Schein und Sein des Wilden Westens

17. Dezember 2023. Enis Maci und Mazlum Nergiz beschäftigen sich schon länger mit Karl May und bringen demnächst ein Buch heraus. Über Mays Wildwest- und Orientfantasien haben sie  jetzt schon an der Volksbühne einen Theater-Rodeo inszeniert, in dem man sich nicht immer sattelfest fühlt.

Von Esther Slevogt

Enis Macis und Mazlum Nergiz' "Karl May" an der Berliner Volksbühne © Luna Zscharnt

17. Dezember 2023. Der Bullen-Torso eines Rodeo-Simulators kündet schon vom kommenden Westernvergnügen beziehungsweise dessen Vortäuschung. Er ist auf einer Trucker-Raststätte aufgebaut, einem Halte- und Unterhaltungspunkt für die Cowboys unserer Tage. Die drei Spieler sind auch schon da, wenn das Publikum auf drei Seiten der kleinen Arena-Bühne vor riesigen Plakaten Platz nimmt.

Darauf sind in XXL-Format ikonische Landschaften zu sehen: die Niagara-Fälle zum Beispiel, und Wüstenweiten irgendwo in Amerika, durch die sich dereinst die Siedlertrecks aus Europa immer weiter westwärts in Richtung jener Landstriche bewegten, die später Kalifornien oder New Mexiko hießen. Unterwegs dorthin unzählige derer ausrotteten, die dort ursprünglich lebten und von denen man lange als "Indianern" sprach.

Diese Kolonisierung Amerikas, jenes Kontinents also, der selbst seinen Namen einem Kolonisator (Amerigo Vespucci nämlich) verdankt, war in der Hochphase des Kolonialismus im deutschen Kaiserreich der Gründerjahre nach 1871 Gegenstand sehr berühmter Romane, die allerdings weniger den eigenen Kolonialismus, sondern den Kolonialismus der anderen in Abenteuer- und Schelmenromane verwandelte. Und die nicht nur in Amerika, sondern auch in Gegenden spielte, die uns heute eher als Dauer-Krisengebiete, denn als Abenteuerreiseziele ein Begriff sind. Das "wilde Kurdistan" zum Beispiel.

Freiheits- und Eroberungsfantasien

Verfasst hatte diese Bücher ein 1842 geborener Sachse namens Karl May, dessen elende Kindheit in einer Weberfamilie sich Gerhart Hauptmann nicht besser hätte ausdenken können. Aus diesem Elend hat er sich dann nach diversen Haftstrafen in seine münchhausenhaften Western- und Orientfantasien weggebeamt und wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller aller Zeiten.

Jenem Karl May ist in den Prater Studios der Volksbühne jetzt dieser Theaterabend von Enis Maci und Mazlum Nergit gewidmet, die darin einige Ergebnisse ihrer jahrelangen Beschäftigung mit May (im April wird es auch ein Buch dazu geben) mit der Hilfe des Schauspieldreamteams Ann Göbel, Oscar Olivo und Martin Wuttke zu einem kleinen somnambulen Spektakel über Schein und Sein und die rettende Macht der Lüge aufquirlen. Dabei vermitteln sie auch eine Ahnung davon, wie aus den kleinen Freiheitsträumen der einen die Alpträume der anderen werden können.

Alles Simulation: Bullenreiten und Wildwestlandschaften in "Karl May" an der Berliner Volksbühne © Luna Zscharnt

Jetzt laufen erst einmal Mays Lebensdaten über den enormen 3D-Screen an der Stirnseite, auf dem sich das schäbige Raststättenambiente auf der Bühne in die weite Wildwestlandschaft fortsetzt. Auch historische Daten werden zur besseren Einordnung genannt, die bald die Rezeptionsgeschichte der Karl-May-Romane mit aufgreifen, ihre Popularisierung und Verwurstung in allerlei Unterhaltungsformate von Kino bis Freilichtspielen. Ein von Maximilian Weber live produzierter Elektro-Sound hüllt alles in eine dräuende Atmosphäre und lädt die Stimmung auf.

