16.12.2023). Aber es helfe alles nichts: "Bei der Premiere wollen nicht mal die poppigen Songs so richtig knallen. Vielleicht spielt sich das ja noch ein und aus dem Ganzen wird eine gehörige Gaudi, die einem den Abgrund zwischen Fast Food und Gesundheitswahn, zwischen Intoleranz und Wokeness mitreißend vor Augen führt."

Ideen, Geistesblitze, Witz habe Regisseur Carly zweifelsfrei, konstatiert Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (16.12.2023). "Sie so durcheinander zu konsumieren, macht der Verdauung allerdings Probleme." Selbst die Hauptfiguren seien derart mi Themen überfrachtet, von Muttermordgedanken bis hin zum Kalorienzählen, dass auch sie unter einer dicken Ideenglasur verschwinden.

Die schrille Es-war-einmal-Show bleibe viel zu harmlos, flach und belanglos, um in die Dimension des höheren Blödsinns (oder gar des abgründig Absurden) vorzustoßen, findet Alexander Altmann im Münchner Merkur (16.12.2023). "Und den Versuch, in die Buttercreme-Ästhetik dieser teigigen Märchen-Travestie stellenweise noch eine selbstreflexive 'Meta-Ebene' einzuziehen, kann man bestenfalls als süß bezeichnen." So köchle "das alberne Geblödel auf kleiner Flamme dahin, aber nur an den wenigsten Stellen zündet die Komik".

Kommentare  
Hänsel & Gretel, München: Für wen?
Ist das eine Inszenierung für den Abendspielplan oder für ein Kinderpublikum?
Hänsel & Gretel, München: Antwort
#1 Offenbar haben Sie ja Internetzugang, also einfach mal auf die Website des Volkstheaters schauen! Es läuft immer um 20 Uhr, ist also offenbar für ein Erwachsenenpublikum gedacht. Wäre es ein Kinderstück, hätte es - by the way - schon vor zwei Wochen Premiere gehabt und würde täglich mindestens zweimal laufen.
Hänsel & Gretel, München: Viel zu verdauen
Haben es heute gesehen und fanden es auch sehr viel zu verdauen, eine Überfrachtung der Sinne, die nicht nur gut schmeckt und trotzdem immer wieder bekömmlich gemacht wird durch den Humor und die Einlagen. Ein komisches Theatererlebnis (im ganzen Wortsinne), unterspannt und total drüber, aber gerade für das Märchen und die Themen wieder irgendwie passend...
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