Bilder von uns - In Bonn inszeniert Alice Buddeberg die Uraufführung von Thomas Melles Stück über die Auswirkungen sexuellen Missbrauchs
Schuld und Recherche
von Stefan Keim
Bonn, 21. Januar 2016. Ein Junge mit nacktem Oberkörper, in erotischer Pose. Jesko Drescher empfängt dieses Bild auf seinem Handy – und fährt fast eine Schulklasse über den Haufen. Er ist völlig verwirrt, denn er erkennt sich selbst auf dem Foto. Wer es ihm geschickt hat und aus welchem Grund, weiß er nicht. Sein geordnetes und erfolgreiches Leben verändert sich von Grund auf.
Thomas Melles neues Stück "Bilder von uns" startet wie ein klassischer Psychothriller Alfred Hitchcocks. Ein unerklärliches Ereignis wirft einen Menschen aus der Alltagsbahn, irgendetwas bedroht ihn, immer mehr Geheimnisse entstehen. Jesko sucht ehemalige Schulkameraden auf, Männer, die wie er als Kinder sexuell missbraucht worden sind. Sie haben völlig unterschiedliche Strategien, mit ihren Traumata umzugehen. Einer reagiert angestachelt und will radikale Aufklärung bis hin zu Interviews in Fernsehtalkshows. Ein anderer beherrscht die Kunst des Verdrängens meisterhaft und glaubt, dass nur Wunden aufgerissen würden. Während ein dritter die Geschehnisse nie aus dem Kopf gekriegt hat und als depressives Psychowrack dem Selbstmord entgegen dämmert.
Nach echten Missbrauchsgeschichten
Reale Ereignisse aus Bonn haben den ebendort geborenen Thomas Melle zu dem Stück angeregt. Vor sechs Jahren kam heraus, dass in Bad Godesberger Aloisiuskolleg Schüler von Jesuitenpatern sexuell missbraucht wurden. Die Fälle stammen aus den fünfziger Jahren, der jüngste Bericht aus dem Jahr 2005. Melles Geschichte ist zwar fiktiv, aber die Bezüge stimmen bis in einige Details. Der Haupttäter war auch in der Realität zur Zeit der Enthüllung schon dement und starb kurz darauf. Eine perfekte Möglichkeit, den größten Teil der Schuld auf ihn abzuwälzen, ohne auf das System dahinter zu schauen.
Melle verbindet packende, psychologische Dialogszenen mit erzählenden und reflektierenden Prosatexten. In ihnen bekommt das Stück poetische und philosophische Qualität, wird zum Nachdenken über das Wesen der Bilder an sich. Alice Buddeberg inszeniert "Bilder von uns" in der Werkstatt des Theaters Bonn als episches Theater. Vier Männer und drei Frauen sitzen in einem Halbkreis. Die Prosatexte sprechen sie abwechselnd, jedem ist eine konkrete Rolle zugeordnet, die Szenen finden weitgehend ohne Requisiten und Kostüme statt. Auch die Bilder bekommt das Publikum nicht zu Gesicht, eine gute Entscheidung, denn so ist jeder Ansatz des Voyeurismus getilgt. Die Beschreibungen im Text sind andeutungsreich genug.
Stadttheater im besten Sinne
Die Schauspieler, die in anderen, überspannteren Inszenierungen Buddebergs schon mal gern dem Affen Zucker bis zum Diabetesrisiko geben, agieren diesmal subtil, zurückhaltend und gedankenklar. Benjamin Grütter zeigt die Zerrissenheit Jesko Dreschers, seine völlige Verstörung, den Versuch, wieder ein klares Bild von sich selbst zu bekommen. Seine unglaublich vernünftige, aber auch glattkalte Ehefrau (Mareike Hein) ist da keine Hilfe. Hajo Tuschy gibt den aufklärerischen Eiferer ebenso überzeugend wie Holger Kraft den virilen Tatmenschen, der alle Traumata an sich abprallen lässt. Ein bisschen viel Leidensmiene setzt von Anfang an Benjamin Berger auf, sein stilisierter Selbstmord durch Erhängen im Live-Video allerdings gerät erschreckend beiläufig.
