Woyzeck - Schauspiel Bonn
Marionette Mensch
11. November 2023. "Woyzeck" wird derzeit – als Drama des Unterlegenen in einer brutalen Welt – allüberall gespielt. In Bonn interessiert Sarah Kurze die soziale Ungleichheit, von der Büchners Gruselmärchen der Einsamkeit in schmerzhafter Eindringlichkeit erzählt.
Von Dorothea Marcus
11. November 2023. Die Welt ist ein Jahrmarkt, ein rasendes Karrussel, nein ein Hamsterrad. Wie ferngesteuerte Schießbudenfiguren trudeln und kreiseln die Figuren fein choreografiert durch das graue Containerdorf mit klappbaren Fenstern und Türen, das die Bühne ist, dirigiert von der Marktschreierin Birte Schrein mit orangenem Haar. Willst du mehr sein als Staub, Erde, Dreck? Keine Chance. Die Kreatur, wie sie Gott gemacht hat, ist ein Nichts, aber das, was die Kreatur aus sich macht, ist schlimmer. Höhnisch waren Büchners Worte im "Woyzeck" um 1837, sie klingen immer noch ebenso wahr.
Gewalttätige Zumutung
Woyzeck, bekanntlich ans unterste Ende der Nahrungskette geworfen, stolpert durch sein Leben. Die Ärztin in knallgrünen Gummi-Crocs und Abendkleid-Arztkittel (Julia Kathinka Philippi) zwingt ihn im Experiment zum Erbsenessen und macht sich darüber lustig, dass er den Harn nicht halten kann – danach zieht sie sich schnell in ihren Glanz-Container zurück. Der Hauptmann, der in der Inszenierung von Sarah Kurze später auch mit dem Tambourmajour zusammenfällt, spielt ein paar sadistische Machtspiele, bevor er sich auch wieder abschottet, lässt Woyzeck, der ihn rasieren will, per Fingerzeig den Hocker versetzen, auf den er sich gerade setzen will.
Marie im marienhaft kobaltblauen Kleid irrt dagegen eher schweigend umher, Sandrine Zenner spielt sie angenehm burschikos und bodenständig. Schon früh merkt sie, dass mit Woyzeck etwas nicht stimmt, fordert eine Nähe zu ihm ein, die er niemals liefern wird: "Du und ich müssen uns mal die Schädeldecke einschlagen." Bei Büchner geht es immer um die gewalttätige Zumutung der Welt, der der Mensch hilflos ausgeliefert zu sein scheint. Im Video, auf einen der Container projiziert, spricht Marie zum Publikum, als seien wir das nervige Baby, das ihr keinen Raum zum Atmen und Leben lässt. Auch ihr Gute-Nacht-Lied zeugt von Büchners düsterer Gemütsverfassung, die keinerlei Zauber oder Schönheit mehr zulässt – der Mond ein faules Holz, die Sonne eine verwelkte Blume.
Gefangen in verzerrten Bildern
Büchners Drama ist ein Gruselmärchen der Einsamkeit auf allen Ebenen, Paul Michael Stihler als Woyzeck, das offene Rasiermesser, zappelt wie ein Käfer, irrt ruhelos, selbstmitleidig und in wachsender Verzweiflung wie an unsichtbaren Fäden geführt darin herum. Sein Freund Andres (Riccardo Ferreira) wirkt wie sein sanfteres Spiegelbild: in gleicher blaugrauer Uniform, glaubt er noch an die Änderung einer Gesellschaft, die für Woyzeck und Büchner heillos zwischen Privilegierten und Nicht-Privilegierten gespalten ist.
Regisseurin Sarah Kunze hat das überlieferte Büchner-Fragment noch weiter fragmentiert und in eine Art verzerrten Loop verwandelt. Viermal sehen wir die anfängliche Jahrmarktsszene, die Ärztin, den Hauptmann, von Mal zu Mal werden sie brutaler und gehässiger. Immer wieder kauft sich Woyzeck ein Messer am Kiosk für 20 Cent – um einmal sich selbst, dann Marie umzubringen. Drängend pulsiert die mit Elektrodrums unterlegte Geigenmusik von Samuel Wiese durch das Containerdorf, dessen Fenster und Türen manchmal abweisend und trostlos geschlossen sind. Sie betonen Woyzecks depressives Außenseitertum: gefangen dazu noch in Zeit- und Wortschleifen, in immer verzerrteren Bildern. Das ist gruselig und effektvoll, aber auch psychologisch etwas unmotiviert, über ein Krankheitsbild geht der Woyzeck-Zustand und seine sadistischen Quäler nicht hinaus, erklärt insofern auch gar nicht, warum es spannend sein könnte, Woyzeck heute noch zu machen.