Glitzer und Schrecken

Langsam fangen auch die drei Figuren auf der Bühne zu leben an, schälen sich aus ihren glänzenden Satin-Boxermänteln und stürzen sich sogleich in die verrätselten Texte, die immer alles auf einmal erzählen wollen: von den Schrecken des Kolonialismus, den Schrecken der prekären Existenz und Fluchtwegen in Lüge und Fantasie, der Geschichte Karl Mays und seiner Helden Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar sowie den brutalen Fakten, auf denen manches Detail dieser Geschichten beruht.

In adrettem, sexy Kleidchen und Glitzerstiefeln steigt Ann Göbel auf den Rodeo-Simulator und erzählt träumerisch in fast abwesendem Ton, wie sie Karl May und seine Geschichten durch ihren Vater kennengelernt hat. Dabei verschwimmen Rezeption, Gegenstand und individuelle Geschichte und wir lernen schnell, dass wir hier nicht viel über Karl May, sondern eher etwas über die Sehnsucht erfahren können, nicht die sein zu müssen, die wir sind. Und wie aus dieser scheinbar so kleinen Sehnsucht so etwas wie Imperialismus, Kolonialismus und Zerstörung entstehen kann.

Buffalo-Bill auf der Spur

Martin Wuttke steht als Simulations-Operator am Steuer des Rodeo-Geräts und lässt das Publikum wissen, dass er hier der Betreiber dieses Fahrgeschäfts ist: ein prekärer Nachfahre jenes Buffalo-Bill, der einst die Völkerschauen des späten 19. Jahrhunderts zum Showformat weiterentwickelte. Später kommt noch Oscar Olivo dazu, den wir als wirren Reisenden in einem Hotel kennenlernen. Der Tourist als Imperialist. Immer wieder entschwinden die Spieler von der Arenabühne, um als ihre eigenen Live-Simulationen in der 3D-Animation der Tankstellen- und Westernlandschaft auf der Stirnseite der Bühne wieder aufzutauchen.

Karl May 2 Luna Zscharnt uGlänzendes Trio im Wildwest-Fahrgeschäft: Ann Göbel, Oscar Olivo und Martin Wuttke © Luna Zscharnt

Bald fühlt man sich als Zuschauerin selbst wie auf diesem Rodeo sitzend. Mal reitet man wiegend ganz komfortabel auf der nicht immer ganz konsistenten Welle von assoziativ zusammengefügten Rechercheergebnissen zu diesem Riesenthema. Mal droht man, von allzu großen Sprüngen, die hier gemacht werden, abgeworfen zu werden.

Martin Wuttke at his Best

Gott sei Dank steht fest Martin Wuttke am Steuer, der hier alle Ungereimtheiten des Stoffs und der Inszenierung virtuos einfach wegspielt, wenn er die manchmal doch holprigen Texte in seinen messianischen, manchmal krächzenden, manchmal leuchtend aufspielenden Singsang hüllt – und dabei schillernd seine Figur in der Waage zwischen Verheißung und Verwahrlosung hält. Wie er zum Beispiel von Winnetou-Spieler Pierre Brice erzählt, der selbst als junger Mann im Indochinakrieg als Imperialist gegen Indigineous People kämpfte. Irgendwann ergibt man sich dem Sog seiner Kunst und streckt die Waffen vor dieser Theaternaturgewalt.

Karl May
von Enis Maci und Mazlum Nergiz
Regie: Enis Maci, Mazlum Nergiz, Bühne: Leonard Neumann, Kostüme: Martha Lange, Licht: Florian Brückner, Video und 3D-Animation, Musik und Sound-Design: Maximilian Weber, Dramaturgie: Johanna Höhmann.
Mit: Ann Göbel, Oscar Olivo und Martin Wuttke. Live-Musik: Maximilian Weber, Live-Soufflage: Elisabeth Zumpe.
Premiere am 16. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause 