Das Bonner Schauspiel steht räumlich vor einer Neuorientierung. Die vom Ensemble geliebte Schauspielhalle Beuel steht bald nicht mehr zur Verfügung, das Kabarett-Theater Pantheon zieht dort ein. Dafür ist der Erhalt der Kammerspiele in Bad Godesberg, einer Guckkastenbühne, die nicht so viele Experimente zulässt, erst mal gesichert. Mit Thomas Melles "Bilder von uns" hat die zuletzt heftig kriselnde Sparte Stadttheater im besten Sinne hervor gebracht. Ein Stück, das direkt mit Bonn zu tun hat und doch weit darüber hinaus weist, ausgezeichnet gespielt, angemessen inszeniert. Nur im Mittelteil werden die Debatten der Missbrauchten ein wenig didaktisch und langatmig. Doch dann findet die Aufführung zum Thriller zurück, und es gibt eine sehr interessante Auflösung der Frage, wer denn nun Jesko diese Bilder aufs Handy geschickt hat.
Bilder von uns
von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Alice Buddeberg, Bühne: Cora Saller, Kostüme: Emilia Schmucker, Musik: Stefan Paul Goetsch, Licht: Lothar Krüger, Dramaturgie: Johanna Vater.
Mit: Benjamin Grüter, Hajo Tuschy, Holger Kraft, Benjamin Berger, Johanna Falckner, Mareike Hein und Lydia Stäubli.
Dauer 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theater-bonn.de
"Ziemlich gutgegangen" sei der Abend, findet Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.1.2016). Er sieht eine "szenische Versuchsanordnung", die dem Publikum eine produktive Verwirrung zumute, ohne Lösungen zu bieten. Dass diese die "mitunter überbordende Eloquenz des Autors zurücknimmt, lässt die Uraufführung spielerische Stringenz und Dringlichkeit gewinnen." Die Regie von Alice Buddeberg stelle das Schauspiel prononciert zu der Diskussion, die sein Thema fordere.
Durchaus beeindruckt berichtet Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (27.1.2016), dass Melles Stück wie ein Psychothriller beginne. "Dann aber werden die schnellen Dialoge immer wieder von lyrisch präzisen Reflexionen ausgebremst, in denen die Sprache manchmal vor sich selbst kapitulieren muss: Eine Sprache, in der es nicht gelingt, das Wort 'Opfer' auszusprechen, ohne dass etwas von 'Versagen' oder 'Minderwertigkeit' mitschwingt. Eine Sprache, die von denselben autoritären Strukturen geprägt ist, die auch den Missbrauch ermöglichen." Alice Buddeberg habe das Stück als kühle, bittere Versuchsanordnung zwischen Diaprojektoren und alten, hölzernen Schulstühlen zur Uraufführung gebracht.
Eine "intensive Inszenierung" hat Thomas Kölsch erlebt, wie er im Bonner Generalanzeiger (27.1.2016) schreibt. Mit "ungewohnt viel Zurückhaltung" lasse Buddeberg den Text Melles wirken, "ohne dabei völlig auf die von ihr geliebten satirischen Überzeichnungen zu verzichten". Eine Gratwanderung, die in den meisten Situationen gelinge. "Zum Glück, fordert das gut hundertminütige Stück des gebürtigen Bonners und ehemaligen Schülers des Aloisiuskollegs eine sonst kaum erreichbare Figurentiefe, zumal nicht eine Schuldfrage im Mittelpunkt steht, sondern die Offenlegung individueller Schicksale."
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Und sowieso Frau Buddeberg hat einen ganz tollen Theaterabend inszeniert.
Klar, kühl, nie betroffen und trotzdem emotional.
Danke.
Benjamin Grüter wie immer stark in Präsens und Sprachkultur. Benjamin Berger spielt sich langsam zur jungen, männlichen Stütze des Ensembles.
Hajo Tuschy, Mareike Hein sind gewohnt solide.
Der Rest bleibt leider blass.
Dennoch überzeugt diese Ensemble vorallem als Gruppe. Wie in den meisten guten Abenden in Bonn.
Wird dort vielleicht doch zu viel an Bildung und Kultur gespart?