Schmerzhafte Ungleichheit
Wer einmal den Woyzeck sinnfällig und gegen den Strich gelesen als Femizid inszeniert gesehen hat wie am Theater Oberhausen im letzten Jahr, dem geht das paranoid-aggressive Selbstmitleid des Woyzeck auch bald ziemlich auf die Nerven. Deutlich mehr Interesse hat Regisseurin Sarah Kurze an der sozialen Ungleichheit, die Büchner zeitlebens aufwühlte. Kühl resümiert das Birte Schrein aus ihrem Kiosk, wie sich die Armen abschuften und die Reichen das schamlos ausnutzen. Auch der Hauptmann gehört dazu: an unsichtbaren Fäden zieht er sich die arme Marie heran, zaubert ihr Glitzer her, während Woyzeck heimlich zusieht, bis er dann den Mord an ihr begeht.
Dumpf dröhnt der Herzschlag durch die Musik, und noch einmal geht es von vorne los: Ein Container erhebt sich leuchtend, verzerrte Videobilder legen sich auf die Bühne, wie am Anfang trudeln die Figuren umher. Das Leben ist ein Ablauf vorgezeichneter Gesten, die Menschen sind gefangen im Korsett ihrer Alltagschoreografien, aus denen sie nicht herausfinden: "Sie schreien, doch man hört sie nicht." Das Saallicht geht an, Flugblätter werden verteilt, Birte Schrein schreit eine Rede zur schreienden Ungerechtigkeit heraus – doch was soll das nützen, wenn Menschen und Welt sich laut Büchner ohnehin nicht aus ihrem "Blutkessel" erheben können. Am Ende erschießt deshalb Birte Schrein die Privilegierten auf der Bühne lächelnd mit einer Pistole – ein Aufruf zu Gewalt und Revolution? Kein ganz ungefährlicher Schluss in heutigen Zeiten. Sarah Kurze ist ein effektsicherer, kraftvoller, perfekt choreografierter und dramaturgisch spannender Abend gelungen. Warum sie ihn erzählen wollte, wird dagegen nicht ganz so klar.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Sarah Kurze, Bühne: Janja Valjarevic, Musik: Samuel Wiese, Kostüme: Vanessa Vadineanu.
Mit: Paul Michael Stihler, Sandrine Zenner, Julia Kathinka Philippi, Alois Reinhardt, Riccardo Ferreira, Birte Schrein.
Premiere am 10. November 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theater-bonn.de
Kritikenrundschau
"Das hätte schief gehen können. (...) Ist es nicht. Regisseurin Sarah Kurze hat zwar die szenische Abfolge des Originals verändert und die Figuren gleichberechtigter gemacht, Sprache und Kernerzählung dabei aber nicht aus den Augen verloren", schreibt Judith Nikula im Bonner General-Anzeiger (13.11.2023) über "eine sehenswerte Interpretation des Büchner-Fragments". "Gerade für ein junges Publikum könnten die Variationen des Stoffs, mit dem sich manch eine und einer wohl durch die Oberstufe quälte, einen neuen, greifbareren Zugang bieten."
"Weil in dem Stück so viel steckt, ist Kurzes Entscheidung nachvollziehbar, textlich meist nah an den bekannten Fassungen zu bleiben und auf oberflächliche Aktualisierungen zu verzichten", schreibt Hans-Willi Hermans in der Kölnischen Rundschau (13.11.2023). Trotzdem ist er nicht überzeugt von der Inszenierung, "die eigentümlich zwischen Treue zum Text und gewagten Eingriffen mit überschaubarem Nutzen schwankt und daher trotz eines engagierten Ensembles nicht ganz überzeugen kann".
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