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"Auf der Büh­ne füh­ren ein Psych­ia­ter (Os­car Oli­vo), ein Bull­ri­ding-Be­trei­ber (Mar­tin Wutt­ke) und ei­ne Ho­tel­an­ge­stell­te (Ann Gö­bel) durch ei­ne ge­wal­ti­ge Ge­schich­te", so Jo­lin­de Hücht­ker in der Zeit (21.12.2023). "Auf der Lein­wand leuch­ten Jah­res­zah­len von Ko­lo­ni­al­krie­gen, der ers­ten Kreuz­fahrt und Wes­tern-Film­pre­mie­ren auf." Enis Macis Text sei as­so­zia­tiv, "Hand­lungs­strän­ge gibt es zwi­schen den Iden­ti­täts­spie­len kaum". Fazit: "Auf die­ser Büh­ne ist al­les Fa­ke, al­les wahr, al­les En­ter­tain­ment, so­lan­ge nie­mand vom Bul­len fällt. Al­so hal­ten sie sich fest, Karl May an Old Shat­ter­hand, die Buf­fa­lo Bills an der Haut ih­rer Op­fer, die deut­schen Tru­cker am Ame­ri­can dream, nur Enis Maci und Maz­lum Ner­giz hal­ten nicht fest an der alt­be­kann­ten De­bat­te – was für ein Glück."

"Das ist ein Fest für May-Nerds und Assoziationsathleten, natürlich. Aber geradezu rauschhaft wird von Schauplatz zu Schauplatz gesprungen“, schreibt Tom Mustroph von der taz (18.12.2023). "Und es ist schwer mitzubekommen, wer in wessen Gewand jetzt überhaupt noch aus welcher Perspektive was zu wem sagt. Da scheint die Regie den eigenen Text nicht ganz durchdrungen zu haben." Und dass Wuttkes Mitspieler Göbel und Oscar Olivo nur weitgehend eine Tonart beherrschten, helfe beim Mitassoziieren auch nicht unbedingt.

"Misst man den Abend an den Vorgängern der Prater-Reihe, dann ist mit dem Bilderfundus und der Assoziationskraft dieser losen Szenenfolge ein munterer Fortschritt zu verzeichnen", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (17.12.2023), dem besonders das Bühnenbild zusagt. "Macis dichter Text nähert sich aus verschiedensten Ecken der genialen literarischen Hochstapelei Mays, wobei vor allem ihre Einflechtung der realhistorischen Hintergründe aufklärende Kraft entfaltet. Dennoch hängt so mancher Faden der überkomplexen Arbeit an diesem Abend in der Luft."

"Ein starker Ansatz: Wie entsteht Identität, was gehört zur deutschen Kultur und Tradition, wenn es das überhaupt gibt?", schreibt Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (24.12.2023). Karl May sei hier jedoch nur ein Stichwortgeber, ein blasser Mythos. "Im weitesten Sinn drehen sich die verwirbelten Texte um gestörte Wahrnehmung der Realität, wer bin ich? Sind wir vielleicht alle Karl, Karl May, arme Schlucker, grandiose Spinner?"