Fragen über Fragen.
Was meint der Rezensent damit?
Am Ensemble kann es nicht liegen. Ein Spieler wie Herr Grüter wird in vielen Theatern dieser Größe nicht auffindbar sein.
Ein unspektakulärer
Langweiliger
Provinzieller
Biederer
Theaterabend.
Erinnerte eher an eine gespielte, szenische Lesung.
Melle hat für sein Bonner Stück aber genau in Bonn auch den passenden Rahmen gefunden: die tragische Missbrauchsgeschichte am Aloisiuskolleg. Und er hat zugegriffen, sei es aus seinen Schulerinnerungen und Gesprächen oder den im Buch „Unheiliger Berg“ von Ebba Hagenberg-Miliu dokumentierten Originaltexten. Denn leider sind die Bausteine zum Stück ja sehr real. Stichwort Bindungsangst. Verzweiflung. Stichwort Suizid(versuche). Und die realen Opfer kennen auch die Ängste vor Melles „Matuschka“, dem Mitschüler, der Schlüssel zum Geheimarchiv des nackte Schüler fotografierenden Paters hatte: 2008 wurde ein Ako-Absolvent wegen Besitzes von Kinderpornofotos verhaftet. http://unheiliger-berg.jimdo.com/theaterst%C3%BCck/
Seine Vielschichtigkeit, die unterschiedlichen Facetten und Ebenen wurden mir bewusst, als ich nach der Vorstellung, ( 27.1.)von einem Journalisten befragt, etwas dazu sagen sollte...
Da habe ich gemerkt, dass mein Wortschatz nicht ausreicht, um mich, ob dieser gewaltigen Sprache, auszudrücken.
Ich kam mir vor wie ein Kleinkind- mit einer altersentsprechenden, aber begrenzeten Anzahl von Wörtern, die diesem Wunderwerk nicht gerecht werden können.
Bilder von uns-
ein Bild in mir: das Bild eines Wollpullovers!
Wir alle tragen ihn, diesen Wollpullover, der uns schützt, bedeckt und wärmt.
Die Maschen halten das ( Seelen- )Gerüst zusammen und geben Stabilität. An diesem Wollpullover hat Thomas Melle das Fädchen, was herausguckt, gefunden, hat daran gezogen und den Pullover nach und nach aufgedröselt, das Ganze löste sich mehr und mehr auf, während der Wollfaden länger wurde und am Ende nur noch ein Haufen ineinander verworrener Fäden übrig blieb.
Das Stück hat seine Besucher stark gefordert. Die reduzierte Bühne hat wenig Raum für Ablenkung gelassen und so den Zuschauer vor allem zum lauschenden Zuhörer gemacht und dadurch viel Raum für eigene Bilder gelassen.
Dazwischen hat ein Diaprojektor das Thema " Bilder von uns" von allen Seiten beleuchtet.
Es gab keine vorgefertigten Antworten...
Ein Theaterstück- nichts für Anfänger!
Es geht um verschiedenste Themen wie Gewalt, Machtausübung mittels Sexualität, Umgang mit den eigenen Bildern, männlichen Bildern, Bilder, die ich von mir habe.
Bilder, die andere sich von mir machen.
Verlogenheit; abgekoppelte Welten; Umgang mit " Geheimnissen"
und - das sind nur partielle Aspekte.
Für mich ist das Stück allumfassend in Bezug auf die " dunklen" versteckten Themen des Lebens!
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/06/19/das-leben-ein-unfall/
Die Uraufführungs-Inszenierung von Alice Buddeberg ist sehr spröde, verzichtet auf der kahlen Bühne fast völlig auf Requisiten und Kostüme. Das Stehtheater mutet fast schon wie eine szenische Lesung an. Vor allem die langen Prosapassagen, die Melles Text prägen, verstärken dies.
„Bilder von uns“ ist eine Theaterinszenierung zu einem wichtigen Thema. Den Text selbst zu lesen ist aber in diesem Fall eindrucksvoller als die Umsetzung auf der Bühne.
Kompletter Text: https://www.freitag.de/autoren/kulturblog/bilder-von-uns