Kommentare  
Karl May, Berlin: Länge
Ein klasse Ansatz: Wie wirkt auf, was macht mit, worin besteht für Spätgeborene Karl May? Ein volksbühniger Raum, so auch der Ton, und Altstar Martin Wuttke. Doch: Bis auf die Schlussszene (und vielleicht einen psychoanalytischen Bullride zur Mitte des Abends) langweilt der Abend, mich jedenfalls. Vermutlich weil er nicht in Resonanz tritt. Der Theaterbetrieb war generationen- und stilübergreifend vertreten im Publikum der gestrigen Vorstellung (Claus Peymann, Jutta Ferbers, Aljoscha Begrich, Rüdiger Schaper, Holle Münster, Suse Wächter; wenn ich es recht sah), aber Stimmung kam nicht auf. Der Text spannt den hochinteressanten Akkord aus Ausbeutung in Wirklichkeit (19. Jh. Schlesien, 20. Jh. Indochina, 21. Jh. Kurdistan) und Erzählung/Traum ("die Börde wurde zum Rückgrat Amerikas", Nevada/Franken/Trucker/Rastplatz, Pierre Brice in Vietnam und in Bad Segeberg) auf. Das böte Stoff für einen Abend. Doch bevor dies in den letzten Minuten der zähen anderthalb Stunden eröffnet, zieht sich das Erzählte arg, entzieht sich weitgehend der Verfolgbarkeit. Mag sein, der Text ist klug, aber wohl zu klug und kunstversonnen um Verbindung zum Publikum zu stiften. Die Inszenierung schafft das genausowenig. Zu meinem Bedauern wirkt es so, als ob Martin Wuttke in seine gut mit Lavendel und Zedernholz ausstaffierte Instrumentenkiste greift: Virtuos aber wirkungslos. Man erfährt nichts Neues, weder durch den Abend, aus dem Abend noch in sich. Nur: qualvolle Länge. Die erfordert Geduld.
Karl May, Berlin: Identitätsfeuerwerk
War es langweilig? Nö, wieso denn?
Für mich war es eine krasse Timeline vom schlesischen Weberaufstand über die ersten Siedlertrecks, Kurdistan, Indochina und Bad Segeberg.
Erhellende thematische Verbindungen zwischen Armut, Ausbeutung und ihren Kompensationen und Lösungsversuche im Kolonialismus, Imperialismus und Tourismus.
Junge und alte Ausdrucksstärke der Darstellenden. Echt geniale Spannung, die an dem Abend auf der Volksbühne Erkenntnisfunken virtuos verursachte.
Karl May, Berlin: Semiintellektuell
Es heisst ikonische Landschaften, nicht ikonografische. Mich nervt diese semiintellektuelle Kultur zunehmend, die Begriffe verwendet, die sie nicht kennt, Bücher zitiert, die sie nicht gelesen hat und Krititklischees wie die Rodeo-Maschine aus Bieitos Berliner Buttrerfly endlos recycelt.
Auf diese Weise verschrotten wir die Kultur, entwerten wir Kritik und werden zu lauter KIs
Karl May, Berlin: Erkenntnisfunken
#2: Das klingt erfreulich. Wollen Sie uns an einigen Ihrer Erkenntnisfunken teilhaben lassen? Über diese "krasse Timeline" hinaus, die #1 stofftextlich ja schon würdigt, habe ich keinerlei Erkenntnisfunkenregen genießen können, und bin deswegen neugierig.
Karl May, Berlin: Unfokussiert
Die dicken Schinken, die in den 1960ern mit Pierre Brice verfilmt wurden und jahrzehntelang im TV wiederholt wurden, sind der Ausgangspunkt für assoziative, oft sehr sprunghafte Streifzüge durch die amerikanische Kulturgeschichte. Wuttke spielt neben dem Rodeo-Chef wie immer vor allem Wuttke. Olivo, der dem Berliner Publikum aus mehreren Inszenierungen Christian Weises am Gorki Theater bekannt ist, gibt einen leicht verwirrten Hotelgast, der in den Hollywood-Klassiker „Das Schweigen der Lämmer“ hineinzappte, und später einen Psychiater. Ann Göbel spielt eine Frau, die sich an prägende Kindheitserlebnisse erinnert, und sich an diesen wendet.

Auf einen roten Faden haben Enis Maci und Mazlum Nergiz, das Regie-Duo dieses Abends auf der Hinterbühne des Großen Hauses am Rosa Luxemburg-Platz, bewusst verzichtet. Ab und zu gibt es Momente zum Schmunzeln, aber die 90 Minuten sind so unfokussiert, dass sie doch einige Längen haben. Immerhin wird nicht ganz so viel gequalmt wie zu befürchten war, da die Volksbühne einen entsprechenden Warnhinweis sogar auf die Tickets druckte.

Die „Karl May“-Stückentwicklung kam am dritten Adventswochenende 2023 als vorweihnachtliche Fingerübung heraus und fügt sich in die „Prater Studios“-Reihe ein. An diesem Wochenende sprangen Wuttke und Co. ein, da sich die nächste Pollesch/Hinrichs-Premiere krankheitsbedingt um mehrere Wochen auf den 11. Februar 2024 verschiebt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/01/20/karl-may-volksbuehne-kritik/
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